
Ende Februar begannen die Lohnverhandlungen in der Bahn- und Busbranche, für die die Eisenbahnverkehrsgewerkschaft EVG zuständig ist. Gepusht von den Erwartungen der Gewerkschaftsmitglieder sollte es eine gemeinsame Tarifrunde für alle mit Lohnerhöhung mindestens 650 Euro monatlich und 12 Monate Laufzeit des Tarifvertrages geben. Es kam anders. Die Lohnrunde endete jetzt mit einer Abstimmung der EVG-Mitglieder bei der Deutschen Bahn (DB).
Diese Lohnrunde zeichnete sich durch eine umgekehrte Proportionalität aus: es wurde umso mehr von Streik gesprochen, als es keine Streiks gab. Die kleine Führungsspitze der EVG hatte bei der DB nur zwei Warnstreikaktionen vorgesehen. Nach der x-ten Verhandlungsrunde flüchteten sie schließlich – anders als gewerkschaftliche Tarifkommission, Bundesvorstand und jede Menge EVG-Mitglieder wollten – in eine „Schlichtung“, was nur eine andere Form von Verhandlung ist. Damit war ganz offen erkennbar, dass sie überhaupt keine Streiks wollten (selbst wenn sie öffentlich was anderes sagten).
Das Ergebnis dieser Schlichtung brachte so winzige Verbesserungen an dem, was die DB bereit war zu geben, dass man vermuten kann, die an der Geheimrunde Beteiligten waren sich schon am ersten Tag einig und haben danach nur Pingpong gespielt. Im Prinzip sollen alle Beschäftigten der DB im Oktober eine einmalige Inflationsausgleichsprämie von 2.850 Euro netto bekommen, ab Dezember 2023 monatlich 200 Euro brutto mehr und ab August 2024 nochmal 210 Euro monatlich. Die Laufzeit ist 25 Monate bis März 2025.
Es gibt aber jede Menge Sonderregeln: für die einen etwas weniger Geld, für andere deutlich mehr, sogar Verschlechterungen bei Arbeitszeiten als Zugeständnisse an die DB. Durch die Differenzierungen findet wieder eine Aufspaltung der Belegschaft statt. Die Forderung von 650 Euro für alle war aber so beliebt gewesen, weil sie eine gemeinsame war!
Um dem ganzen einen demokratischen Anschein zu geben, organisierte der Vorstand der EVG nun nach fast sechs Monaten eine Urabstimmung unter ihren ca. 110.000 EVG-Mitgliedern bei der DB. Es gab zwei Antworten: „Ja“, wenn man dem Ergebnis zustimmt und „Nein“, wenn man für Streik ist. Ziemlich verdreht: Eine erste Urabstimmung zur Beendigung einer Tarifrunde, statt wie sonst üblich als Einleitung zu größeren Streiks – ist das das neue Modell in Deutschland? Und lediglich 25 % als Zustimmung reichten – eine undemokratische interne Regel, die sich alle Gewerkschaften in Deutschland gegeben haben. Damit war das Ergebnis vorhersehbar.
Aber wie viele „Nein“-Stimmen würde es geben? Das war die spannende Frage angesichts unüberhörbarer Kritik.
Eine fette Ohrfeige für den EVG-Vorstand und für die DB
Bei der Abstimmung haben 65 % teilgenommen. Von ihnen haben 52,3 % für den Schlichtungsvorschlag gestimmt und 47,7 % dagegen.
Wie viele mehr waren gegen den Abschluss, aber haben sich nicht beteiligt, weil der EVG-Vorstand erklärt hatte, besser kann es nicht werden? Der Vorstand hat sogar Angst gemacht, bei einem Streik könnte was Schlechteres rauskommen. Bei der DB sind aber viele mit ihren niedrigen Löhnen auf mehr Geld angewiesen. Es gab jedoch nicht systematisch gemeinsame Versammlungen, um zwischen Fahrdienstleiter, DB Service, Busfahrerin, Lokführerin, DB Dialog usw. offen zu diskutieren, für wen das Ergebnis okay wäre oder ob man gemeinsam streiken will. Es gab allerdings ein paar offene Briefe von EVG-Betriebsgruppen, die die verbreitete ablehnende Stimmung sichtbar gemacht hatten.
Die vielen Unzufriedenen haben zum Ausdruck gebracht, dass sie nicht für Inflation und Krise zahlen wollen. Und sie haben sichtbar gemacht, dass man diesen Gewerkschaftsapparatleuten nicht die Verhandlungen und Streiks überlassen darf. „Der Streik den Streikenden“ und „Streiks sind die einzige Waffe, die die Arbeitenden gegen die Unternehmen haben“ – das werden sich die Arbeitenden zurückerobern müssen.
Dieses Ritual ermüdend langer Verhandlungen mit wenigen kurzen Warnstreiks, deren Daten völlig intransparent von oben festgelegt werden, ist keine Spezialität der EVG. Auch nicht das sehnsüchtige Anbiedern bei den Bossen. Wir sehen dasselbe bei allen anderen Gewerkschaften wie ver.di, IG Metall oder GDL …
Die Gewerkschaftsapparate sind schon lange durch hunderte Adern mit den Unternehmen und dem kapitalistischen Staat verbunden. Für die Konzerne und den Staat sind die Arbeitenden Schafe und um die in Schach zu halten, braucht man Schäfer. Die Gewerkschaftsspitzen haben diese Rolle übernommen. Aber wer lässt sich schon gerne rumkommandieren?
Sabine Müller, Berlin
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