Wegen der massiven Preissteigerungen haben die Gewerkschaften in Österreich Mitte September zu Demonstrationen aufgerufen. Die Herbstlohnrunde, bei der neue Kollektivverträge1 für etliche Branchen verhandelt werden, ist in vollem Gange. Was taugen die Forderungen der Gewerkschaften und ihre Strategie?
Für Samstag, den 18. September, hatte der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) unter dem Motto „Preise runter!“ zu Demonstrationen in etlichen Städten Österreichs aufgerufen. Laut Veranstalter nahmen 32.000 Menschen teil, real war es nur ein Bruchteil davon. Auch wenn die massiven Preissteigerungen im Alltag und im Bewusstsein vieler Menschen ganz klar angekommen sind, spiegelt sich das bisher nicht in Protesten oder der Mobilisierungsfähigkeit des ÖGB wider.
Die Gewerkschaften verlieren ohne vorzeigbare Erfolge und mit sinkenden Mitgliederzahlen immer mehr an Bedeutung und Einfluss. Und statt für höhere Löhne zu kämpfen, kopiert der sozialdemokratisch dominierte ÖGB weitgehend die Forderungen der Sozialdemokratischen Partei (SPÖ): Man beschränkt sich auf zahnlose Appelle an die Regierung für staatliche Eingriffe zur Preisregulierung. Warum selbst kämpfen? Einfach ÖGB-Mitglied werden und SPÖ wählen!
Tradition verpflichtet
Die Schwäche des ÖGB ist weitgehend hausgemacht. Sie ist Ergebnis der bevormundenden Stellvertreterpolitik, bei der der bürokratische Apparat vorgibt unsere Probleme für uns zu lösen. Aktive Beteiligung ist nur in absoluten Notfallsituationen vorgesehen, um bei den Belegschaften Dampf abzulassen oder wenn man Regierung und Kapital doch ein bisschen ärgern will. Wie etwa bei den letzten wirklich großen Demonstrationen des ÖGB 2003 gegen die Pensionsreform und 2018 gegen die Einführung des 12-Stunden-Arbeitstags. Wie so oft wurde auch damals den jeweils (über) 100.000 Teilnehmenden kämpferisch versichert, das sei erst der Anfang und man werde weiterkämpfen – und dann: passierte nichts mehr.
Die sehr niedrigen Streikzahlen in Österreich gelten dem ÖGB als Beleg für eine funktionierende Sozialpartnerschaft – sehr zur Freude von bürgerlichen Politiker:innen und Unternehmer:innen. Die haben die Sozialpartnerschaft ohnehin bereits immer weiter aufgekündigt und brauchen trotzdem keine Angst vor Streiks und Protesten zu haben. Die Arbeitenden selbst sind dabei nicht mehr als Schachfiguren, die auf Kommando springen und dann auf ihren Plätzen auf weitere Befehle warten sollen. Seit Jahrzehnten hat die Gewerkschaftsbürokratie den Arbeitenden ihren Aktivismus ausgetrieben, doch heute jammert sie über die (angeblich) mangelnde Streikbereitschaft. Statt Kampfkraft aufzubauen, gibt es scheinradikale Reden, leere Drohungen und Handlungsappelle an die Politik.
Staatliche Fürsorge statt Klassenkampf
Kein Wunder also, dass der ÖGB sich heute ganz klar auf die Forderung „Preise runter!“ fokussiert. Man will etwa die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel, Treibstoff und Öffi-Tickets für einige Zeit aussetzen, sowie einen Energiepreisdeckel und eine Inflationsanpassung staatlicher Sozialleistungen. Wer das zahlen soll? Außer einer Abschöpfung der „Über“gewinne einzelner Energiekonzerne, fällt dem ÖGB dazu nichts ein. Reichensteuern? Enteignungen? Fehlanzeige!
Die Bundesregierung aus ÖVP und Grünen hat ein unzureichendes und absurdes Flickwerk an Maßnahmen gegen die Teuerungen zusammengeschustert. Der ÖGB fordert jetzt de facto: „Mehr desselben – und irgendwie besser“. Diese zahnlosen Appelle an die Politik dienen auch dazu, die Erwartungen an die Herbstlohnrunde zu dämpfen: statt höhere Löhne zu erstreiken, soll der Staat die Reallohnverluste irgendwie ausgleichen.
Die Herbstlohnrunde starten traditionell die Metaller:innen, deren Abschluss als Richtwert für andere Branchen gilt. Die geforderten 10,6 % Lohnplus bedeuten angesichts der massiven Preissteigerungen schnell einen Reallohnverlust – und müssten auch erst erkämpft werden. Da die Gewerkschaftsführung ohnehin nicht vorhat zu kämpfen, liegt es an den Arbeiter:innen selbst, ihren Lebensstandard zu verteidigen und einen Weg aus den Krisen des Kapitalismus zu finden.
Johannes Wolf, Wien
1 In Deutschland: Tarifverträge