
Obwohl die Gewerkschaften ursprünglich geschaffen wurden, um die materiellen und moralischen Interessen der Arbeitenden zu verteidigen, hat ihre zunehmende Integration in den Staatsapparat sie zu einer der größten Hürden für die Kämpfe der Arbeitenden gemacht. Diese Entwicklung, die typisch ist für den Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium, hat die Gewerkschaften in bürokratische Maschinen verwandelt, die ihre eigenen Interessen verfolgen und zunehmend von der Basis der Arbeiter:innenklasse abgeschnitten sind.
Für Revolutionär:innen stellt sich also die Frage, ob, wie und mit welchen Zielen sie weiterhin in den Gewerkschaften aktiv sind. Die trotzkistische Bewegung hat sich von Beginn an eindeutig dazu positioniert: „[…] trotz fortschreitender Degeneration der Gewerkschaften und trotz ihres Verwachsens mit dem imperialistischen Staat [büßt] die Arbeit innerhalb der Gewerkschaften nicht nur nichts von ihrer Wichtigkeit ein, sondern [bleibt] als eine Notwendigkeit nach wie vor bestehen und [wird] in gewissem Sinne für jede revolutionäre Partei sogar noch wichtiger denn je. Die Sache, um die es nach wie vor geht, ist hauptsächlich der Kampf um den Einfluss auf die Arbeiterklasse.“ (L. Trotzki: „Die Gewerkschaften in der Epoche des imperialistischen Niederganges“, 1940)
Die revolutionären Betriebsaktivist:innen müssen gewerkschaftlich aktiv sein – egal wie sehr die Gewerkschaft mit den Bossen kollaboriert – um ihren Einfluss in der Arbeiter:innenklasse auszuweiten und zu versuchen sie dem Einfluss der bürokratischen Führung zu entreißen. Das trotzkistische Programm betont aber auch eine komplementäre Notwendigkeit: Die Revolutionär:innen müssen die Schaffung unabhängiger Organisationsformen in den Kämpfen anstreben und bestärken, beispielsweise Streikkomitees, die in der Lage sind die kämpfenden Arbeitenden zu vertreten und dem Gewerkschaftsapparat die Führung des Streiks streitig zu machen.
- Ein Jahrhundert der Integration der Gewerkschaften in den Staatsapparat
Im Verlauf des letzten Jahrhunderts hat sich die Integration der Gewerkschaften in den Staatsapparat deutlich verstärkt. Jedes Mal, wenn der Staat die Forderungen und Erwartungen der Arbeitenden im Zaum halten musste (1936, 1968, usw.), hat er die Position der Gewerkschaften gestärkt und nur sehr wenige Zugeständnisse an die Arbeitenden gemacht. Heute sind die Gewerkschaften zunehmend abhängig vom Staat und immer weniger von ihren Mitgliedern (die Mitgliedsbeiträge sind im Vergleich zu den staatlichen Subventionen unbedeutend).
Durch die Institutionalisierung haben die Gewerkschaften einen Großteil ihrer Mitglieder und ihres demokratischen Innenlebens eingebüßt (der Anteil von Gewerkschaftsmitgliedern ist auf etwa 10 % gesunken [in Frankreich, in Deutschland auf 17,4 % im Jahr 2021, Anm. d. Ü.]), und sie haben als „Sozialpartner“ immer mehr die Rolle von offiziellen Vermittlerinnen zwischen Arbeitenden und Unternehmen eingenommen. Die aktuellen Reformen haben diese „Partnerschaft“ bestärkt und den Arbeitenden die Hände gebunden: Die Anzahl der gewerkschaftlichen Mandate wurde reduziert um die Gewerkschaftsaktiven stärker zu „professionalisieren“ und die permanente Tarifverhandlung als Instrument des Managements zu fördern. Ein Tätscheln des Kopfes, bevor man die Beine wegzieht.
Diese Politik der „Sozialpartnerschaft“ birgt auch Risiken für die herrschende Klasse. In dem Maße, wie sich die Gewerkschaften integrieren, verlieren sie Ihre Glaubwürdigkeit gegenüber den Arbeitenden, sowie die Fähigkeit die gesellschaftliche Wut in Schach zu halten oder zu kanalisieren. Das schafft Raum für spontanere und unkontrollierbare Bewegungen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Gelbwesten-Bewegung, die einige der prekärsten Beschäftigten mobilisiert hat.
Die großen Gewerkschaftsverbände haben eindeutig auf diese Distanz geantwortet, indem sie der Bewegung nichts als Feindseligkeit entgegenbrachten. Revolutionär:innen mussten ihrerseits Mittel und Wege suchen, um in diese Bewegung einzugreifen und an ihr teilzunehmen, die die existierende gesellschaftliche Ordnung in Frage gestellt hat.
- Der gewerkschaftliche Aktivismus: Wie und mit welchen Zielsetzungen?
