Ukrainischer Militärvorstoß auf russisches Gebiet: ein Wendepunkt?

Der Vorstoß der ukrainischen Armee im Norden des Landes auf russisches Territorium in der Region Kursk am Dienstag, den 6. August, war ein Elektroschock … vor allem für Putin, auch wenn der Vormarsch sich in Grenzen hielt. Es war nicht das erste Eindringen dieser Art: Andere Einfälle hatten sich gegen Belgorod gerichtet, eine Stadt und Region, die an Kursk angrenzt, wo die russischen Behörden aufgrund des ukrainischen Vormarsches gerade den Notstand ausgerufen haben und zusätzliche Truppen hinschicken. Doch die ukrainische Operation gegen Belgorod im Mai 2023 war lediglich die Aktion eines „Freiwilligen“-Trupps aus den sogenannten „befreiten Gebieten des Donbass“ gewesen und hatte nur zwei Tage gedauert. Diesmal drang der militärische Vorstoß in ein Gebiet von etwa 15 Kilometern Tiefe und 40 Kilometern Breite ein, mit (laut Presseberichten) bis zu 11.000 Soldaten, mit Panzern, Drohnen und Flugkörpern aller Art und er brachte Dutzende von Ortschaften unter seine Kontrolle. Alle Medien betonen die Neuartigkeit des Ereignisses: Das Territorium der Russischen Föderation war bis dahin noch nie von einem militärischen Einfall oder einer Invasion betroffen gewesen. Im Gegenteil, es war die russische Armee, die es sich nicht nehmen ließ, außerhalb ihrer Grenzen militärisch einzugreifen oder zu operieren: in Georgien, Syrien, Weißrussland oder Kasachstan, in Armenien oder sogar in Afrika und natürlich in der Ukraine, seit 2014, aber vor allem seit der kriegerischen Invasion im Februar 2022 und ihrer bis heute andauernden Besetzung von rund 20 % der Ukraine.

Wie immer trifft es die arme Bevölkerung

Die Bevölkerung in den Gebieten, in denen die militärischen Operationen durchgeführt werden, ist schwer betroffen, sowohl die Bevölkerung dieser russischen Verwaltungsregion Kursk, als auch die der nahe gelegenen Region Belgorod, als auch die ukrainische Bevölkerung der Stadt Sumy und der umliegenden Dörfer auf der anderen Seite der Grenze, die genauso wenig informiert worden war und nun ebenfalls Opfer der Folgewirkungen ist: Die russischen Raketenangriffe als Vergeltung für den Überfall des ukrainischen Militärs haben nach Angaben Kyivs bereits 20.000 Menschen in die Flucht getrieben. Auf der russischen Seite berichteten Putin-kritische Medien und soziale Netzwerke, aber auch pro-russische Sender, sehr schnell über die Panik und Verzweiflung, die die Menschen in Dutzenden von Dörfern oder größeren Ortschaften ergriffen, die sich plötzlich im Bombenhagel befanden und von Panzern bedroht wurden. Tote, Verletzte, darunter auch Kinder, zerstörte oder aufgerissene Häuser und eine Art „Rette sich, wer kann“ von Menschen, die auf sich allein gestellt waren, bevor die – offenbar überrumpelten – russischen Behörden anfingen, den Beginn einer Evakuierung zu organisieren. Und die Flucht, der Exodus. Etwa 180.000 Menschen sollen sich in der Gefahrenzone befunden haben, von denen 121.000 bereits von sich aus geflohen oder evakuiert worden sind und alles zurückgelassen haben. Videos zeigen erschütterte, am Boden zerstörte Männer und Frauen, die die Untätigkeit der lokalen Behörden anprangern, die nichts vorhergesehen haben, die sich aber an Wladimir Putin wenden, als ob er von nichts wüsste. Worauf Putin offenbar setzt.

Ausnahmezustand … gegen die Wut, die explodieren könnte

Die russische Führung muss sich mit den Angriffen einer „patriotischen Blogosphäre“ auseinandersetzen, einem Netzwerk von Militärs und Politiker:innen, die, soweit dies möglich ist, noch reaktionärer sind als sie selbst, und die auf der Wut und Verbitterung der Bevölkerung surfen, indem sie das Versagen der Militärbehörden, mit General Gerassimow an der Spitze, anprangern. Da Angriff die beste Verteidigung ist, fand Putin einen Sündenbock in der Person des Gouverneurs der Region, Alexej Smirnow, der bei einem Krisentreffen, das er am 12. August abhielt, zur Zielscheibe seines Zorns wurde. Und er soll die Aufgabe, den Gegenschlag gegen die ukrainische Invasion zu organisieren, einem seiner engsten Vertrauten übertragen haben: Alexej Djumin, einem 52-jährigen Generalleutnant, einem langjährigen Freund und, wie Putin, Ex-Geheimdienstler zu Jelzins Zeiten, der seit einigen Jahren im Staatsapparat aufsteigt. Dabei hat er auch enge Beziehungen zu den Gründern der Wagner-Milizen gepflegt, den verstorbenen Jewgenij Prigoschin und Dimitrij Utkin, der gerne Nazi-Tattoos zur Schau trug. Putin und seine Leute aus den verschiedenen Clans des russischen Großkapitals versprechen der leidgeprüften Bevölkerung einige finanzielle Hilfen, das gehört zum guten Ton, auch wenn die Bevölkerung nur „Staub unter ihren Füßen“ ist (wie russische Aktivisten der radikalen Linken schreiben1). Und sie verhängen vor allem einen „Ausnahmezustand“ und „Antiterrormaßnahmen“, von denen man mit gutem Grund annehmen kann, dass sie in erster Linie darauf abzielen, jede mögliche Reaktion und Manifestation der Bevölkerung zu verhindern und zu unterdrücken.

