Proteste im Iran: „Diese Bewegung wird sich nicht verlaufen“

Seit nunmehr fast einem Monat toben die Proteste im Iran, ausgelöst durch den Tod von Mahsa (oder ihr kurdischer Geburtsname Jina) Amini am 16. September in Teheran. Die junge Frau war von der iranischen Sittenpolizei verhaftet worden, mit der Begründung, sie würde den Hidschāb nicht korrekt tragen1. Zwei Stunden nach ihrer Verhaftung wurde sie in ein Krankenhaus eingeliefert, in dem sie drei Tage später starb. Die Begründungen von offizieller Seite sind haarsträubend wirr. Doch es ist allen völlig klar: Jina Amini ist an Hirnblutungen gestorben, hervorgerufen durch die gewaltsame Festnahme, bei der die Polizisten ihr auf den Kopf schlugen und sie traten. Welcher Gewalt sie dann noch in der Polizeistation ausgesetzt war, kann man nur erahnen.

Wenige Tage später kam es zu den ersten großen Demonstrationen in Teheran und kurz darauf breiteten sie sich über das ganze Land aus. Von Beginn an ging die Polizei brutal gegen die Demonstrant:innen vor, doch die Menschen – vor allem junge Frauen und Männer – ließen sich nicht einschüchtern. Frauen verbrennen ihre Kopftücher auf offener Straße, schneiden sich die Haare ab. Bilder, die wenige Tage vorher noch niemand für möglich gehalten hätte. Diese Entwicklungen zeigen klar, dass das Schicksal von Jina Amini kein Einzelfall ist, es alle betrifft und betroffen macht. Denn der iranische Staat diktiert die Kleiderordnung von Frauen und manifestiert darin einen Teil seiner weitreichenden Unterdrückung.

Ein Pulverfass explodiert

Das politische System im Iran ist seit 1979 eine islamistische Diktatur, deren Oberhäupter (Führer Ajatollah Ali Chamenei und Präsident Ebrahim Raisi) das System sichern durch eine vielschichtige Unterdrückung weitreichender Teile der Gesellschaft: Frauen und LGBTQI+-Personen, nationale Minderheiten, Gewerkschafter:innen und alle, die Kritik an diesem Staat äußern. Doch aktuell kann dieser Zustand nicht mehr länger aufrechterhalten werden. Die Bevölkerung lehnt sich auf, und das nicht zum ersten Mal.

Erst 2019 gab es massive Proteste, damals waren der Auslöser die Benzinpreise, die binnen kürzester Zeit um 50 bis 200 % stiegen. Das war der Gipfel einer langen Reihe von Streiks und kleineren Aufständen seit 2016.

Mit der Wahl von Donald Trump als US-Präsidenten und dem damit verbundenen Ausstieg der USA aus dem Wiener Nuklearabkommen verschärften sich die Sanktionen gegen den Iran wieder – mit enormen Auswirkungen auf die dortige Arbeiter:innenklasse. Lebensmittelpreise stiegen, Staatsgelder wurden zurückgehalten, die Lebenshaltungskosten wurden unbezahlbar. Immer wieder streikten Lehrer:innen, Ölarbeiter:innen, Busfahrer:innen und viele andere. Es ging um Korruption, Misswirtschaft, hohe Lebensmittelpreise, Wasserknappheit. Und schon damals ging die Regierung brutal gegen die Demonstrant:innen vor. Es starben Hunderte Menschen, das Internet war über Wochen kaum oder gar nicht zu erreichen, Tausende Menschen wurden verhaftet. Jedoch blieben diese Proteste immer weitestgehend regional, vernetzten sich kaum und konnten sich nicht endgültig zu einer gemeinsamen Bewegung über das ganze Land ausweiten.

Die Erinnerung an die brutale Niederschlagung all dieser Aufstände ist noch immer allgegenwärtig, und durch die immer wiederkehrenden Proteste gibt es eine lange Tradition an Aktivist:innen, die ihre Erfahrungen in den aktuellen Kampf einbringen und gegen die Repression ankämpfen.

„Tod dem Unterdrücker – egal ob Schah oder Oberster Führer!“

Sie haben all die Kämpfe der letzten Jahre nicht vergessen und die Themen sind immer noch die gleichen; allein die Inflation im Iran liegt bei über 40 %. So gehen die Forderungen bei den Protesten jetzt schon lange über die Forderung nach Aufklärung des Todes von Jina Amini hinaus. Der prägende Ruf dieser Bewegung ist „Frau, Leben, Freiheit“: Entnommen aus der kurdischen Befreiungsbewegung eint er in sich alles, was die Menschen auf die Straße treibt.

