
Roman von Marius Goldhorn (2025)
Im August ist ein Buch über „eine soziale Revolution in der Hauptstadt Europas“ erschienen. „Die Prozesse“ ist der zweite Roman von Marius Goldhorn, der sich als Anarchist versteht. Wer eine Anleitung zur Mobilisierung der Massen oder eine hoffnungsvolle Perspektive zur Überwindung des Kapitalismus erwartet, wird enttäuscht. Die mitreißende und literarisch beeindruckende Erzählung drängt jedoch die entscheidende Frage auf, wie man sein Leben gestaltet – in einer sich im Niedergang befindenden Welt.
Brüssel, 2030: Nach dem Bekanntwerden schrecklicher Gräueltaten in libyschen Lagern kommt es während eines Gedenkens an die kolonialen Verbrechen Belgiens zu einem Aufstand. Das Museum für Europäische Geschichte wird besetzt. Aus der Besetzung entsteht eine Kommune. Zusammenhänge und die konkrete Politik werden nicht erklärt. Im gesamten Buch gibt es kaum Nebensätze. Der Text wirkt einfach, doch der Autor überlässt nichts dem Zufall. Seine Figuren dagegen verkörpern Passivität, obwohl der Ich-Erzähler T. sogar zum Kommunarden wird.
Der Roman widersetzt sich dem Erzählmuster der Heldenreise, bei dem die Hauptfigur aus ihrem Alltag herausgerissen wird, Abenteuer besteht und verändert zurückkehrt. Dieser Text entsteht durch beobachten, dokumentieren, sammeln und arrangieren. Das sind auch die Haupttätigkeiten der beiden Protagonisten. Der Text selbst und die schreibenden Figuren beweisen die Ambivalenz dieses Prinzips der Gestaltung. Man kann kraft des Schreibens sowohl Ideen verbreiten als auch zu sich selbst finden. Doch zwanghaftes Sammeln und Dokumentieren führt dazu, sich in sich selbst zurückzuziehen. Ezra, der Partner von T., schreibt über das Aussterben und „… gab alle Ambitionen auf. Der Mensch wurde zu einer Gestalt aus Worten, Sprechen, reiner Sprache. Jedes Sprechen über Hoffnung, Revolutionen, Projektionen, Zukunftspläne fand er schrecklich.“
T. behauptet zwar, er möchte Ezra ein „aktives Leben“ zeigen, kommt aber zu dem Schluss, man könne ihn nicht beeinflussen. Tatsächlich versucht T. gar nicht, Einfluss zu nehmen. Ezra ist krank, T. kümmert sich um ihn. Doch es gibt keine offenen Gespräche, keine Verbindung, sie entfernen sich immer weiter aufgrund der Ereignisse, die sie unterschiedlich einschätzen.
Auch die Kommunarden verkörpern keine kämpfenden Subjekte, sondern „von ihrer Existenz draußen“ Erschöpfte, die versuchen, im Zusammenbruch zu bestehen: „‚Wir Kommunarden sind in etwas eingespannt, das größer ist als wir selbst‘, sagte sie, während ich abwusch. ‚Aber was es ist, das wissen wir nicht. Wir leben in der Kommune ein anderes Leben. Wir wollen überdauern.‘“ Der Roman fokussiert nicht die Bedingungen revolutionärer Möglichkeiten, sondern bleibt teilnehmende Beobachtung.
„Drinnen“ und „Draußen“ bleiben getrennt, kollektives Geschehen erlebt man nur am Rande. Der Roman gründet auf der Sehnsucht, mit sich selbst und anderen in Verbindung zu sein. Die Kommune bietet dies zunächst in Form eines anderen gemeinschaftlichen Lebens an. Doch auf gesellschaftlicher Ebene ist das Ergebnis nicht aktive Ausbreitung der Kommune und Verbundenheit mit dem Rest der Bevölkerung, sondern Isolation.
Die Kommune ist in Räten organisiert, eine klassische sozialistische Idee, die kollektive Verantwortung und Demokratie ermöglichen soll. Doch innerhalb der Kommune gibt es eine Gruppe von Menschen, die über Privilegien verfügt. Der Text bestärkt Argumente dagegen, sein Leben einer besseren Welt zu verschreiben. Eine Rezension behauptet dazu, in jeder Utopie stecke Fanatismus. Aber weder der Roman noch Sozialismus sind Utopien. Sozialismus ist eine Kampfstrategie – der Versuch, die materiellen Bedingungen der Gesellschaft zu verändern, statt sich in Räumen des Rückzugs einzurichten. Im Roman entsteht zwischen der resignierten Beobachtung seiner Figuren und der ungestellten Frage nach nachhaltiger Veränderung jedoch eine Leerstelle, die auch den Ausgangspunkt einer aktiven Suche nach Antworten darstellen kann.
Diala Zorn, Düsseldorf
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