Die Paradoxien der ukrainischen Militäroffensive

Markiert der ukrainische Militäreinfall einen Wendepunkt im Krieg? Niemand kann im Kaffeesatz lesen, und an der Ungleichheit der beiden Kriegsparteien in Bezug auf verfügbare Truppenstärke und Material hat sich nichts geändert. Selenskyjs Armee hat eine spektakuläre Offensive inszeniert, während sie im Donbass als in großen Schwierigkeiten befindlich dargestellt wurde, wo unter anderem die Stadt Pokrowsk dabei ist, in die Hände einer russischen Armee zu fallen, die langsam aber sicher vorrückt und seit Januar dieses Jahres „weitere 66.000 km2 ukrainischen Territoriums gefressen hat, also doppelt so viel wie im gesamten Jahr 2023“, wie Le Canard enchaîné am 7. August schreibt (allerdings zum Preis von vielleicht 1000 Toten an manchen Tagen).

Besitzt Selenskyjs Regime trotz dieses russischen Drucks, den es nicht abzuwehren vermag, die Kraft für eine Offensive auf russischem Boden? Oder hat sein Generalstab eine punktuelle Taktik gewählt, um von den russischen Kräften, die in den Donbass vorrücken, so viel wie möglich abzulenken? Oder geht es darum, die Moral der Bevölkerung, die diesen Krieg immer schlechter erträgt, durch den Bluff eines punktuellen Mini-Erfolgs zu heben? Ist diese Phase ein Schritt in Richtung einer höheren Eskalationsstufe, oder handelt es sich ganz im Gegenteil um einen Überraschungscoup, um bei baldigen Verhandlungen über eine Beendigung des Konflikts Einfluss zu gewinnen? Einige Gebiete, die in den Medien bereits als „Pufferzone“ bezeichnet werden, abzutrennen und zu besetzen, würde es ermöglichen, bei künftigen Verhandlungen um sie zu feilschen, wobei „künftig“ ein paar Wochen, Monate oder Jahre bedeuten können, in denen die ukrainische und die russische Bevölkerung weiter sterben und leiden werden.

Eskalation als Vorbote von Verhandlungen auf dem Rücken der Völker?

Denn es ist immer mehr von Verhandlungen die Rede, vor dem Hintergrund, dass die Hilfe der USA und ihrer NATO-Verbündeten seit Monaten relativ zurückgeht, auch wenn sie nach wie vor sowohl quantitativ als auch „qualitativ“ beträchtlich ist. Von Anfang an war die Hilfe für die Ukraine auf Seiten der westlichen Großmächte zugleich bedingungslos als auch geschickt bemessen, um Russland zu zermürben, ohne direkt mit ihm in Konflikt zu geraten. Daher dieses ewige Spielchen, das die Eskalation begleitete. Ungeachtet der Appelle von Selenskyj wollten diese Mächte keine Panzer liefern und lieferten dann doch welche. Sie wollten keine Kampfflugzeuge liefern, haben es aber doch getan oder beginnen gerade damit, da in den letzten Tagen F16-Jets in der Ukraine eingetroffen sind. Biden und Scholz hatten Selenskyj verboten, den Konflikt mit bestimmten Raketen auf russischen Boden zu tragen, aber er hat es doch getan (es sei denn, er wird freigesprochen, weil er dabei nicht die geächteten Langstreckenraketen eingesetzt hat – alle sind jesuitisch!2). Und er hat es getan, ohne dass die westlichen Verbündeten protestiert haben, sie haben eher, wenn auch vorsichtig, applaudiert.

