
Alle sprechen von einem Krieg Israels gegen die Hamas, als ob sich zwei gleiche Kräfte in einem Krieg gegenüber stünden, in dem Israel um sein Existenzrecht kämpft. Die Realität ist jedoch weit davon entfernt. Dieser Krieg ist vor allem einer gegen die palästinensische Bevölkerung. Alles hat eine Vorgeschichte …
Die Region des Nahen Ostens, wie wir sie heute kennen, ist das Ergebnis imperialistischer Politik der Großmächte. Nach dem 1. und 2. Weltkrieg zogen sie die Landesgrenzen mit dem festen Ziel, diese ölreiche Region zu kontrollieren. Die Aufteilung der arabischen Bevölkerung folgte dem Prinzip „teile und herrsche“. Vor der Staatsgründung Israels war Palästina britisches Mandatsgebiet. Die Mehrheit der Bevölkerung war arabisch. Bis in die 1930er Jahre siedelten sich mehr und mehr Jüd:innen durch Landkauf mit Hilfe jüdischer Organisationen an. Sie entwickelten eine parallele Wirtschaft getrennt von der arabischen Welt. De facto war diese Besiedlung von Anfang an ein kolonialistisches Vorgehen. Die ersten bewaffneten Kämpfe von jüdischer und palästinensischer Seite gab es in den 20er Jahren bis zum großen palästinensischen Aufstand 1936 …
Die gewaltvolle Schaffung des Staates Israel
Nach dem 2. Weltkrieg sahen die imperialistischen Mächte, allen voran die neue Weltmacht USA, die Gelegenheit, einen Staat zu schaffen, der als Wachhund in der ölreichen Region dienen könnte. Das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser:innen wurde mit Füßen getreten. Die UNO, die von den Großmächten gesteuert wird, entschied 1947 über die Aufteilung des historischen Gebietes Palästina völlig auf Kosten der arabischen Mehrheit. Die Schaffung eines explizit jüdischen Staates bedeutete, dass dort die Juden immer die Mehrheit behalten sollten und Nicht-Juden Staatsbürger zweiter Klasse wären. Der bis heute andauernde Prozess der Vertreibung begann also direkt bei der Staatsgründung Israels 1948. Die dabei verübten Massaker israelischer Einheiten werden geheim gehalten. Dass die arabischen Nachbarstaaten auf die Staatsgründung mit Krieg antworteten, ist nicht der Anfang der gewaltvollen Geschichte. Am Ende dieses ersten Krieges waren 750.000 Palästinenser:innen aus ihrer Heimat vertrieben, viele in den Gazastreifen oder in Nachbarländer ohne das Recht auf Rückkehr. Der jüdische Staat hat sein Territorium ausgeweitet und wurde noch größer als im Teilungsplan vorgesehen.
In einer Militäroperation gegen Ägypten besetzte Israel 1956 zusammen mit den früheren Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien das erste Mal den palästinensischen Gazastreifen und die ägyptische Sinai-Halbinsel. Im 6-Tage-Krieg 1967 besetzte Israel dauerhaft den Gazastreifen sowie das Westjordanland (Westbank). Das bedeutet seitdem volle Kontrolle über palästinensisches Land, Wasser, landwirtschaftliche Flächen, die wirtschaftliche Entwicklung, die Mobilität der Menschen und den Warenverkehr bis hin zu den Finanzen. Nach 1967 ging die Politik der Enteignungen palästinensischen Landes weiter.

Leben in einem Apartheitsstaat: … und morgen wird alles schlimmer
Besatzung und Kontrolle bedeuten auch Kontrolle der palästinensischen Arbeitskräfte. Arbeitsvisa für Israel und Einreiserechte sind seit Jahrzehnten völlig von der Politik Israels abhängig. Sie werden und wurden willkürlich gewährt und wieder entzogen.
Das verschlimmerte sich alles mit der israelischen Politik der Abriegelungen ab den 90er Jahren bis hin zur Blockade des Gazastreifens vor 16 Jahren. Die bis zu 6 Meter hohen Mauern und militärisch gesicherten Zaunanlagen um den Gazastreifen und das Westjordanland sowie die vielen Checkpoints des israelischen Militärs sind das sichtbarste Zeichen. Der israelische Staat hat über die Jahre ein System der totalen Überwachung der Bewegungsfreiheit von Palästinenser:innen aufgebaut, das sowohl die palästinensischen Gebiete voneinander trennt, als auch die Zonen innerhalb des Westjordanlands und zudem ist das alles getrennt von der israelischen Gesellschaft. Innerhalb Israels leben die Palästinenser:innen als Menschen zweiter Klasse. Die Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch spricht schon seit Jahren von Apartheit.