Trotz der Integration der Gewerkschaften bleibt die gewerkschaftliche Arbeit eine Notwendigkeit. Sie ist ein grundlegender Bestandteil der politischen Aktivität der Betriebsgenoss:innen und eine beständige Aufgabe für die Organisation, die diese Arbeit anleitet und kontrolliert.
Die Gewerkschaft ist die erste Massenorganisation der Arbeitenden. In den Augen vieler ist sie das Organ, das ihre alltäglichen Interessen gegen die Ausbeutung verteidigt und das die Arbeitenden in ihrer gesamten Vielfältigkeit vereinigt. Die Gewerkschaft handelt mit dem Ziel sie breitestmöglich zu organisieren, aber auch um Aktivist:innen an der Basis zu überzeugen und zu rekrutieren.
Heutzutage sind wir häufiger in der Situation gewerkschaftliche Betriebsgruppen anzuführen, aufgrund unserer betrieblichen Präsenz und der Schwäche der Gewerkschaftsapparate. Wir scheuen uns nicht davor, gewerkschaftliche Positionen zu übernehmen, nicht mit der Illusion die Politik des Apparats zu beeinflussen, sondern weil es keinen Grund gibt diese Posten abzulehnen, wenn die Arbeitenden uns vertrauen. Für unseren Gewerkschaftsaktivismus bekannt zu sein und leitende Funktionen zu bekleiden, verleiht uns eine stärkere Position, um unsere politische Linie im Alltag und in Kämpfen zu vertreten und auch dafür zu sorgen, dass diese Kämpfe demokratisch geführt werden.
Der Aufbau der Gewerkschaft als Werkzeug kann es uns ermöglichen, politische Arbeit in größerem Umfang zu betreiben – auch hier gilt: ohne Illusionen, aber nicht ohne Risiken. Neben der Unterdrückung durch die Chefs sind auch die Gewerkschaftsapparate nicht dumm: Auf Branchenebene für eine politische Ausrichtung einzutreten, die es den Arbeitenden ermöglicht den Bossen die Stirn zu bieten, kann dazu führen, dass man von der Bürokratie aus der Gewerkschaft ausgeschlossen wird, wie es der CGT-Betriebsgruppe von Stellantis Poissy passierte, die mit Umstrukturierungen in der Automobilindustrie konfrontiert war. Ebenso kann die Gewerkschaftsbürokratie gegenüber der Repression durch die Bosse besonders passiv bleiben, wie im Fall unserer Genossen, die Betriebsaktivisten bei der Post sind.
Wieder andere machen die Erfahrung, wie die Politik der Gewerkschaftsverbände in die Sackgasse führt. Durch die wiederholte Konfrontation mit diesen Grenzen bringen kämpferische Teile unserer Klasse zunehmend den Willen zum Ausdruck, sich von der gewerkschaftlichen Bevormundung zu befreien, und erkennen die Notwendigkeit einer Konfrontation mit der herrschenden Klasse. Unsere gewerkschaftliche Intervention kann einen Rahmen bieten, um diejenigen zusammenzubringen, die sich für eine alternative Linie zu der der offiziellen Gewerkschaftsführungen einsetzen wollen. Es ist uns gelungen, gewerkschaftliche Gruppen im Sozialbereich zu organisieren, oder auch außerhalb der gewerkschaftlichen Strukturen, beispielsweise in Kollektiven wie „Pflegekräfte für Gaza“.
- Die Notwendigkeit einer direkten politischen Intervention in den Betrieben durch politische Betriebsflugblätter
Für uns beschränkt sich die Aktivität in den Betrieben nicht auf die Arbeit in den Gewerkschaften. Weil wir uns nicht nur an eine „Vorhut“ der Gewerkschaftsaktivist:innen richten, betreiben wir parallel eine Arbeit des direkt politischen Ausdrucks: Wir veröffentlichen Betriebsflugblätter in jedem Betrieb, wo mindestens ein:e organisierte:r Genoss:in arbeitet.
Es richtet sich an alle Arbeitenden, auch jene, die am weitesten von der Politik und der Gewerkschaftsaktivität entfernt sind. Nur in den gewerkschaftlichen oder politisierten Kreisen der Arbeiter:innenklasse aktiv zu sein, bedeutet den sozialen Druck hinzunehmen, den sie ausüben: Ihre Sorgen, ihre Deformationen oder sogar ihren Reformismus zu übernehmen. Unsere Intervention durch die Betriebsflugblätter erlaubt es uns, zum aktuellen Geschehen Stellung zu beziehen und die alltägliche Ausbeutung im Betrieb zu anzuprangern. Diese Praxis zeigt, dass wir näher an den Arbeitenden sind, wenn wir eine revolutionäre Sprache sprechen (die an ihren instinktiven Widerstand appelliert), als wenn wir ihnen die legalistischen Reden der Reformist:innen vorsetzen. Unsere Verurteilung der Massaker in Gaza haben uns beispielsweise die Sympathie der Kolleg:innen eingebracht zu einem Zeitpunkt, wo die Solidaritäts-Bewegungen für Palästina unterdrückt werden.
