Syrisch-Kurdistan (Rojava) als Geisel im Spiel der neuen syrischen Führung und der Großmächte, die sie sponsern

Während die islamistischen HTS-Truppen am 27. November in Idlib aufbrachen, um das al-Assad-Regime zu stürzen, schickte die Türkei ihre Ersatztruppen in Syrien, die SNA (Syrische Nationale Armee, ein Konglomerat syrischer bewaffneter Gruppen mit Verbindungen zur Türkei), nach Manbidsch und Kobanê in der kurdischen Region Syriens mit dem erklärten Ziel, dort ethnische Säuberungen durchzuführen. Am 11. Dezember besetzte die SNA Manbidsch (eine Stadt im Gouvernement Aleppo). Am 15. Dezember griff sie die kurdische Stadt Kobanê nahe der türkischen Grenze an, obwohl die Kurden wiederholt zum Waffenstillstand aufgerufen und die USA versucht hatten, zu vermitteln.

Die Assad-Diktatur, die sich ab 2011 im ganzen Syrien im Krieg befunden hat, hatte diesem syrischen Kurdistan (Rojava) Autonomie gewähren müssen. Der blitzartige Zusammenbruch des al-Assad-Clans mischt die Karten in diesem syrischen Kurdistan (Rojava) neu. Diese autonome Region ist heute etwas größer als Kurdistan allein und wird von einer „Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien“ (AANES) regiert, die von der Partei der Demokratischen Union (PYD) dominiert wird, die wiederum mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verbunden ist. Sie war bereits das Angriffsziel der Türkei gewesen, die Truppen in den Norden Syriens geschickt und diese sogenannte Syrische Nationale Armee (SNA) unter ihrer Kontrolle hat. Mit diesen Hilfstruppen der SNA  will Erdoğans Türkei, die die HTS-Islamisten bei ihrer Offensive auf Damaskus unterstützt und von deren Sieg profitiert hat, nun das kurdische Autonomiegebiet im Norden Syriens loswerden. Das führt zur erzwungenen Flucht tausender Familien, die dem Krieg und den Plünderungen und Übergriffen pro-türkischer Milizionäre entkommen wollen.

Erdoğan, der in der Türkei umstritten ist, versucht die Kurden zu zerschlagen

Wie viele andere Völker auch sind die Kurd :innen heute auf vier Staaten aufgeteilt: im Osten der Türkei, im Norden Syriens und des Irak und im Westen des Iran, wo sie seit Jahrzehnten unter der genwaltvollen nationalen Unterdrückung leiden. Die Türkei unter Erdoğan führt nach einer kurzen Phase der „Öffnung“ durch ein Abkommen mit der PKK im Jahr 2015 (dessen Führer aber weiterhin inhaftiert ist) heute wieder Krieg zur Unterdrückung der Kurd :innen in der Türkei. Wobei „Anti-Terror“-Militäroperationen nicht nur in Türkisch-Kurdistan, sondern auch im Nordirak durchgeführt werden, wo türkische Kurd :innen als Flüchtlinge leben.

Die Verwurzelung der kurdischen PYD südlich ihrer Grenzen in Syrien, die Errichtung einer autonomen und militärischen Zone unter der Führung dieser kurdischen Partei, die als Rückzugsgebiet der PKK und als Modell für die Kurden in der Türkei dienen könnte, wird von Ankara als Bedrohung wahrgenommen. Durch die Zerstörung von Rojava und die Annexion eines Streifens entlang der türkisch-syrischen Grenze will Erdoğan eine „Pufferzone“ zwischen syrischen und türkischen Kurden schaffen. Und warum nicht auch einen Teil der drei Millionen Syrer, die heute in die Türkei geflohen sind, abschieben und in dieser Region ansiedeln. So wie es in der Region Afrin der Fall war, die 2019 gegen die Truppen von Rojava erobert wurde, wo die Türkei damals bereits einen Teil dieser Flüchtlinge umgesiedelt hatte.

Wer wird Rojava retten?

Bislang kann der Widerstand der SDF (Demokratische Kräfte Syriens, die Truppen der von der PYD geführten autonomen Region) die türkische Offensive nicht stoppen. In Manbidsch war die angeschlagene SDF gezwungen, die Stadt nach einem von den USA vermittelten Waffenstillstand aufzugeben. Der Waffenstillstand hatte zwar ihren Rückzug ermöglicht, gleichzeitig aber auch die Eroberung der Stadt durch die von der Türkei gesteuerte SNA. Eine Art „grünes Licht für die von der Türkei gewünschte Ausweitung der Pufferzone“, kommentierte die französische Zeitung Le Monde.