Nach Hunderttausenden von Toten (mindestens 150.000 russische Soldaten, 70.000 ukrainische Zivilist:innen und Militärs, laut sehr groben Schätzungen in der Presse) beginnt man, über Verhandlungen zu sprechen. Selenskyj selbst bezog sich am 1. August in einem Interview mit mehreren großen französischen Zeitungen (darunter Le Monde und Libération) ausdrücklich auf die Teilnahme an einem „Verhandlungstisch“ mit Vertreter:innen Russlands und stellte klar: „… und dort werden alle unsere Bedingungen gestellt. Das bedeutet nicht, dass wir in genau diesem Moment unsere Grenzen von 1991 wiedererlangen werden. Doch ich bin der Ansicht, dass ein gerechter Frieden für die Ukraine darin besteht, unsere territoriale Integrität wiederzuerlangen, aber das bedeutet nicht, dass dies nur mit Waffengewalt geschehen muss […] wir werden diese Fragen auf diplomatischem Wege lösen können, wenn Russland es will.“

Verschärfung des Krieges und Vorspiel zu Verhandlungen schließen sich nicht aus. Heute erkennen alle Kommentator:innen und die Protagonist:innen selbst (einschließlich Putin in einer kürzlich veröffentlichten Erklärung) an, dass die letzten entrissenen Gebiete, die letzten gemachten Gefangenen, zu wertvollen Objekten künftiger Feilschereien und Tauschgeschäfte werden können. Auf dem Rücken der dort lebenden Bevölkerungen.

Kampf gegen den Imperialismus

Dieser Krieg in der Ukraine, mitten im Herzen Europas, wird immer unerträglicher. Er dauert nun zweieinhalb Jahre aufgrund von Putins kriegerischer Invasion im Februar 2022, aber eigentlich seit mehr als zehn Jahren, wenn man seine Anfänge im Frühjahr 2014 berücksichtigt, als Russland die Krim annektierte und die ersten bewaffneten Auseinandersetzungen im Donbass begannen (bei denen bereits fast 13.000 Menschen getötet worden waren). Eine Tragödie für die Ukraine, die ihre völlig zerstörten Städte, Millionen von vertriebenen und ins Exil getriebenen Ukrainer:innen (mehr als zehn Millionen Vertriebene, von denen mehr als sechs Millionen ins Ausland geflohen sind) kaum noch zählen kann. Auch eine Million Russ:innen waren gezwungen, ins Exil zu gehen, und waren gewaltsamen Repressionen ausgesetzt. Die russischen Truppen des Autokraten Putin müssen sich aus der Ukraine zurückziehen! Das ukrainische Volk muss über sein Schicksal entscheiden können. Die USA und ihre NATO-Verbündeten müssen sich mit all ihren Waffen aus Osteuropa (und dem Rest der Welt) zurückziehen und aufhören, den Profiten ihrer kapitalistischen Magnaten – sowohl derjenigen, die Waffen verkaufen, als auch derjenigen, die sich bereits um die Aufträge für den Wiederaufbau bewerben – zu dienen, während sie vorgeben, der ukrainischen Bevölkerung zu helfen!

Nur eine Politik der Klassenunabhängigkeit wäre ein Ausweg, von dem wir allerdings weit entfernt sind, da die von oben orchestrierten Nationalismen dominieren: Eine Politik, die das genaue Gegenteil von Selenskyjs Politik wäre, der die Ausgebeuteten und Unterdrückten der Ukraine glauben lässt, dass sie durch die zunehmende Aufrüstung durch die imperialistischen Mächte gerettet werden könnten. Eine Politik, in der diese Ausgebeuteten und Unterdrückten auf ihre eigenen Kräfte zählen, um weltweite Solidarität hervorzurufen und die russische Armee durch Aufrufe zur Verbrüderung zu zersetzen – denn diese Armee besteht aus Arbeitenden, die zu den Ärmsten des Landes gehören.

Michelle Verdier, 16. 8. 2024

Fußnoten:

1 Telegram-Kanäle von Oppositionellen aus der entschiedenen Linken („Nein zum Krieg“) oder der radikalen Linken veröffentlichen interessante Informationen. Siehe den Artikel einer (internationalistischen) Kommunistischen Partei Russlands, dessen Übersetzung wir im Folgenden veröffentlichen [nicht auf Deutsch übersetzt].

2 In dem Interview mit Le Monde und Libération vom 1. August erklärte Selenskyj jedenfalls: „Die russischen Streitkräfte befinden sich 50 Kilometer von unserer Grenze entfernt und sie wissen, dass wir nicht das Recht haben, auf sie zu schießen. Das bereitet uns Kopfzerbrechen. Aber wir haben keine Wahl, denn wenn wir [in Russland] die von unseren Partnern gelieferten Waffen einsetzen, könnten diese sich weigern, uns in Zukunft zu unterstützen.“ Selenskyj hat sich offenbar nicht allzu sehr den Kopf über dieses „Kopfzerbrechen“ zerbrochen.

[Dieser Artikel erschien zuerst am 16. August 2024 auf der website der französischen Neuen Antikapitalistischen Partei – NPA Revolutionnaires: Incursion militaire ukrainienne en Russie : un tournant ?]

Beitragsbild: 900 Tage „Spezialoperation“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert