Nicht erst Corona zeigt, wie die Profitmacherei im Gesundheitssektor Menschen gefährdet. Ähnlich wie die Klimafrage wirft auch die Coronapandemie viel grundsätzlichere Fragen über unser Gesellschaftssystem auf: Soll der immense gesellschaftliche Reichtum für die Profite des reichsten einen Prozents oder für ein möglichst gutes und gesundes Leben für die 99 % (und die Umwelt) verwendet werden?
Die Coronapandemie 2019/20 kommt nicht völlig überraschend. Schon seit Jahren erwarten VirologInnen und SozialmedizinerInnen eine weltweite Infektionskrankheit als Begleiterscheinung der immer ausgeprägteren weltweiten Arbeitsteilung im globalisierten Kapitalismus. Das SARS-Virus 2003 oder die H1N1-Pandemie („Schweinegrippe“) 2009/10 waren deutliche Vorzeichen. „Überraschend“ kann man es allenfalls finden, wie unvorbereitet die Gesundheitssysteme selbst der reichen kapitalistischen Länder auf den Ausbruch in diesem Winter waren. Nach kürzester Zeit wurden Desinfektionsmittel, Atemschutzmasken und Schutzkleidung zur Mangelware. Deutschland erließ Exportverbote, die Preise stiegen zum Teil um das Zwanzigfache in die Höhe und manche branchenfremden Firmen stellen ihre Produktion auf die Herstellung von Atemmasken um.1
Nun hat sich die neue Lungenkrankheit, die zuerst im Dezember 2019 in der chinesischen Provinz Wuhan ausgebrochen ist, auf alle Kontinente ausgebreitet und bedroht Schätzungen zufolge das Leben von Millionen von Menschen weltweit.2 Anders als in den Katastrophenszenarien von Endzeitfilmen sind aber weder „wir alle“ gleichermaßen gefährdet, noch ist „die Globalisierung“ oder „das Virus“ schuld an dem sich ankündigenden menschlichen Drama. Das Coronavirus wird erst durch die kapitalistische Profitsucht, die uns hinter dem Virus und seinen Folgen überall begegnet, zu einem derartigen Problem.
Die infolge einer Infektion mit dem Virus SARS-CoV-2 ausbrechende Lungenkrankheit COVID-19 verläuft bisher vor allem bei denjenigen Menschen tödlich, die älter sind oder bereits Vorerkrankungen haben. Kinder oder Schwangere scheinen bisher nicht besonders gefährdet zu sein. Bezeichnenderweise aber wird in der Presse kaum festgestellt, dass es nicht nur eine Frage des Alters ist! Schon vor dem SARS-CoV-2-Virus sind arme Menschen auch an Grippe eher gestorben als Reiche. Wer nicht genug Geld für abwechslungsreiche und gesunde Ernährung hat, wer, wie viele Arbeitende, sein Immunsystem durch Wechselschichten und Schlafmangel regelmäßig unter Stress setzt, der hat einer schweren Infektion weniger entgegenzusetzen. Was für die Grippe gilt, gilt auch für COVID-19.
