Tarifkampf im Öffentlichen Dienst – Wie eine Schlichtung die Streikdynamik kaputt macht

In den letzten Monaten beteiligten sich Hunderttausende Beschäftigte in ganz Deutschland an Warnstreiks des Öffentlichen Dienstes von Bund und Kommunen. Über 2,5 Millionen Beschäftigte sind von diesem Tarifvertrag TVÖD betroffen. In der Nacht zum 23. April wurde dann eine Einigung verkündet, die im Wesentlichen dem Ergebnis eines Schlichtungsverfahrens entspricht, mit dem ab dem 6. April die Streiks ausgebremst wurden.

Dabei hatte der Streiktag am 27. März, der sogenannte Megastreik im Verkehrssektor, noch gezeigt, wie viel gesellschaftlichen Druck die Arbeitenden aufbauen können, um ihre mehr als berechtigten Forderungen durchzusetzen. Die Eisenbahngewerkschaft EVG hatte zeitgleich mit ver.di1 zum Warnstreik aufgerufen.

Die Forderungen

Ver.di ist in diese Lohntarifrunde mit der Forderung von 10,5 %, aber mindestens 500 Euro mehr gestartet bei einer Laufzeit von 12 Monaten. Im Vorfeld hatten Kolleg:innen an der Basis angesichts der drastischen Preissteigerungen bei Lebensmitteln, Energie usw. teilweise deutlich mehr gefordert. So z. B. die Berliner Krankenhausbewegung eine Erhöhung von 19 % bei einem Mindestbetrag von 500 Euro. Zudem sollten im Schichtdienst endlich die Pausen als Arbeitszeit gewertet werden, um so auch das Thema Arbeitszeiten wieder zum Inhalt von Tarifverhandlungen werden zu lassen.

Langweilige Verhandlungen …

Zur ersten Verhandlungsrunde lagen zwar die Forderungen der Beschäftigten auf dem Tisch, aber die Gegenseite erschien ohne jedes Angebot. Grund genug, Druck zu erzeugen und zu verdeutlichen, dass die Forderungen von sehr vielen Beschäftigten getragen werden. Die ersten Warnstreiks begannen. Das nun folgende Angebot der Chefs saß – als schallende Ohrfeige für die Beschäftigten. Geboten wurden: eine Lohnerhöhung von 5 % in zwei Schritten beginnend ab dem 01.10.2023 (!) garniert mit 2 Einmalzahlungen von insgesamt 2.500 Euro. Dies bei einer Laufzeit des Vertrages von 27 Monaten.

Bundesweit wurden die Streiks nun ausgeweitet. Aber noch immer wurde zu versetzten Streiktagen aufgerufen. Selbst in einem einzelnen  Bundesland streikten nicht alle dem TVÖD unterliegenden Belegschaften zeitgleich und es blieb bei jeweils einem oder zwei zusammenhängenden Streiktagen. Gerade für Krankenhäuser ist diese Streikform sehr schwierig umzusetzen, da die Schließung von Klinikeinrichtungen oder Patientenbetten im Rahmen eines Streiks einen mehrtägigen Vorlauf benötigt. Die in den Streiks Aktiven sahen durchaus, dass sie nicht alleine dastehen mit dem Problem, dass oft genug am Ende des Monats der Lohn nicht mehr reicht, und forderten gemeinsame Streiktage z. B. mit den Bahner:innen der EVG. Bei einer Versammlung der Berliner Streikbewegung wurden auch gemeinsame Streiktage mit Lehrer:innen gefordert, die einen Tarifvertrag Entlastung durchsetzen wollen. Ein Thema, welches dem Krankenhauspersonal bestens vertraut ist.

Am 27. 3. 2023 begann die dritte Verhandlungsrunde. Endlich die Gelegenheit für einen gemeinsamen Streiktag mit den Kolleg:innen bei den Bahnen. Bundesweit kamen der Fernverkehr und weite Bereiche des ÖPNV zum Erliegen. Doch es gab kein neues Angebot und ver.di erklärte die Verhandlungen für gescheitert.

Verhandlungen gescheitert – wie ging es weiter?

Die Bundesregierung und die VKA2 haben das Schlichtungsverfahren eingeleitet, zu dem ver.di sich in einer langjährigen Vereinbarung verpflichtet hat. So begann die mit dem Verfahren verbundene Friedenspflicht. Die Kolleg:innen, die sich gerade warm gelaufen hatten, waren erst mal wieder gezwungen, ihre Wut über die Nichtangebote in sich hinein zu fressen.

Seit Beginn der Tarifrunde im Januar waren schon viele Wochen und Monate vergangen, in denen die Inflation den Reallohn erheblich schmälert und viele Kolleg:innen auf Erspartes zurückgreifen müssen, um den Lebensunterhalt stemmen zu können.

