Von Streikwelle zu Megastreik zu … ?

Für den großen Bereich des Öffentlichen Dienstes hat es Ende April eine Einigung über Lohnerhöhungen gegeben. Die Befragung bis 12. Mai unter den Gewerkschaftsmitgliedern ergab eine Zustimmung von 66% bei Beteiligung von 27%. Nach der Chemie, Metall/Elektro und Post ist damit die nächste große Lohnrunde seit Beginn der Inflation beendet. Die Abschlüsse ähneln sich, auch die Verhandlungsmuster. Zeit für eine Zwischenbilanz.

Große Gewinne, kleinkarierte Lohnabschlüsse

In der sehr profitablen Chemiebranche Deutschlands akzeptierte die Gewerkschaft IGBCE im Herbst letztes Jahr zweistufige Lohnerhöhungen von 2 x 3,25 % und eine Laufzeit des Tarifvertrages bis Juni 2024. Die Gewerkschaft IGM vereinbarte dann mit der profitablen Metallbranche Lohnerhöhungen in zwei Schritten mit 5,2% und 3,3% bei einer Laufzeit bis September 2024. Bei der Post vereinbarte die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di kürzlich eine Lohnerhöhung von 340 Euro brutto monatlich ab April 2024 bei einer Laufzeit des Tarifvertrages bis Dezember 2024. In allen Lohnrunden haben sich die Unternehmen außerdem zur Zahlung der „Inflationsausgleichsprämie“ verpflichtet, einer Prämie von maximal 3.000 Euro netto steuerfrei, die je nach Abschluss über mehrere Monate ausgezahlt wird, ohne dass damit aber dauerhaft die Löhne angehoben werden.

Das Ergebnis der Mitgliederbefragung im Öffentlichen Dienst jetzt im Mai war mit Spannung erwartet worden. Es hatte jede Menge Warnstreiks mit großer Beteiligung gegeben. 500.000 waren dabei gewesen, 70.000 sind neu in die Gewerkschaft eingetreten. Die Erwartungen an den Lohnabschluss waren angesichts der Lohnforderung von mindestens 500 Euro hoch. Das Verhandlungsergebnis ist aber weit davon entfernt: eine Erhöhung von 200 Euro für jeden als „Sockelerhöhung“ plus zusätzlich 5,5%, allerdings erst für nächstes Jahr und Laufzeit ebenfalls 24 Monate. Die „Inflationsausgleichsprämie“ soll die Nullrunde 2023 beschönigen.

Aus vielen Orten gab es Rückmeldungen, dass dieses Verhandlungsergebnis als viel zu schlecht gesehen wurde, weil die Preissteigerungen höher sind. Aber es gab keine koordinierte Kampagne, mit „Nein“ zu stimmen. Vor diesem Hintergrund sind 66% Zustimmung wenig. Die Stimmung war allerdings an den verschiedenen Orten unterschiedlich. Wo es viele Streikaktivitäten gegeben hatte, so wie in Berlin im Krankenhausbereich, war die Ablehnung wohl eher höher. Dort gab es schon vor dieser Lohnrunde viele Erfahrungen mit Arbeitskämpfen, diese erleichterten vieles in der Organisierung der Streiktage. „Teamberater“ oder „Teamdelegierte“, die durch die Häuser ziehen, gab es schon in der Vergangenheit. Und mit jedem Streiktag kamen neue Kolleg:innen und Erfahrungen hinzu. Es entwickelte sich Selbstvertrauen. Aber bundesweit schaut es anders aus. In den meisten Behörden und staatlichen Einrichtungen wurde Jahrzehnte nicht gestreikt. Die Idee von gewerkschaftlichen Vertrauensleuten ist verschütt gegangen. Der Aufbau von Strukturen in den Betrieben, in denen nicht nur Routine abgespult wird, sondern echte Diskussionen laufen und die Streiks organisiert werden, mit Streikversammlungen und Streikleitungen vor Ort, das steht als dringende Aufgabe an. Eine Organisierung „von unten“ ist nichts bahnbrechend Neues, aber „Sozialpartnerschaft“ der Gewerkschaftsführungen mit Politik und Unternehmensvorständen hat eben Folgen. Erfahrungen verschwinden; die Mitglieder werden zur Passivität degradiert. Da, wo es an aktiven Gewerkschaftsmitgliedern und Streikenden fehlt, fehlt dann der Optimismus, hohe Forderungen auch wirklich durchsetzen zu können. Wenn es aus höheren Kreisen der Gewerkschaftsapparate heißt, dass es an „Durchsetzungsfähigkeit“ fehlte, dann mag das vielleicht (auch nur vielleicht, denn wie wurde das gemessen?) als Zustandsbeschreibung stimmen. Aber die von-oben-herab-Politik der Gewerkschaftsführungen hat dazu beigetragen. „Durchsetzungsfähigkeit“ kann aufgebaut werden.