Weiterhin riskieren Tausende ihre Leben, Hunderte Menschen wurden schon von Militär und Sicherheitskräften ermordet. In den Regionen, wo besonders viele Kurd:innen im Iran leben, gingen die Proteste so weit, dass die Regierung gezielt mit Drohnen bombardierte. Und auch wenn das Regime versucht, öffentliche Informationen über die Lage durch Kontrolle und das gezielte Abschalten des Internets zu begrenzen, verbreiten sie sich wie ein Lauffeuer im ganzen Land. Binnen weniger Wochen hat sich die Situation immer weiter verschärft – auch für die Regierung. Denn die Kampferfahrung der letzten Jahre bewährt sich nun. Es kam zu immer heftigeren Protesten an Universitäten, die Studierenden und Professor:innen taten sich zusammen und streikten. Bei den letzten Bewegungen hielten sich Studierende häufig im Hintergrund, aus Angst, den Studienplatz zu verlieren, doch nun ist diese Angst verschwunden. Es folgten Proteste an einigen Hundert Schulen landesweit. Nun erreichen uns auch immer mehr Meldungen von Streiks, zum Beispiel in Raffinerien, und auch die Lehrer:innen rufen zu einem landesweiten Streik auf.

Die Energie der Bewegung und die Beteiligung Aller scheint für Ajatollah Ali Chamenei und Präsident Ebrahim Raisi und ihr ganzes System nun tatsächlich gefährlich zu werden. Auf Twitter mehren sich die Berichte von ermüdeten Polizisten, die auch nicht mehr Teil des sinnlosen Mordens sein wollen. Bestätigen lassen sich diese bisher noch nicht, aber man kann es hoffen.

Auch lässt sich hoffen, dass die Proteste ihre Wege über die Grenzen finden. Denn die Gewalt gegen Frauen und ihre brutale Unterdrückung, aber auch die explodierenden sozialen Probleme, sind überall auf der Welt allgegenwärtig – ganz besonders im Nachbarland Afghanistan, das seit nunmehr einem Jahr von den Taliban regiert wird und wo die Stellung der Frauen sich seither radikal verschlechtert hat. Frauen dürfen kaum noch zur Schule, die meisten können keinen Beruf ausüben. Ziel ist es, sie aus der Gesellschaft verschwinden zu lassen. Nachdem am 30. September in Kabul ein Selbstmordattentat an einer Schule verübt wurde, bei dem vor allem junge Frauen starben, kommt es aber auch dort landesweit zu Demonstrationen von Frauen, die ihre Selbstbestimmung fordern. Es ist wenig verwunderlich, dass auch hier die Sicherheitskräfte der Taliban bemüht waren, die Proteste brutal niederzuschlagen. Aber der Iran ist nah und die Forderungen haben die Grenze schon überwunden und werden hoffentlich noch weitere überschreiten. Denn mit einer gesamtgesellschaftlichen Bewegung, Streiks und der Verbindung mit den Protesten von Frauen* und unterdrückten Minderheiten kann das Regime im Iran oder in Afghanistan gestürzt werden.

Auch weltweit finden zahlreiche Demonstrationen statt, die sich mit der Bewegung im Iran solidarisieren.

Die deutsche Regierung als stille Komplizin?

Es ist ebenso wichtig, die Politik der westlichen Länder zu kritisieren: Noch immer werden Menschen unter Gefährdung ihres Lebens und ihrer Unversehrtheit aus Deutschland in den Iran abgeschoben – das muss sofort gestoppt werden. Genauso wie Menschen, die es schaffen, aus dem Iran nach Deutschland zu fliehen, volles Bleiberecht bekommen müssen! Nach 4 Wochen sehr leiser Kritik am iranischen Regime bereitet die deutsche Regierung nun mit anderen EU-Staaten neue Sanktionen vor – diese schadeten bisher vor allem den Arbeiter:innen und der armen Bevölkerung im Iran. Was man nun über die geplanten Sanktionen hört, ist wiederum beeindruckend unbeeindruckend: Vermögenswerte einzelner „Verantwortlicher“ im Ausland werden eingefroren und Einreiseverbote verhängt. So verhindert man sicher nicht, dass das Morden im Iran weitergeht. Dem europäischen Imperialismus liegt im Gegenteil viel an den Wirtschaftsbeziehungen. Und sicherlich treibt die westlichen Regierungen auch die Angst um, dass dieser Aufstand ansteckend wird und die ganze Region mit sich reißt.

Die iranische Bevölkerung lässt sich auf jeden Fall nicht mehr einschüchtern: „Diese Bewegung wird sich nicht verlaufen“ sagt Sarah, eine Studentin aus Teheran.

Maria Brücke, Berlin

1 Damit ist gemeint, dass das Kopftuch die Haare bedeckt.

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