
Die glorreichen und kämpferischen Zeiten der deutschen Gewerkschaftsbewegung sind scheinbar vorbei. Trotz sich verschlechternder Arbeitsbedingungen und stagnierenden Reallöhnen sind nur noch knapp ein Fünftel der Arbeiter:innen in Deutschland gewerkschaftlich organisiert. In den letzten 20 Jahren haben die Gewerkschaften über 4 Mio. Mitglieder verloren1. Ein Konzept, gegen den Mitgliederschwund anzukämpfen, ist das sogenannte „Organizing“ – es soll die Beschäftigten stärker begeistern: mit mehr Kampf, Gefühl und Basisdemokratie. Doch was ist Organizing und kann es nicht nur neue Gewerkschaftsmitglieder gewinnen, sondern auch den Klassenkampf im Interesse der Arbeiter:innen neu beleben?
Für Organizing gibt es keine einheitliche Definition. Es lässt sich wohl am ehesten als ein Bündel verschiedener Methoden und Modelle zur Unterstützung von Organisierungsprozessen zur Durchsetzung der Interessen einer bestimmten Zielgruppe beschreiben2. Das Konzept stammt ursprünglich aus den USA und verbindet Erfahrungen aus Bürgerrechtsbewegungen, Stadtteilarbeit und basisgewerkschaftlichen Aktivitäten der letzten 100 Jahre.
Die Kampfstrategien wurden über die Jahre hinweg systematisiert und eine Praxis etabliert, bei der Spezialist:innen (Organizer:innen) helfen sollen, mit ihrem Wissen über Organisierung und Kampagnenführung eine Gegenmacht in einem ungleichem Machtverhältnis, wie z. B. dem zwischen Chef:in und Arbeiter:in, zu schaffen.
Viele verschiedene Strömungen beziehen sich auf Organizing-Methoden – linke Gruppen, Organisationen, Gewerkschaften, aber ebenso christliche Freikirchen oder politische Parteien. Organizing ist daher keine explizit linke Methodik, sondern ist abhängig davon, welche Akteur:innen Organizing-Methoden mit welcher Zielsetzung einsetzen. Sie können der Verbesserung von Lebens- und Arbeitsbedingungen dienen oder Wahlkämpfe zum Erfolg führen, wie z. B. für Alexandria Ocasio-Cortez von Bidens „Demokratischer Partei“ bei den Wahlen für den US-Kongress 20213.
Aber auch rechte Gruppen wie die US-amerikanische Tea-Party oder Initiativen gegen den Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel in den USA haben damit Erfolge verzeichnen können2.
Organizing als Alternative zur „klassischen“ Gewerkschaftsarbeit?
Seit über 20 Jahren ist Organizing auch hierzulande in linken Debatten präsent sowie in der Gewerkschafts- und Stadtteilarbeit. Für viele Kämpfe wie z. B. die „Berliner Krankenhausbewegung“ waren Organizer:innen wichtig. Doch waren Arbeiter:innen nicht schon vor „Organizing“ z. B. in Gewerkschaften organisiert? Dazu kommen auf gewerkschaftlicher Ebene noch Aus- und Weiterbildungen oder Rechtsberatungen für die Arbeiter:innen sowie Funktionäre (Spezialist:innen), die Streiks begleiten, ihr „KnowHow“ an die Streikenden weitergeben und (mit) organisieren. Ideen wie die Identifizierung konkreter Probleme im Betrieb, Kolleg:innen anzusprechen und ihnen zu zuhören u. ä. sollten für Gewerkschaftsaktivist:innen selbstverständlich sein. Auch wenn viele Organizing-Vertreter:innen das anerkennen, betonen diese jedoch, dass all diese Konzepte noch nie systematisch verbunden wurden. Daher ist es vielleicht auch nicht verwunderlich, dass seit einigen Jahren immer konkretere Organizing-Modelle diskutiert werden.
Organizing nach Jane McAlevey
Eines der wirkmächtigsten Modelle von Organizing ist wohl das der US-Amerikanerin Jane McAlevey, die drei Bücher über das Thema geschrieben hat, von denen zwei auch auf Deutsch erschienen sind4. Sie will die (US-amerikanische) Gewerkschaftsbewegung aus der Krise holen, in die sie durch restriktive Gesetzgebung, union busting5 und Globalisierung geraten sei. Ihr geht es dabei nicht nur darum, die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder zu erhöhen, sondern die Macht der Arbeiter:innen zu vergrößern durch eine dauerhafte Organisierung am Arbeitsplatz und eine „nachhaltige Selbstermächtigung“ (so ein Unterkapitel ihres Buches „Keine halben Sachen“).