„Die Schlichtung hatten wir nicht auf dem Schirm“

Das sagten viele bei den Streiks Aktive, als sie bei Nachfragen zum weiteren Zeitplan von ihr hörten. Das ist nicht verwunderlich, denn in Deutschland gab es noch nicht oft die Situation, dass ein Erzwingungsstreik, also ein unbefristeter Vollstreik im Öffentlichen Dienst im Raum steht. Und so ist diese Vereinbarung, die zuletzt im Jahre 2011 erneuert wurde, vielen einfach nicht präsent gewesen. Trotzdem gab es schon vor Monaten Anträge in der Gewerkschaftsbasis, diese Vereinbarung umgehend zu kündigen. Doch ist das von der Gewerkschaftsbürokratie offenbar nicht gewollt. Die Schlichtungsvereinbarung war eine Reaktion auf einen erfolgreichen Streik … im Jahre 1974!

Im Februar 1974 legten die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes erstmals in einem Erzwingungsstreik große Teile des öffentlichen Lebens lahm. Etwa 190.000 Kolleg:innen vor allem aus dem ÖPNV und von den Entsorgern beteiligten sich an dem Ausstand und setzten innerhalb von 3 Tagen eine Lohnerhöhung von 11 % durch. Diese Dynamik sollte sich nicht wiederholen, deshalb die Schlichtungsvereinbarung. Eine Schlichtung mag nur eine einige Wochen dauernde Unterbrechung einer Dynamik in einem Arbeitskampf sein, aber sie bietet den Chefs gute Gelegenheit, sich besser auf einen Arbeitskampf einzustellen, diesen in seiner Wirkung abzuschwächen, gegen die Streikenden zu hetzen, Einfluss auf führende Köpfe in den Gewerkschaften zu nehmen usw.

Der nächste flächendeckende Streik im Öffentlichen Dienst fand dann erst 1992 statt. Über 300.000 Beschäftigte legten die Arbeit nieder.  Diesmal wurde die Schlichtung eingeleitet. Trotzdem lehnten die Kolleg:innen das Ergebnis in einer Urabstimmung mit nur 44 % Zustimmung ab. Damals wären nach Gewerkschafts-Satzung 50 % zur Annahme nötig gewesen. Es gab erneute Verhandlungen und und kleinere Verbesserungen, ohne dass der während der Schlichtung unterbrochene Streik wieder aufgenommen wurde. Im Anschluss änderte die Gewerkschaft (damals ÖTV) ihre Satzung und es genügten fortan 25 % Zustimmung zur Beendigung eines Arbeitskampfes.

Aber nun haben wir 2023 und 500.000 Kolleg:innen haben sich an den Warnstreiks beteiligt. Mehr Mitglieder der Gewerkschaft wollten sich in die Entscheidungen einbringen und ihren Streik z. B. als Teamdelegierte auch selbständiger organisieren. Über 50.000 Kolleg:innen sind neu der Gewerkschaft beigetreten.

Ein fauler Kompromiss

Am 15. April kam die „Einigungsempfehlung der Schlichtungskommission“ heraus, die am 22. April dann quasi 1:1 übernommen wurde. Die Laufzeit beträgt zwei volle Jahre. Die erste Lohnerhöhung, die dauerhaft („tabellenwirksam“) erhalten bleibt, soll erst im März 2024 (!) kommen, in Höhe von 200 Euro plus 5,5 %, was laut ver.di durchschnittlich 11,5 % entspricht. Bis dahin gibt es steuerfreie Einmalzahlungen als „Inflationsausgleich“. Auf die haben sich die Gewerkschaftsführungen mit Unternehmensverbänden und Regierung in ihrer sogenannten „konzertierten Aktion“ verständigt und seitdem stehen sie in vielen Tarifabschlüssen. Uns wird suggeriert, dass in diesem Jahr die Einmalzahlungen die gestiegenen Preise ausgleichen und im nächsten Jahr dann die tabellenwirksame Lohnerhöhung. Aber im nächsten Jahr müsste dann schon die Inflation von 2 Jahren ausgeglichen werden, damit die Reallöhne am Ende nicht gesunken sind! Die offizielle Inflationsrate 2022 war 7,9 %, für 2023 sind 6 % prognostiziert und niemand weiß, wie es weitergeht. Wenn also ver.di-Chef Werneke jetzt wegen durchschnittlich 11,5 % von der „größten Tarifsteigerung in der Nachkriegsgeschichte im öffentlichen Dienst“ spricht, so will er einen schlechten Kompromiss schön reden.

Das hat er nötig, denn bei vielen, die sich in den letzten Wochen auf einen Erzwingungsstreik vorbereitet haben, ist die Wut über die Annahme des Schlichterspruchs groß. Ver.di führt noch eine Mitgliederbefragung durch, ehe am 15. Mai die Tarifkommission endgültig über die Annahme des Ergebnisses entscheidet. Es gibt allen Grund, in dieser Befragung mit „Nein“ zu stimmen!

Havannas Obst und Richard Lux. Berlin

Fußnoten:

1 Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft

2 Vereinigung kommunaler Arbeitgeberverbände

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