
Deutschland gilt als das Land mit großen kämpferischen Gewerkschaften. Da ist nur wenig Wahres dran. Die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di (Krankenhäuser, Post, Logistik, Handel, Häfen, Verkehr etc.) hat 1,86 Millionen Mitglieder (Stand 2024). Die Gewerkschaft IG Metall (Metall- und Elektroindustrie, Stahl) hat 2 Millionen Mitglieder (Stand 2024). Diese Mitgliederzahlen sind seit Jahren im Sinken mit einem kleinem Wiederanstieg zuletzt. 17 % aller Beschäftigten sind Gewerkschaftsmitglieder. Dieser Durchschnittswert wird erreicht, weil in manchen Branchen sehr viele Beschäftigte Gewerkschaftsmitglieder sind. Das ist so bei den Großbetrieben der Metall- und Stahlindustrie und vielen Bereichen im Öffentlichen Dienst oder der Infrastruktur.
Aber deutschlandweit gibt es nur noch in einem Viertel aller Betriebe und für die Hälfte aller Arbeitsverhältnisse Tarifverträge, die die Arbeitsbedingungen kollektiv regeln. Die „Stärke“ der deutschen Gewerkschaften ist also sehr relativ. Aber vor allem gehört Deutschland zu den Ländern mit der niedrigsten Zahl an Streiktagen. Frankreich hat statistisch gesehen fünfmal mehr Streiktage (Stand 2022). Und die Streiks in Deutschland sind fast ausschließlich solche, die nur ein paar Stunden oder wenige Tage dauern. Unbefristete Streiks sind die absolute Ausnahme. Doch wenn die Gewerkschaften aufrufen – nur sie haben nach dem deutschen Streikrecht das Recht dazu – dann werden die Streiks befolgt. Die Arbeiterklasse ist diszipliniert … bei der Arbeit und beim Streiken. Noch …
Die sehr geringe Zahl an Streiktagen hat nichts damit zu tun, dass die Bosse besonders großzügig wären. Auch in Deutschland gibt es in sehr vielen Berufen Niedriglöhne, auch wenn es noch Jobs mit sehr guten Löhnen gibt. Outsourcing, Verlagerungen und Leiharbeit haben ihre tiefen Spuren hinterlassen. Seit mehreren Jahren – verstärkt im letzten Jahr – häufen sich außerdem die Ankündigungen von Massenentlassungen. Die Arbeitslosenzahlen steigen wieder. Dass das deutsche Kapital mit relativ wenig Klassenkampf rechnen muss, hat damit zu tun, dass die Gewerkschaftsspitzen, die Konzerne und der Staat in besonderer Zuneigung verbunden sind: Das ist das deutsche Modell der „Sozialpartnerschaft“.
Seit vielen Jahren sehen wir bei allen möglichen Gelegenheiten die obersten Führungsetagen der Gewerkschaften als Partner an der Seite der Unternehmer und der Politik. Vor fünf Jahren feierten sie gemeinsam ohne Scham 100 Jahre Sozialpartnerschaft, die ihre Geburtsstunde 1918 erlebt hatte auf dem Höhepunkt der Novemberrevolution zur Niederschlagung des Arbeiteraufstandes. Hinter „Sozialpartnerschaft“ versteckt sich nichts anderes als direkte Hilfsdienste der Gewerkschaftsapparate für das Kapital. Und das sprechen sie ganz offen aus. Im Aufruf des Gewerkschaftsdachverbandes DGB zum diesjährigen 1. Mai werden die neuen fast 1.000 Milliarden Euro teuren Finanzpakete der zukünftigen Regierung für „die Wirtschaft“ und zur Aufrüstung als Erfolg gefeiert. Darin heißt es: „Es kommt jetzt darauf an, unser Land und unsere Wirtschaft am Laufen zu halten und für die Zukunft aufzustellen. Aber es ist auch klar: Wir erwarten, dass der Staat, die Unternehmen und die Arbeitgeber ihrer Verantwortung gerecht werden. Mit den Geldern müssen moderne Standorte, zukunftsfähige Produkte und damit gute und sichere Arbeitsplätze für die Beschäftigten finanziert werden.“