Eine wichtige Aufgabe für Organizer:innen sieht McAlevey darin, von ihr so genannte „organische Anführer:innen“ in der zu organisierenden Belegschaft auszumachen und zu fördern. Das sind diejenigen, denen andere Kolleg:innen vertrauen, deren Rat und Hilfe sie suchen. Diese Anführer:innen sollen in Organizing-Methoden geschult werden.
Dies sind zum Beispiel ein mapping (Erfassung/Kartierung) des Arbeitsplatzes, um Stärken und Schwächen der eigenen Seite und der Gegenseite zu erkennen; sogenannte „Strukturtests“, das sind kleinere, (Selbst-)Vertrauen aufbauende kollektive Aktionen; und eine „Impfung“ genannte Vorbereitung der Beschäftigten auf zu erwartende Gegenmaßnahmen, Lügen und Verleumdungen des Unternehmens. Sodann legt sie Wert darauf, dass die Organisierungsphase nicht von der Phase der Verhandlungen getrennt werden darf: Auch bei den Tarif- oder anderen Verhandlungen, in die die jeweilige Kampagne oder der Streik münden, sollen die Menschen, die durch die Organizing-Phase mobilisiert wurden, einbezogen werden.
Der erfahrene linke US-amerikanische Gewerkschafter Kim Moody6 hat McAleveys Ansatz kritisch überprüft7. Er erkennt an, „dass diese Organizer ein wichtiger Teil der Arbeiterbewegung sind. […] Sie werden oft an die vordersten Fronten der Kämpfe mit dem Kapital gedrängt, bringen persönliche Opfer und helfen in der Tat den Arbeiter*innen dabei, sich zu organisieren.“ Doch Moody kritisiert, dass „McAlevey in praktisch jeder Phase des Gewerkschaftslebens die Betonung auf die Initiative des professionellen Organizers“ legt. Seiner Meinung nach können Organizing-Kampagnen den Klassenkampf punktuell voranbringen, aber nicht die notwendige Selbsttätigkeit der Millionen umfassenden Arbeiter:innenklasse ersetzen.
Moody sieht bei McAlevey auch eine große Leerstelle in der Beurteilung der Gewerkschaftsbürokratie. Das fängt bei der Ursachendiagnose an: Nicht nur das union busting oder die Globalisierung sind für den Niedergang der Arbeiter:innenbewegung verantwortlich, sondern vor allem die institutionalisierte „Sozialpartnerschaft“, die kaum noch darauf setzt, die kollektive Stärke der Arbeitenden auszuspielen. Gerade auch weil die Gewerkschaftsspitzen in ihren Verhandlungen mit den Unternehmen nicht gern dem Druck der eigenen Mitgliedschaft ausgesetzt sind. Vor diesem Hintergrund ist Moody absolut zuzustimmen, wenn er feststellt: „Noch schlimmer ist es, wenn diese Art des Organizing von Arbeiter*innen und Angestellten nur mit der Zustimmung von Gewerkschaftsspitzen erfolgt […] Organizer [sind] denen gegenüber verantwortlich, die ihre Löhne zahlen, sie dorthin schicken, wo sie sie haben wollen, und ihnen Ressourcen zur Verfügung stellen oder verweigern, damit sie ihren Auftrag ausführen können. Es gibt natürlich kein Gesetz, das besagt, dass Organizer nicht von den Gewerkschaftsmitgliedern genauso wie die Gewerkschaftsführer gewählt werden können, aber das würde selbst im besten Fall gegen den Strich der Gewerkschaftsbosse laufen.“
Aus der Praxis: Organizing in Berlin
2021 wurden im Rahmen der „Berliner Krankenhausbewegung“ von ver.di8 Pflegekräfte der Berliner Universitätsklinik Charité, des städtischen Klinikverbands Vivantes sowie die Kolleg:innen der Vivantes-Servicetöchter mobilisiert für mehr Personal und den TVÖD für alle9. Dafür hat ver.di die Firma „Organizi.ng Beratung GmbH“10 angeheuert, eine zurzeit einzigartige Firma in Deutschland, die Organizing-Dienste verkauft. Und die hat Organizing wie im Bilderbuch betrieben. Dutzende von angestellten Organizer:innen haben vor Beginn der Kampagne „Telefoncampaigning“ betrieben, d. h. sie haben alle ver.di-Mitglieder angerufen, sich nach Problemen erkundigt und die Streikbereitschaft abgefragt. Nach der Identifizierung ihres Problems – Personalmangel und unfaire Arbeitsbedingungen – gab es dann im Februar 2021 eine Auftaktveranstaltung. Interessanterweise hatte ver.di ein paar Monate vorher einen Tarifvertrag mit der Service-Tochter der Charité, der CFM11, abgeschlossen. Die CFM hätte auch sehr gut in diese Kampagne gepasst, da sie genau dieselben Forderungen wie ihre Kolleg:innen der Vivantes-Töchter hatten – den TVÖD für alle, doch sie wurden bewusst aus dieser Kampagne ausgeschlossen12.