Auf Kosten von Personal und PatientInnen
Besonders schlimm ist die Lage im Gesundheitsbereich, wo sich die ohnehin schlechten Arbeitsbedingungen rasant verschärfen. Da Schutzkleidung und Atemmasken bereits seit Wochen Mangelware sind, berichten Pflegekräfte, dass z. B. Atemmasken, die normalerweise für zwei Stunden verwendet werden, für eine ganze Schicht reichen müssen; dass nur einE KollegIn pro Schicht eine Maske nutzen darf, oder dass Schutzkittel mehrfach und von verschiedenen KollegInnen verwendet werden sollen.3 Selbst eine Rückkehr zu Schutzkitteln aus Stoff – statt Einwegkitteln aus Plastik –, die dann pro Zimmer von allen KollegInnen benutzt werden, scheinen keine Einzelfälle zu sein. Da aber gleichzeitig die Wäschereien kaum hinterherkommen, verschlimmert das die Ansteckungsgefahr zusätzlich. Die Uniklinik Aachen, in der viele Erkrankte aus dem besonders betroffenen Landkreis Heinsberg behandelt werden, hatte bereits Anfang März die Vorschriften zur Isolation von PatientInnen gegen den Rat des Robert-Koch-Instituts abgesenkt.4 Hier wurde auch unter der Hand angeordnet, mehrere Patienten mit der gleichen Schutzkleidung zu untersuchen. Auch wurde, nachdem eine Pflegekraft auf der Frühgeborenenstation nachweislich infiziert war, darauf verzichtet alle 45 Kolleg*innen, die mit der Infizierten z. T. in engem Kontakt waren, in Quarantäne zu schicken. Bis Symptome auftreten – weitermachen! Würde man alle direkt exponierten KollegInnen in Quarantäne schicken, müssten angeblich ganze Stationen geschlossen werden. Das ist nach Ansicht des Robert-Koch-Instituts „sachlich falsch“ und nach Ansicht vieler KollegInnen in der Pflege eine klare Ansage: „Euer Leben ist uns nichts wert.“ Gerade KollegInnen, die neben ihrer Arbeit im Krankenhaus oder Pflegeheim auch noch zuhause Angehörige pflegen oder Kinder haben, fühlen sich zu Recht „wie Dreck“ behandelt.
In Internetforen berichten Pflegekräfte aus ganz Deutschland auch, dass sie trotz Corona-Symptomen von den zuständigen Gesundheitsämtern, aber auch von ihrem Krankenhaus, den zuverlässigen PCR-Test auf Infektion mit SARS-CoV-2 verweigert bekommen. Im besten Fall wird ihnen gesagt, dass sie sich krank melden, ins Bett legen sollen und abwarten – in manchen Fällen aber berichten KollegInnen, dass sie gedrängt werden auch mit Fieber zur Arbeit zu erscheinen.
Profite und struktureller Mangel
Die Krise soll also – versteckt unter Sachzwängen – wieder auf Kosten der Gesundheit der Beschäftigten v. a. im Gesundheitssystem ausgetragen werden. So hat Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am 4. März die Personaluntergrenzen für Krankenhäuser, die eben erst durch Streiks erkämpft wurden, aufgehoben. Dabei ist klar, dass diese schon jetzt oft nicht reichen. Sie stellen im besten Fall das absolute Minimum der Besetzung auf Station dar.
Erst im Sommer 2019 hat die Bertelsmannstiftung eine von breiten Teilen der bürgerlichen Presse gefeierte Studie vorgestellt, laut der „zur Verbesserung der Qualität“ von den rund 1400 Krankenhäusern in Deutschland gut 800 geschlossen werden sollten. Das war ein halbes Jahr vor Corona. Am 7. März warnte Christian Drosten, der Chefvirologe der Berliner Charité, dass es im Herbst zu einer neuen Corona-Welle kommen könne, die die Kapazitäten der deutschen Krankenhäuser überfordern werde. Im Moment gebe es zwar noch 28.000 Intensivbetten in Deutschland, die aber normalerweise zu gut 80 % mit „normalen“ Erkrankten belegt seien. „Wir müssen jetzt mit Hochdruck mehr Kapazitäten an Intensivbetten schaffen, sonst wird es zu schwierigen Entscheidungen kommen“, sagte Drosten in der Neuen Osnabrücker Zeitung. „Wen wollen wir dann retten, einen schwer kranken 80-Jährigen oder einen 35-Jährigen mit einer rasenden Viruspneumonie, der binnen Stunden sterben würde und bei künstlicher Beatmung binnen vier Tagen über den Berg wäre?“, fragte Drosten. „Vieles spricht dafür, dass es solche Fälle geben wird, in denen auch in Hubschrauberreichweite kein Gerät bereit wäre“.5 Wie schlimm wäre es erst, wenn die Profitgeilheit der Konzerne die Pläne der Bertelsmannstiftung schon umgesetzt hätte? Kristallklar sieht man hier, wohin die Gewinnorientierung im Gesundheitswesen – ein Ergebnis der verzweifelten Suche des Kapitals nach Anlagemöglichkeiten mit hoher Profitrate – über die letzten Jahrzehnte geführt hat und weiter führen wird: zu einem Gesundheitssystem, das kaum in der Lage ist eine absehbare Pandemie zu behandeln und Hunderttausende unnötig leiden und viele sterben lassen wird. Die Zustände in Italien, wo das Gesundheitssystem in diesen Tagen vor dem Virus kapituliert, sind möglicherweise der Blick in eine sehr nahe Zukunft.
