Broschüre: Victor Serge – Die Anarchisten und die Erfahrung der Russischen Revolution

Der folgende Text ist eine eigene Übersetzung aus dem Französischen

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Vorwort

Die folgende – zu skizzenhafte und zu schematische – Untersuchung wurde im Jahr 1920 schnell zu Papier gebracht, im Anschluss an lange und lebhafte Diskussionen mit Aktivisten, die anlässlich des zweiten Kongresses der Kommunistischen Internationale nach Russland gekommen waren, insbesondere mit den Genossen Lepetit, Vergeat, Pestana und Armando Borghi. Mir scheint es, dass all diese Genossen mit mir bezüglich der Ideen, die auf diesen Seiten zum Ausdruck gebracht werden, weitestgehend übereinstimmten. Seither hatten andere, weniger bekannte französische und spanische Libertäre, die ins rote Russland gekommen sind, Gelegenheit mir ihre Zustimmung zu versichern. So dass mir heute als allgemeine Tatsache erscheint: Die ausländischen Anarchisten, die nach Russland kommen und vor allem diejenigen, die an der Arbeiterbewegung ihrer Ursprungsländer teilhaben, stimmen dem Prinzip der revolutionären Diktatur sofort zu und akzeptieren seine Konsequenzen.

Was die russischen Anarchisten betrifft, so haben mehrere bekannte Aktivisten diesem Prinzip meines Wissens deutlich zugestimmt: Dies sind insbesondere der Genosse Grossman-Rotschin vom „Golos Truda“ [Stimme der Arbeit], ein anarchistischer Syndikalist; Gordin, ein universalistischer Anarchist; Perkus, ein russischer Anarchist, der aus Amerika heimgekehrt ist. Selbstverständlich brauchen hier nicht diejenigen erwähnt zu werden, die der russischen Kommunistischen Partei beigetreten sind.

Seitdem diese Seiten geschrieben wurden, hat sich die ungeheure Erfahrung der ersten sozialen Revolution der modernen Zeit mit unbeugsamer Logik weiter entwickelt. Wir sehen heute das tragische Schauspiel einer sozialen Revolution, die – in Folge der Reglosigkeit der europäischen Völker angesichts einer intelligenten und gut bewaffneten Reaktion – in nationalen Grenzen eingeschlossen ist, in denen sie erstickt, und die mit dem äußeren und inneren Feind umzugehen hat. Wir haben gesehen, wie so manche Fehler begangen wurden, sich Irrtümer herausgestellt haben und vom libertären Standpunkt aus wertvolle Wahrheiten sich bestätigt haben. Mir scheint, dass das libertäre Denken aus dieser neuerlichen Erfahrung eines Jahres aufs Neue gestärkt hervorgeht – unter der Bedingung, dass man nach der Revision der traditionellen Ideen bereit ist, sich auf den Standpunkt des historischen Realismus1 zu stellen – die Bedürfnisse der Massen und die großen wirtschaftlichen und psychologischen Faktoren des internationalen Lebens zu berücksichtigen, deren Entwicklung weit stärker von den Ereignissen als von unseren Bestrebungen und Träumen abhängt.

Denn das ist letztlich die Reform des Anarchismus, die ich mir anzuempfehlen erlaube: Statt eine subjektive Doktrin zu sein, die zu absolut und im Übrigen weitgehend utopisch ist, soll er auf die Realität des Klassenkampfes und dessen praktische Notwendigkeiten zurückgeführt werden – ohne dafür (ganz im Gegenteil!) von seinem moralischen und philosophischen Wert für das Individuum wie für die soziale Bewegung einzubüßen. Er soll aufhören, das Privileg kleinster sektiererischer Gruppierungen zu sein, um zur Größe und zum Reichtum der breiten Arbeiterbewegung beizutragen, die aufgerufen ist, die soziale Umwälzung zu vollbringen und dabei durch die notwendige Etappe des Kommunismus hindurchzugehen.

Nach einem Jahr neuer Erfahrungen müssten viele Dinge dieser zu kurzen und zu skizzenhaften Arbeit hinzugefügt werden. Ich unterbreite sie dennoch in ihrer jetzigen Form den Genossen – da es mir nicht möglich ist, sie zu vervollständigen. In ihren Grundzügen scheint sie mir heute noch wahrer und exakter als noch vor einem Jahr. Denn sie ist umso aktueller, als in mehreren Ländern viele anarchistische Aktivisten glauben, gegenüber der proletarischen Diktatur in Russland eine deutlich feindselige Haltung einnehmen zu müssen, die in den meisten Fällen Ausdruck von einer Unerfahrenheit und einem Traditionalismus ist, die voller Gefahren stecken. Es ist also angezeigt, die hier zusammengefassten elementaren Wahrheiten zu wiederholen: Es geht darum, einen neuen Anarchismus entstehen zu lassen, der in den kommenden revolutionären Kämpfen, anstatt die Situationen zu verkomplizieren und die inneren Konvulsionen der Revolution zu verschlimmern, dazu beitragen wird, den Geist des morgigen Kommunismus zu heben, zu veredeln und aufzuklären.

Es geht darum, der libertären Bewegung des Auslands das Desaster des russischen Anarchismus zu ersparen, der von den Ereignissen vollständig überfordert war, zu deren Höhe er sich nicht aufschwingen konnte, trotz der edlen Kräfte, über die er verfügte.

Schließlich geht es darum, alle Anarchisten aufzufordern, bereit zu sein, mit Ruhe, ohne vorgefasste Meinung, ohne Dogmatismus, die Erfahrung der russischen Revolution zu diskutieren. Und nicht die böswilligen „Kritiken“ (wenn man sie so nennen darf!) für sich zu übernehmen, die die bürgerliche Presse beider Welten ohne Unterlass gegen die Macher der ersten sozialen Revolution vorbringt. Und nicht zu vergessen, dass die Niederlage einer Revolution, für deren Gelingen Menschen (die gewiss, wie alle Menschen, nicht ohne Fehl‘ und Tadel sind) alles getan haben, was menschenmöglich versucht werden konnte, für die gesamte Menschheit eine schreckliche Katastrophe wäre. Die Verantwortung dafür würde in breitem Maße auf diejenigen Revolutionäre zurückfallen, die aus engstirnigem Sektierertum dazu beigetragen hätten, in den schwersten Stunden die Besten der Arbeiter zu spalten und zu demoralisieren.

V. S.

Petrograd, 5. Juni 1921

1Diese hervorragende Bezeichnung verdanken wir dem Genossen Amédée Dunois, der ihr in seiner Untersuchung „Marxismus und Freiheit“ den Vorzug gegenüber „historischem Materialismus“ gibt.

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