Der Bau israelischer Siedlungen als Vertreibung
In einigen Zonen des Westjordanlands hat die palästinensische Autonomiebehörde formal das Sagen. Aber diese „Autonomie“ steht nur auf dem Papier. Der Bau israelischer Siedlungen im Westjordanland ist Teil der Politik der Vertreibung der Palästinenser:innen von ihrem Land. Zwar hat Israel die Siedlungen in Gaza 2005 geräumt. Aber dafür wurde der Bau der Siedlungen im Westjordanland vorangetrieben. 700.000 Siedler:innen leben dort heute beschützt vom israelischen Militär. Radikale Siedler:innen können es sich erlauben, unter den Augen israelischer Soldat:innen palästinensische Familien zu terrorisieren. Diese Siedlungen werden vom Internationalen Gerichtshof und der UNO als völkerrechtlich illegal eingestuft.

Und so leben die Palästinenser:innen seit Jahrzehnten wie Gefangene unter ständiger Gewalt des israelischen Militärs oder gewalttätiger Siedler:innen, oder, wie in Gaza, unter totaler Blockade. Die israelische Politik hat nahezu ein ganzes Volk auf Dritte-Welt-Niveau herabgedrückt und zu Sozialhilfeempfänger:innen gemacht.
Intifada, Proteste, Streiks, Raketen …
Natürlich rufen solche Umstände Widerstand hervor. Die 1. Intifada ab 1987 war ein echter Massenaufstand der Bevölkerung. Es bildeten sich in den palästinensischen Gebieten Organisationen und Hilfskomitees. Die Proteste waren getragen von Frauen und Männern jeden Alters, die gleiche Rechte und die Schaffung eines palästinensischen Staates verlangten. Mit Steinen und Streiks kämpften sie gegen Panzer und Gewehre der israelischen Soldat:innen, die Hunderte von ihnen töteten, Zehntausende verletzten und 600.000 willkürlich verhafteten. Die 2. Intifada ab 2000 führte zum Erstarken der islamistischen Hamas und ging einher mit Entführungen, Raketenbeschuss aus Gaza und furchtbaren Selbstmordanschlägen in Israel. Die islamistischen Terrorgruppen hatten den Palästinenser:innen, die für ihre Rechte kämpfen wollten, nichts als Hass auf alle Juden und ein Versprechen auf das Paradies im Jenseits zu bieten. Was für eine schreckliche Sackgasse. Aber jede militärische Bestrafung der Palästinenser:innen durch Israel, gab der Hamas Legitimität. Und jeder Anschlag der Hamas stärkt rassistische autoritäre Kräfte in Israel. Seit der Kontrolle von Gaza durch die Hamas sind die Palästinenser:innen einer doppelten Diktatur unterworfen: einer durch die autoritäre islamistische Hamas und einer durch den Staat Israel.
Aber selbst große unbewaffnete Proteste wie der „Great March of Return“ 2018/2019 in Gaza entlang der Grenzanlagen oder die Proteste und Streiks 2021 beantwortete die überlegene israelische Armee mit gewalttätiger kollektiver Bestrafung. Im Mai 2021 hatte der „Streik für Würde“ eine ganz andere Perspektive aufgezeigt: Dieser eintägige Generalstreik, der nach einem israelischen Angriff auf Gaza mit über 200 Toten und inmitten einer Welle antipalästinensischer Übergriffe in Jerusalem ausgerufen wurde, wurde zum ersten Mal sowohl in Gaza als auch im Westjordanland, von Flüchtlingen aus den Nachbarländern und von arabischen Arbeiter:innen in Israel befolgt. Diese Einheit im Streik eröffnete eine völlig neue Perspektive.
Doch das Leben in Gaza bedeutet eben auch ständige Bombardierungen von israelischer Seite: 2006, 2008/2009, 2012, 2014, 2021 und 2023.
Die Palästinenser:innen sind nicht allein. Sie haben Verbündete in der Bevölkerung der imperialistischen Länder aber auch und vor allem in den Arbeiter:innenklassen Ägyptens, Algeriens, des Libanon, Irak und anderer Länder, mit denen sie eine gemeinsame Geschichte und die Erfahrung der Unterdrückung durch die Großmächte teilen. Und nicht zuletzt kann die Bevölkerung Israels zu Verbündeten werden, falls sie sich gegen den israelischen Staat stellt, der für sie keine andere Zukunft als permanenten Kriegszustand und Autoritarismus zu bieten hat.

Sabine Müller, Berlin
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