Viele linke und linksextreme Organisationen in der ganzen Welt, die die kurdischen nationalen Bestrebungen unterstützen, rufen zu Demonstrationen auf, um Rojava zu verteidigen, das als „einzige“ demokratische oder fortschrittliche (oder sogar revolutionäre) Alternative für das syrische Volk dargestellt wird. Eine Frage, die offen bleibt. Die westlichen imperialistischen Regierungen, die sich in der Vergangenheit gegen ISIS auf Rojava stützen konnten, rühren heute keinen Finger mehr, um es gegen die Türkei zu verteidigen. Im Gegenteil: Zum Zeitpunkt der Offensive, am 27. November, verhaftete die britische Regierung mehrere PKK-Führer auf ihrem Territorium wegen „Vereinigung einer terroristischen Organisation“… während sie sich wie die USA darauf vorbereiteten, die HTS von der Liste der terroristischen Organisationen zu streichen!

Wenn der Westen seine Verbündeten im Stich lässt

Dabei hatte die von den USA geführte internationale Koalition von 2015 bis 2019 nicht gezögert, die Truppen Rojavas als „Boden“-Soldaten einzusetzen, um den Islamischen Staat ISIS zurückzudrängen. Da die USA und ihre Verbündeten (darunter Frankreich) ihre eigenen Truppen nicht einsetzen wollten (außer ihrer Luftwaffe aus der Luft), hatten sie die kurdischen Streitkräfte bewaffnet, ausgebildet und beraten. Während sie ihnen gleichzeitig misstrauten und sie anderen kurdischen Truppen unterstellten, die aus dem irakischen Kurdistan stammten und von einem der führenden Köpfe der irakischen kurdischen Bourgeoisie, Barzani, einem Mann der Amerikaner, kontrolliert wurde. Sobald ISIS 2019 besiegt war, haben die USA Rojava aufgeben und nur 900 Soldaten (und private Söldner) in einigen US-Stützpunkten zurücklassen, um einen Fuß in der Region und ein Auge auf islamistische Gruppen, die Ölfelder und den Iran zu behalten.

Angesichts des Sturzes von Assad und der Gefahr eines potenziellen Wiederauflebens von ISIS haben die USA ihr Kontingent in Barzanis irakischem Kurdistan aufgestockt. Außerdem entsandten sie einen General nach Rojava, um die Lage zu beobachten. Sie machen sich unter anderem deshalb Sorgen um das syrische Kurdistan, weil auf kurdischem Gebiet noch immer mehr als 10.000 ISIS-Anhänger (und 45.000 Familienangehörige) inhaftiert sind. Daran versuchen die Führer Rojavas zu erinnern, um – mit wenig Erfolg – Verhandlungen mit der Türkei zu erreichen: “Anstatt den Gefängniszellen des Islamischen Staates Priorität einzuräumen, werden unsere Ressourcen umgelenkt, um unsere Grenzen und unsere Gemeinschaft vor [türkischen] Angriffen zu schützen“, argumentiert Mazloum Abdi, der Oberbefehlshaber der kurdischen SDF.

Die Kurd :innen als regionale Währung?

Auch wenn die USA scheinbar den Schiedsrichter spielen und die Führer dieses syrischen Kurdistans, die ihnen noch dienlich sein könnten, schonen, kommt es für sie nicht in Frage, die Beziehungen zur Türkei abzubrechen. Zunächst einmal zur Frage der von der türkischen Regierung gewünschten „Pufferzone“ im Norden Syriens: „Die Türkei verdient eine entmilitarisierte Pufferzone zwischen dem Nordosten Syriens und der Türkei, um ihre Interessen zu schützen“, erklärte ein Senator der Republikanischen Partei, Trumps Partei[1]. Während sich auf Seiten der Demokraten Bidens Verteidigungsminister Antony Blinken dafür ausspricht, die dort befindlichen Mitglieder der türkischen PKK aus Syrien auszuweisen, weil sie eine „dauerhafte Bedrohung“ für die Türkei darstellen würden.

Die HTS, die Assad gestürzt hat, hat ihrerseits über die USA mit der kurdischen SDF Verhandlungen über die Verwaltung des (ölreichen) Gebiets aufgenommen, das sie unter die Kontrolle ihrer neuen Macht zu bringen hofft[2]. Aber die HTS ist wie Blinken für den Abzug der „nicht-syrischen“ Mitglieder aus Syrisch-Kurdistan, eine Möglichkeit, die kurdische PYD zu schwächen, indem sie sie von der türkisch-kurdischen PKK abschneidet, und auch, um den Appetit der Türkei unter Erdoğan zu schonen, nachdem dieser der HTS geholfen hat, die Macht in Damaskus zu übernehmen. Ohne jedoch zuzulassen, dass Ankara zu viel Einfluss in Syrien gewinnt, während in Aleppo oder Manbidsch Demonstrationen der arabischen oder kurdischen Bevölkerung gegen die Besatzungspolitik der neuen Machthaber begonnen haben.