Eine „Konzertierte Aktion“ für Ruhe un Ordnung

Alle Lohnrunden haben ein gemeinsame Muster. In keiner Branche haben die Gewerkschaftsleitungen zu unbefristeten Erzwingungsstreiks aufgerufen. Tatsächlich gab es nur einzelne Warnstreiktage mit langen Pausen dazwischen nach lang geplanter Dramaturgie. Ver.di-Chef Wernecke behauptet, dass das doch positiv sei, weil man sich in der Zwischenzeit habe organisieren können und man ja auch wieder in den Verhandlungsmodus kommen müsse. Verhandlungen ohne das einzige Druckmittel Streik? Ein übliches Ritual bei Tarifverhandlungen. Immer tauchten Gewerkschaftsführungen in Geheimverhandlungen mit den Bossen ab und überrumpelten die Kolleg:innen mit plötzlichen Einigungen. Alle Abschlüssen liegen dementsprechend unterhalb der Inflation und bedeuten Reallohnverlust. Die staatlich geschaffene steuerfreie „Inflationsprämie“ wurde genutzt, um kurzfristig Geld fließen zu lassen, aber nichts Dauerhaftes. Das entspricht dem Einverständnis, das im letzten Herbst in der „Konzertierten Aktion“ gefunden wurde. Angesichts der Inflation hatten sich Bundeskanzler Scholz, Gewerkschaftschefs und Wirtschaftsvertreter getroffen und darüber nachgedacht, wie die Wirtschaft stabil gehalten werden kann. Rausgekommen ist, dass es keine zu hohen Lohnabschlüsse geben dürfe, um eine angebliche „Lohn-Preis-Spirale“ zu verhindern. Die neu geschaffene Inflationsausgleichsprämie von 3.000 Euro und andere staatlichen Leistungen sollen etwas Druck aus dem Kessel nehmen, damit die soziale Wut nicht explodiert. Die deutsche Wirtschaft hegt die Erwartung, dass das so bleibt und die Gewerkschaftsbosse ihre Rolle in diesem Sinne „verantwortlich“ spielen.

Wie weiter bei Bahnen und Bussen?

Die Verkehrsgewerkschaft EVG verhandelt noch mit 50 Unternehmen, darunter die 100% staatliche Deutsche Bahn. Die Forderung von 650 Euro Erhöhung ist die höchste. Und die EVG-Oberen haben die ver.di-Abschlüsse abgelehnt… bislang. „Radikaler“ sind sie nur in Worten. Nach zwei bundesweiten Warnstreiktagen einschließlich „Megastreik“ mit ver.di, war der dritte Warnstreik ab dem 14. Mai angekündigt worden. Drei Warnstreiks in drei Monaten sind wirklich nicht viel, um Druck zu machen.

Doch aus dem angekündigten 3. Warnstreik wurde nichts. Die DB verklagte die EVG, um ein Streikverbot durchzusetzen und drohte mit Schadensersatzforderungen in Millionenhöhe. Solche Angriffe auf das Recht der Arbeitenden zu streiken gehören zum Arsenal der „Arbeitgeber“ im Klassenkampf. Unter dem Druck des drohenden Streikverbotes sagte die EVG in letzter Minute den Streik ab während die DB ihrerseits ein paar kleine Zugeständnisse beim Mindestlohn machte. Der Mindestlohn ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber nicht bei der DB… Dann tauchten die EVG-Verhandlungsleute ab und man erfuhr aus der Presse, dass man sich mit der DB an einem geheimen Ort zu geheimer Zeit getroffen hat, um die Verhandlungen vor Pfingsten zu planen. Von Urabstimmung und Erzwingungsstreik ist nicht mehr die Rede, obwohl die Erwartungen bei den Bahner:innen groß sind. Offensichtlich will auch die EVG-Spitze schnell eine Einigung, ohne dass Streiks den Verhandlungsmodus stören.

Auch in der EVG ist ein Streik für die meisten total neu. Der letzte war 2018 und dauerte nur kurz (Die Erinnerungen sind blass…), denn die EVG ist für ihren Kuschelkurs mit der DB berühmt-berüchtigt. Es hängt von einzelnen Leuten ab, ob in ihrer Schicht der Streik gut läuft oder nicht. Viel Praktisches zum Streik und der Durchführung muss wieder erlernt werden: wann wo treffen, wie die Arbeitswilligen überzeugen, wie PC runterfahren etc. Es liegt an Gewerkschaftsaktiven, sich zu vernetzen und Kolleg:innen zu finden, die bereit sind, sich mehr Gedanken zu machen. Aber das gibt es. Die Beschäftigten haben das letzte Wort nicht gesprochen, denn Hunderttausende sind neu in Streiks gezogen worden und weitere Lohnrunden stehen an. Bei jedem Streik wird das Rädchen der Ausbeutung angehalten und die Macht der Unternehmen und des Staates kollektiv in Frage gestellt. Wir alle lernen dabei, zu kämpfen und uns zu vernetzen.

Das Beispiel Deutsche Bahn: wenn Gewerkschaftsapparate sich selbst am nächsten sind

Die Bahner:innen der DB haben mit einem weiteren Problem zu kämpfen: die Spaltung zwischen zwei Gewerkschaften. Es gibt die kleinere Gewerkschaft GDL, die in den letzten Jahren häufiger mal zu Streiks aufgerufen hatte, aber fast nur Lokführer und Zugbegleiter in ihren Reihen hat. In der Vergangenheit das geschmähte Kind, biedert sich der Vorstand der GDL jetzt bei der DB an, indem er gegen die EVG hetzt und den eigenen Mitgliedern verbietet mitzustreiken. Die Spaltung hat lange Tradition und kommt aus den oberen Strukturen der Gewerkschaften, deren Interessen nur bis zum eigenen Bauchnabel reichen. Die Mitglieder selbst wünschen sich schon lange eine Zusammenarbeit der Gewerkschaften. Eine Vernetzung kämpferischer Bahner:innen über die Gewerkschaftsgrenzen hinweg findet aber statt und man kann optimistisch sein, dass das mit jedem Streik stärker wird.

21. Mai 2023

Havannas Obst und Sabine Müller, Berli

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