Während der Mobilisierungsphase zwischen März und Juni bis zum ersten Streiktag im August gab es mehrere Veranstaltungen, ein 100-tägiges Ultimatum13 und es wurden auf jeder Station und bei den Vivantes-Töchtern „Teamdelegierte“ gewählt. Insgesamt kam eine dreistellige Zahl von Teamdelegierten zusammen, die regelmäßig zusammenkamen und über die Situation auf Station, den Streik und konkrete Forderungen diskutierten. Somit ist tatsächlich eine gewisse Basisdemokratie entstanden. Ohne die Organizer:innen wäre die Mobilisierung sehr wahrscheinlich nicht so erfolgreich geworden, denn neben der Organisation von Veranstaltungen und Öffentlichkeitsarbeit sind sie auch über Stationen gezogen, haben mit Kolleg:innen diskutiert und während des Streiks Aktivitäten organisiert oder am Morgen das Streikzelt am Campus aufgebaut.
Von den Organizer:innen gehörten viele, einschließlich der Geschäftsführung von Organizi.ng, zum linken Flügel der Linkspartei. Sie haben sich auch persönlich für die Krankenhaus-Bewegung engagiert. Verschiedene (aber längst nicht alle!) Entscheidungen im Laufe der Bewegung wurden bei Versammlungen der Teamdelegierten diskutiert. Dabei gab es auch Ansprachen des Chef-Organizers, in denen er betonte, dass die Kolleg:innen selbst entscheiden sollten. Somit wurde – leider in der deutschen Gewerkschaftsbewegung immer noch eine Seltenheit – zumindest der Kreis der Teamdelegierten dazu veranlasst, sich über die Ausrichtung der eigenen Bewegung Gedanken zu machen und den Streik als ihre eigene Sache zu betrachten.
Aber hier kommt dann auch die große Frage: Inwieweit haben es die Organizer:innen geschafft, die Arbeiter:innen in diesem Kampf wirklich selbst zu ermächtigen?
Nach wie vor mussten die Organizer:innen das tun, was der Chef sagte – und dieser, was ver.di wollte. Und somit konnte auch nur soviel Demokratie und Eigeninitiative zugelassen werden, wie erwünscht war. Aktionen wurden zwar angekündigt, aber meistens ohne die Einbeziehung der Kolleg:innen geplant und durchgeführt. Kolleg:innen sind zwar auch auf Stationen gegangen, haben sich aber größtenteils auf die Organizer:innen verlassen.
Und nachdem der Streik länger ging als geplant und die meisten Organizer:innen zum nächsten Projekt gehen mussten, gab es Probleme schon bei den „einfachsten“ Sachen, wie z. B. wer baut das Streikzelt am Morgen auf? Einige Kolleg:innen haben sich am Anfang auch gefragt, wie der Streik ohne die Organizer:innen weiter gehen soll.
Organisieren – aber wie und durch wen?
Wir stimmen nach wie vor dem Ausspruch von Karl Marx zu: „Die Befreiung der Arbeiter:innenklasse muss die Tat der Arbeiter:innen selbst sein“. Allerdings reicht dafür die Spontanität der Arbeitenden nicht aus. Um sich im Klassenkampf durchzusetzen, müssen sie organisiert sein. Es ist die Aufgabe von Aktivist:innen der Arbeiter:innenbewegung, diese Organisierung voranzubringen. Viele der Methoden, die bei Organizing-Workshops vermittelt werden, sind dafür tatsächlich nützlich und sind auch hervorgegangen aus den kollektiven Erfahrungen der Arbeiter:innenbewegung und anderer sozialer Bewegungen.