Zwischen Hammer und Amboss

Gefangen zwischen den Spielen seiner Freunde von gestern und seinen Feinden seit langer Zeit, stellt Rojava nun die Flagge der „syrischen Revolution“ (und des neuen Regimes) auf seinen offiziellen Gebäuden auf, während es von den Islamisten der HTS, die früher mit Al-Qaida verbunden waren, die Einhaltung einer neuen „Autonomie“ fordert, die im Rahmen einer neuen syrischen Verfassung ausgehandelt wurde, „in der jeder mit seinem Glauben und seiner Nationalität leben kann“.

Gleichzeitig kann man beobachten, wie ein Führer der KCK (Union der Gemeinschaften Kurdistans, der auch die PKK angehört!), Zübeyir Aydar, eine Öffnung von Seiten Israels sucht – nachdem dessen neuer rechtsextremer Außenminister vermehrt „pro-kurdische“ Erklärungen abgegeben hat -, indem er sagt: „Es gibt einen heftigen Krieg, und es ist notwendig, die Pläne der Türkei zu durchkreuzen. […] Jeder, der jetzt handelt, wird in der Zukunft Ressourcen haben. […] Der Iran bleibt eine ernsthafte Bedrohung für Israel und Israel wird alles in seiner Macht stehende tun, um eine Niederlage zu vermeiden. Wir haben unser Land im Irak erhalten, auch in Syrien, und jetzt ist der Iran an der Reihe”.[3] Isoliert gegenüber den Islamisten und dem türkischen Appetit suchen die kurdisch-nationalistischen Führer nach einer Möglichkeit, sich im Schatten einer größeren Macht zu entwickeln. Gestern war es Baschar al-Assad, heute sind es die USA, morgen … Israel?

Angesichts der imperialistischen Manöver: Die internationalistische Solidarität der Unterdrückten!

Die Kurd :innen haben, wie alle anderen unterdrückten Völker, von den imperialistischen Mächten nichts zu erwarten. Und selbstmörderisch für sie ist das Spiel nationalistischer Führer, die versuchen, sich ihren Weg zu bahnen, indem sie auf der Suche nach Verbündeten auf den Rivalitäten der Regierenden der Welt surfen[4].

Es gibt keine Anzeichen dafür, dass das Spiel der neuen islamistischen Führer und Diktatorenlehrlinge in Damaskus, der Regierenden in der Türkei, die ihnen zur Macht verholfen hat, und der Großmächte, die ihnen applaudiert haben, nicht bald von der syrischen Bevölkerung selbst vereitelt werden könnte. Wahrscheinlich ist die Bevölkerung nicht bereit, eine neue Diktatur zu akzeptieren, die die Diktatur von Assad ersetzt, gegen die sie 2011 aufbegehrt hatte, oder den Krieg, der auf ihrem Rücken zwischen rivalisierenden Clans weitergeführt wird, länger zu tolerieren. Die unterdrückten Kurd :innen in Syrien, ihre Brüder und Schwestern in der Türkei, im Irak und im Iran sowie in der syrischen Bevölkerung selbst hätten ein Interesse daran, ihr Schicksal gegen Führer zu verbinden, die alle in unterschiedlichem Maße den Interessen imperialistischer Mächte untergeordnet sind.


[1] Aber sowohl auf Seiten der Demokraten als auch der Republikaner wird darüber nachgedacht, die Kurden als unterstützende Kraft zu behalten: „Nach Israel sind [die kurdischen Gruppen] unsere besten Verbündeten im Nahen Osten“. erklärte Mike Maltz, der von Trump zum Nationalen Sicherheitsberater ernannt wurde.

[2] Dank der Vermittlung der USA hat die HTS wieder die Kontrolle über Deir ez-Zor übernommen, nachdem die SDF nach dem Sturz des al-Assad-Regimes die Provinz unter ihre Kontrolle gebracht hatten und mit „anti-kurdischen“ Protesten von Teilen der arabischen Bevölkerung konfrontiert waren.

[3] https://anfenglish.com/news/zubeyir-aydar-we-must-be-the-voice-of-rojava-76757

[4] Die Kurden befinden sich insbesondere im Zentrum der wachsenden Rivalität zwischen der Türkei und Israel, wobei letztere möglicherweise im Sinn haben, die Kurden zu benutzen, um den türkischen Einfluss in Syrien und damit im Nahen Osten zu beschränken.

https://www.jns.org/turkish-orchestrated-attacks-on-kurds-also-threaten-israeli-interests

[Dieser Artikel erschien am 18. Dezember 2024 auf der website der NPA Révolutionnaires: Le Kurdistan syrien (Rojava) otage du jeu des nouveaux dirigeants syriens et des puissances qui les parrainent]

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