Elf Tage lang beschoss die Hamas vom Gaza-Streifen aus israelisches Gebiet und bombardierte der israelische Staat den dichtbesiedelten Gaza-Streifen als Antwort. Ein Waffenstillstand wurde schließlich ausgehandelt. Doch eine Rückkehr zu einer Art „Normalität“ ist nicht möglich. Vergessen wir nicht, wie diese neue Runde schwerer Gewalt startete: mit außergewöhnlich starken Protesten von Palästinenser:innen in Ost-Jerusalem und anderen Städten. Was treibt sie an?
Die Proteste einer neuen Generation Palästinenser:innen
Vor Beginn der Bombardierungen haben Palästinenser:innen wochenlang gegen die Vertreibung palästinensischer Familien aus Ost-Jerusalem, vor allem dem Viertel Sheik Jarrah, protestiert.
Ostjerusalem wurde 1967 von Israel besetzt. Viele palästinensische Familien, die schon lange in Ost-Jerusalem leben, wurden ursprünglich 1948 aus ihren Häusern vertrieben. Israelische Gesetze erlauben es jüdischen Familien und Organisationen, diese Wohnungen und Häuser für sich zu beanspruchen, wenn sie irgendwann einmal jüdischen Bewohner:innen gehört hatten.
Für Palästinenser:innen gibt es andererseits kein Recht, in ihre alten Häuser zurückzukehren. Ein Gesetz mehr, dass die arabischen Familien in Israel diskriminiert. Palästinenser:innen haben zudem in Ost-Jerusalem nur einen unsicheren Aufenthaltsstatus, der jederzeit widerrufen werden kann. Der Plan der israelischen Regierung ist für ganz Jerusalem „eine solide jüdische Mehrheit in der Stadt aufrechtzuerhalten“. Die Vertreibung ist staatliche Politik. Die Proteste gegen die Vertreibungen breiteten sich von Ost-Jerusalem auf andere Städte in Israel und schließlich das Westjordanland aus.
Polizei und Militär reagierten auf die Proteste mit Tränengas, Blendgranaten und Gummigeschossen. Das ist die übliche Antwort des israelischen Staates: Auf Proteste der Palästinenser:innen, die sich mit Steinen und Handyvideos „verteidigen“, folgt exzessive Gewalt.
Als die israelische Polizei versuchte, den Zugang zum „Damaskustor“, dem Zugang zur Altstadt Jerusalems, zu versperren, protestierten junge Palästinenser:innen und kämpften mit der Polizei – während die Polizei gleichzeitig übrigens eine Demonstration rechtsradikaler jüdischer Extremisten passieren ließ, die mit Rufen „Tod den Arabern!“ durch die Straßen zogen. In den folgenden Tagen stürmte die Polizei mehrfach den Tempelberg und feuerte auf muslimische Betende; mehrfach war die Al Aqsa-Moschee Ziel von Attacken der Polizeikräfte. Hunderte palästinensische Jugendliche wurden verletzt. Die rechten jüdischen Siedler:innen, die ihrerseits Palästinenser:innen attackierten, wurden von der Polizei toleriert.
Dieser Aufstand der neuen jungen Generation von Palästinenser:innen innerhalb Israels ist nicht das Werk der Hamas oder der Fatah. Es ist eine Generation, die nichts anderes als Besatzung und Rassismus kennt und die Ereignisse in Sheikh Jarrah brachten das schon sehr volle Fass zum Überlaufen. Die Jugendlichen waren erfolgreich: Sie verhinderten die Blockade des „Damaskustors“ und erzwangen eine Verschiebung der Gerichtsentscheidung zur Vertreibung der Familien aus Ost-Jerusalem.
Rechte Hardliner spielen sich gegenseitig in die Hände auf Kosten der Bevölkerungen
Die Hamas stellte angesichts der starken Proteste der israelischen Regierung ein Ultimatum. Sie hat eine Chance gesehen, die Proteste zu kapern und ihr eigenes Prestige zu erhöhen. Ein Ultimatum, das der israelischen Regierung ins Kalkül passte. Die nach Ablauf des Ultimatums beginnenden Raketenbeschüsse aus Gaza waren die Gelegenheit, wieder einmal Gaza zu bombardieren, die gesamte palästinensische Bevölkerung zu bestrafen und eine Oppositionsregierung in Israel selbst zu verhindern.
Denn die Regierung unter Netanjahu steckt ihrerseits in einer politischen Krise. Es gab monatelang Proteste von Israelis wegen der Korruption, der Corona-Maßnahmen, der Arbeitslosigkeit … Tausende verlangten den Rücktritt der Regierung. Mit den Bombardierungen traten die palästinensischen Proteste in den Hintergrund und konnte Netanjahu leichter einen Teil der israelischen Bevölkerung hinter seiner menschenverachtenden Politik zusammenschweißen.
Aber wer weiß für wie lange …
Dass die Palästinenser:innen nicht in Schockstarre verfallen sind, konnte man am 18. Mai, dem 9. Tag der Bombardierung Gazas sehen: Ein Streik der Palästinenser:innen in Israel, Gaza und Westjordanland zeigte deren Stärke.
Referenzen
https://www.timesofisrael.com/arabs-strike-across-israel-as-palestinians-declare-day-of-rage/