Ein weiteres Beispiel ist die Einigung zwischen Volkswagen und IG Metall von letztem Dezember. Der Volkswagenkonzern sieht seine Gewinne schwinden angesichts der Veränderungen auf dem chinesischen Markt, der Notwendigkeit der Anpassung an den neuen Markt der Elektroautos und der Überkapazitäten seiner Werke. Im letzten Herbst kündigte der Vorstand den Abbau von Zehntausenden Arbeitsplätzen an, verbunden mit der Drohung von Kündigungen und der Schließung von zwei Werken. Dieser Angriff war massiv. Die IG Metall-Führung mit ihren Vertretern in den Betriebsräten haben in den folgenden Wochen das übliche Theater aufgeführt, dessen Drehbuch wir fast auswendig kennen. Große Reden über Missmanagement, ein paar kurze Streiks und Kundgebungen, Versprechungen, man werde das nicht hinnehmen … Dabei hat die IG Metall gezeigt, dass sie mobilisieren kann. Es gab zweimal Streiktage mit 100.000 Streikenden an mehreren Standorten. Man konnte sich angesichts des massiven Angriffs des VW-Konzerns fragen, ob dieses Mal die Wut der Arbeitenden das einstudierte Theater durchkreuzen und die IG Metall aus ihrer Routine in einen echten Arbeitskampf zwingen könnte. Doch kurz vor Weihnachten erfuhren die VW-Arbeitenden aus den Medien, dass sich Gewerkschaft und Konzern geeinigt hatten auf einen Vertrag der „nachhaltige Investitionen in die Zukunft des Automobilherstellers ermöglicht und zugleich für die Belegschaft und ihre Familien Perspektiven schafft.“ (Zitat IG Metall) Er ist verbunden mit dem Abbau von 35.000 Stellen und Einsparungen bei den Löhnen von 1,5 Milliarden pro Jahr. „Durch die strukturelle Neuausrichtung des Unternehmens auf betrieblicher und tariflicher Ebene werden die Voraussetzungen geschaffen, das angepeilte Renditeziel für die Marke Volkswagen Pkw mittelfristig zu erreichen.“ – das ist das Zitat auf der Website des VW Konzerns.
Die VW-Arbeiter:innen waren kampfbereit. Die Aufgabe revolutionärer Organisationen ist es, die Voraussetzungen zu schaffen, sich gegen eine solche vereinte Macht des Vorstands und des Gewerkschafts-Apparates stellen zu können. Die Herausforderung für revolutionäre Kräfte ist die betriebliche Verankerung. Diese Aufgabe stellt sich überall und ist umso dringender, als die Angriffe sich verschärfen werden und die Gewerkschaftsbürokratie unzählige Beweise geliefert hat und weiterhin liefert, dass sie willens ist, die Arbeiterklasse in Deutschland hinter der nationalen Bourgeoisie zu vereinen und für deren Profite bluten zu lassen.
In Zeiten von Verschärfung der internationalen wirtschaftlichen Konflikte, von Kriegen und Aufrüstung rücken die Gewerkschaftsapparate noch näher an die Seite der Großkonzerne und des Staates. Im Februar 2024 veröffentlichte die Gewerkschaft IG Metall ein Positionspapier zusammen mit der sozialdemokratischen Partei und der Rüstungslobby mit der Forderung „Verteidigungsindustrie zukunftsfähig machen“. Ein Programm, diktiert von Rheinmetall und Diehl, mit dem Segen der größten deutschen Gewerkschaft! Die Gewerkschaftsapparate unterstützen auch demonstrativ zusammen mit der Regierung, dem Bundesverband der deutschen Industrie und allen Bundestagsparteien den israelischen Staat seit Oktober 2023. Für gewerkschaftliche Aktivist:innen gibt es bis heute Schwierigkeiten, offene Diskussionen innerhalb der Gewerkschaftsstrukturen darüber zu führen. Auf zwei gewerkschaftlichen Demonstrationen in Berlin haben wir erlebt, wie die Gewerkschaftsorganisatoren Hand in Hand mit der Polizei palästinasolidarische Blöcke abgedrängt haben.