Sofortmedizin fürs Gesundheitssystem!
Dabei gibt es Antworten und Lösungen, die zwar die Ausbreitung des Virus nicht mehr verhindern, die Folgen aber deutlich reduzieren können. In Deutschland gibt es ca. 200.000 Pflegekräfte, die nicht mehr in diesem Beruf arbeiten, weil sie die miserablen Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern und Heimen auf die Dauer nicht mehr ertragen oder gesundheitlich vertragen konnten.6 Um das Problem Corona wirksam anzugehen, dürfte man gerade nicht die erst eingeführten Personaluntergrenzen per Erlass wieder aufheben, sondern müsste das Signal senden: JedeR, der in einem Krankenhaus arbeiten möchte, bekommt eine feste Stelle, ein Gehalt deutlich oberhalb des Durchschnittslohns, sichere Schichtpläne und eine garantierte 30-Stunden-Woche auch über die jetzige Coronakrise hinaus. Das käme die Konzerne teuer zu stehen, aber es ließe hoffen, in kürzester Zeit die Personalreserven im Gesundheitssektor nachhaltig aufzufüllen.
Auch die Gewerkschaften, insbesondere ver.di, könnten angesichts der aktuellen Krise guten Gewissens eine nachhaltige Verbesserung der Arbeitsbedingungen erstreiten und damit – auch kurzfristig – den Kollaps der Gesundheitsversorgung stoppen. Bisher aber spricht nichts dafür, dass die Gewerkschaftsführung auch nur an so etwas denkt, es gibt lediglich von einzelnen AktivistInnen und Funktionären offene Briefe und kämpferische Stellungnahmen.
So müssen wir KollegInnen, müssen wir Arbeitende, angesichts der Coronapandemie selbst den Kampf um die Verteidigung unserer Gesundheitsversorgung und gegen die offensichtlich tödlichen Folgen der kapitalistischen Profitproduktion – nicht nur im Gesundheitswesen – aufnehmen!
1 https://www.focus.de/finanzen/boerse/wirtschaftsticker/virus-schweiz-empoert-ueber-deutsches-ausfuhrverbot-fuer-schutzmasken_id_11746522.html
2 Im Moment nehmen ForscherInnen an, dass die Sterberate von infizierten Menschen bei ca. 0,5 bis 0,7 Prozent liege und gehen gleichzeitig davon aus, dass die Mehrheit z.B. der deutschen Bevölkerung sich in den nächsten Monaten mit dem Erreger infizieren wird. Rechnerisch würde das allein in Deutschland hunderttausende Tote bedeuten – ca. fünf bis zehnmal so viele wie im Rahmen einer „normalen“ Grippeepidemie. Allerdings scheint bisher (10. März 2020) unklar, bei wie vielen Menschen die Infektion gar nicht erst zu einem Ausbruch schwerer Symptome kommt, wie hoch also die „Dunkelziffer“ von unerkannt infizierten und unbemerkt geheilten Menschen ist. Unzweifelhaft aber wird eine massenweise Verbreitung des Virus z. B. in Afrika oder Südasien deutlich höhere Sterbequoten mit sich bringen als in Österreich oder Deutschland. https://www.presseportal.de/pm/58964/4539086
3 https://www.doccheck.com/de/detail/articles/25692-corona-entlarvt-den-wahnsinn https://mypflegephilosophie.com/2020/03/11/keinisomaterialfurcorona-irgendwo-zwischen-wir-wissen-nicht-wie-und-ihr-seid-doch-nur-feige/
4 https://www.n-tv.de/regionales/nordrhein-westfalen/Aachen-weicht-von-RKI-Empfehlung-ab-Betrieb-sichern-article21616070.html
5 https://www.presseportal.de/print/4540069-print.html
6 Offener Brief von Katharina Schwabedissen an Gesundheitsminister Spahn und NRW-Gesundheitsminister Laumann.