Die Frage ist, durch wen und mit welchem Ziel die Arbeitenden organisiert werden. Eine dauerhafte Verbesserung des Kräfteverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit wird scheitern, wenn kein klares Verständnis dafür vorhanden ist, warum die Gewerkschaftsapparate so wenig Eigeninitiative der Basis zulassen – und weshalb die Interessen der Gewerkschaftsführungen nicht mit denen der einfachen Beschäftigten übereinstimmen. Denn früher oder später wird dieser Interessensunterschied eine Rolle spielen und dann kommt es darauf an, ob die Arbeiter:innen über demokratische Strukturen verfügen, selbstbestimmt ihre Kämpfe in die Hand zu nehmen. Solange Organizing vom Gewerkschaftsapparat abhängig bleibt, kann es nicht über den eigenen Schatten springen.
Organizing klingt cool und fresh, ist aber keine Garantie dafür, dass Menschen sich „nachhaltig“ selbstermächtigen über Stellvertreter:innenpolitik hinaus. Professionelle, bezahlte Organizer:innen können in einem begrenzten Rahmen dabei helfen, Klassenkämpfe voran zu bringen, aber sie sind nicht das Wichtigste: Es bleibt wesentlich, dass Arbeiter:innen sich selbst organisieren – ob auf englisch oder auf deutsch ist dabei egal.
Richard Lux und Rosa Anders, Berlin
Fußnoten
1 https://www.deutschlandfunkkultur.de/streikre publik-deutschland-die-neue-kampfkultur-der-100.html
2 https://organisier-dich.info/was-ist-organizing/ Für eine ausführlichere Beschreibung siehe https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/was-organizing-nicht-ist/
3 Sie und ihre Unterstützer:innen haben monate-langes „Community Organizing“ (Stadtteil-organisierung) betrieben und gegen einen etablierten Kandidaten in ihrem US-Bundesstaat gewonnen. Auf ihrer Kampagnenwebsite findet sich sogar eine Richtlinie, wie sich Arbeiter:innen an ihrem Arbeitsplatz organisieren können. https://www.ocasiocortez.com/workerpledge
4 J. McAlevey: „Keine halben Sachen. Machtaufbau durch Organizing“, Hamburg 2019 und J. McAlevey: „Macht. Gemeinsame Sache. Gewerkschaften, Organizing und der Kampf um die Demokratie“, Hamburg 2021
5 Wörtlich „Gewerkschaftszerstörung“ – aggressive gewerkschaftsfeindliche Strategien der Unternehmen. Siehe dazu W. Rügemer / E. Wigand: „Die Fertigmacher: Arbeitsunrecht und professionelle Gewerkschaftsbekämpfung“, Köln 2017.
6 Autor u. a. folgender Bücher: „An Injury to All: The Decline of American Unionism“ und „In Solidarity: Essays on Working-Class Organization in the United States“
7 In leider nicht immer exakter deutscher Übersetzung nachzulesen unter: http://www.organisieren-gewinnen.de/index.php?id=106
Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft
8 Tarifvertrag des Öffentlichen Dienstes – der Kollektivvertrag, den die Beschäftigten in den „Mutterkonzernen“ Vivantes und Charité bekommen.
9 Auf facebook präsentiert sich diese Firma u. a. wie folgt: „Wir gestalten für unsere Kunden passgenaue Kampagnen und mobilisieren mit geeigneten Formaten zu Warnstreiks, Demonstrationen und Versammlungen. Zudem helfen wir bei der Erschließung von bisher unorganisierten Betrieben und gewinnen dort neue Gewerkschaftsmitglieder, wo sie gebraucht werden.“
10 Charité Facility Management
11 Mehr zur Berliner Krankenhausbewegung und der CFM auf unserer Website https://www.sozialismus.click/category/artikel/betriebe/
12 Hier wurde den Klinikvorständen 100 Tage Zeit gegeben, auf die Forderungen der Kolleg:innen einzugehen und Verhandlungen zu starten. Jedoch haben die es zu gut deutsch „ausgesessen“.
13 Hier wurde den Klinikvorständen 100 Tage Zeit gegeben, auf die Forderungen der Kolleg:innen einzugehen und Verhandlungen zu starten. Jedoch haben die es zu gut deutsch „ausgesessen“.