Auch die Umwandlung von Autofabriken oder Werken der Bahnindustrie in Fabriken zur Produktion militärischer Ausrüstung wird von den Gewerkschaften begleitet, die darüber Tarifverträge abschließen.
Das ohnehin schon sehr restriktive Streikrecht in Deutschland erfährt weitere Beschränkungen. Systematisch werden Gewerkschaften verklagt – vor allem im Bereich der „Daseinsvorsorge“ – um „Notdienstvereinbarungen“ (Vorgaben zur Mindestbesetzung während Streiks, damit der Betrieb möglichst gut weiterläuft) durchzusetzen. Das heißt, dass sich Fragen des Streiks sehr schnell verrechtlichen können. Auch wenn diese Drohungen für die Gewerkschaftsapparate durchaus eine gewisse Gefahr darstellen, helfen sie ihnen zugleich, die Kontrolle über die Verhandlungen und die Taktik des Arbeitskampfes zu behalten.
Aber gleichzeitig sehen wir, dass die Arbeitenden in Deutschland nicht bereit sind, die Angriffe der Bourgeoisie und die Zurückhaltung der Gewerkschaften oder gar deren offene Komplizenschaft passiv hinzunehmen. Das ist zu messen an den oft sehr hohen Forderungen, die in Tarifverhandlungen aufgestellt werden, an der Begeisterung während der Streiks und an Abstimmungen über Verhandlungsergebnisse (die natürlich unter Kontrolle der Apparate erfolgen). Man spürt auch das Misstrauen unter den Arbeitenden, wenn sie zwar diszipliniert den Streikaufrufen folgen, aber schon mit schlechten Ergebnissen rechnen und im Nachhinein aus Enttäuschung über schlechte Abschlüsse die Gewerkschaften verlassen.
Aber es ist etwas ganz anderes, ob sich diese Arbeitenden auch vorstellen können, selbst aktiv zu werden oder gar die Kontrolle über die Streikforderungen, die Verhandlungen und die Streiks in die eigenen Hände zu nehmen.
Welche Politik können revolutionäre Betriebsaktivist:innen angesichts dieser Lage verfolgen? Wir müssen vor allem eine Politik entwickeln, die klar die Klassenunabhängigkeit der Arbeiterklasse und ihre eigenen Interessen als Ausgangspunkt hat. Das bedeutet eine Politik, die die Selbstorganisation der Arbeitenden immer als Ziel und als Mittel verfolgt, die unabhängig ist von diesen oder jenen Interessen der Gewerkschaftsapparate. Welche Politik ist innerhalb der Betriebe möglich und nötig angesichts der Kontrolle durch die Apparate einerseits, der Desillusionierung der Arbeitenden andererseits und deren fast immer noch fehlender Vorstellung, die Geschicke in die eigenen Hände nehmen zu können um etwas besseres zu erreichen? Diese Fragen stellen sich dringend, ohne dass wir an einem Schema kleben dürfen, wo und wie sich die kämpferischen Arbeitenden organisieren oder wie sich Klassenbewusstsein entwickeln wird. Im deutschen Musterland der Sozialpartnerschaft hat jedenfalls die sehr heterogene Arbeiterklasse schon oft ihren Eigenwillen gezeigt.
Mai 2025
[Diesen Text haben wir zur Vorbereitung des internationalen Kongresses revolutionärer sozialistischer Gruppen 16. – 18. Mai 2025 in Paris geschrieben]
Dossier:
Über die praktische Intervention von Revolutionär:innen in Gewerkschaften und Betrieben