Die spezifische Rolle der Betriebsflugblätter ist es, über unsere Reihen hinauszuwirken, indem sie Kolleg:innen einbinden, die Inhalte besteuern, beim Formulieren mithelfen, das Flugblatt verteilen … und damit Betriebsgruppen bilden, die unsere Ideen unterstützen und helfen sie zu verteidigen. Diese Gruppen sind von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht in den Kämpfen eine politische Linie zu verfechten.
- In den Kämpfen die Selbst-Organisation und eine Politik der Ausweitung vertreten
„Die Befreiung der Arbeiterklasse muss das Werk der Arbeiterklasse selbst sein“, sagte Marx. Eine notwendige Perspektive in Zeiten, in denen die „Sozialpartnerschaft“ triumphiert, in denen die Gewerkschaftsapparate so tun, als würden sie die Arbeiter:innenklasse repräsentieren, während sie eigentlich die Standpunkte der Bourgeoisie durchsetzen. Unsere Aufgabe ist es, jede Gelegenheit zum Kampf zu ergreifen, auch die ganz kleinen, und alles dafür zu tun, dass die größtmögliche Zahl von Arbeitenden lernt sich zu organisieren und selbst ihre Bewegung, ihre kollektive Kraft, anzuführen. Die Strategie der Machteroberung durch das Proletariat beginnt damit, die Führung ihrer eigenen Kämpfe zu erobern.
Wie können revolutionäre Aktivist:innen dazu beitragen, dass diese Erfahrungen so weit wie möglich vorangetrieben werden und die Arbeitenden die Oberhand behalten? Das Streikkomitee ist die Antwort auf dieses Ziel. Die Vorstellung, dass die Streikenden ihre Führung wählen und kontrollieren müssen, sollte eigentlich selbstverständlich sein, aber das ist bei weitem nicht der Fall. Die Gewerkschaftsführungen begnügen sich mit Gerede über Arbeiter:innendemokratie, handeln aber so, als ob ihnen das Recht den Kampf zu führen standardmäßig zusteht. Formen der Selbstorganisation sind entscheidend um zu verhindern, dass die Führung des Kampfes den Arbeitenden aus der Hand genommen wird. Sie sind die einzige Möglichkeit, alle einzubeziehen in die Entscheidungen der Bewegung – und damit die Bewegung zu stärken. Ein Beispiel ist unsere Rolle im Streikkomitee für Arbeitende ohne Papiere (Migrant:innen ohne Aufenthaltsstatus) im Jahr 2009. Wir organisierten den Kampf von 1.500 Zeitarbeiter:innen, die über ein Jahr lang ihren eigenen Kampf für ihre Legalisierung führten.
Der Aufbau solcher Rahmen ermöglicht es, eine Politik der Ausweitung zu verfechten, im Gegensatz zu den Gewerkschaftsführungen, die die Kämpfe auf einen einzigen Betrieb, einen einzigen Beruf, einen einzigen Bereich beschränken, um sie ungefährlich zu machen. Die Gewerkschaftsführungen permanent in Frage zu stellen ist eine Illusion, man muss sich mit den Mitteln ausstatten, um den Arbeitenden echte Kampfperspektiven zu bieten.
In unserem bescheidenen Maßstab hat diese Politik der Koordinierung von Streikenden schon den Kämpfen gegen Entlassungen eine landesweite Dimension verliehen: 2001 mit dem Kampf von Lu-Danone, 2009 mit den koordinierten Kämpfen von Continental, New Fabris, Goodyear und anderen Automobilzulieferern und erneut 2021 mit dem Kampf bei TUI.
In der Bewegung gegen die Rentenreform 2023 diente die Einheit der Gewerkschaften vor allem dazu, die Dynamik des Kampfes wie 2019 durch eine Reihe von „gestaffelten Streiks“, die regelmäßig unterbrochen wurden, zu bremsen. Wir haben damals eine andere Politik vorgeschlagen, indem wir Koordinierungskomitees im Verkehrs- und Bildungsbereich sowie branchenübergreifende Versammlungen aufgebaut haben.
Angesichts der aktuellen Entlassungswelle hat sich die CGT damit begnügt, zu isolierten Streiktagen ohne Zukunftsperspektive aufzurufen, und hat nicht versucht, die für die Verteidigung ihrer Arbeitsplätze kämpfenden Unternehmen zu koordinieren. Angesichts dieser Isolation, Betrieb für Betrieb, haben wir erneut versucht, verschiedene Betriebsgruppen und Kollektive zu koordinieren um die Kämpfe zu führen.
April 2025
[Dieser Beitrag wurde von der Neuen Antikapitalistischen Partei – Revolutionär (NPA) aus Frankreich zur Vorbereitung des internationalen Kongresses revolutionärer sozialistischer Gruppen 16. – 18. Mai 2025 in Paris geschrieben]
Dossier:
Über die praktische Intervention von Revolutionär:innen in Gewerkschaften und Betrieben
