War die DDR sozialistisch?

Ein offener Diskussionsbeitrag.

Im Oktober vor 31 Jahren hörte die DDR auf zu existieren. Bis heute wird unter Linken über diesen untergegangenen Staat diskutiert. Dabei sind sehr große Differenzen nicht verwunderlich, da Teile dieser Linken, zum Beispiel die DKP mit ihrer Jugendorganisation SDAJ oder auch die davon abgespaltene Kommunistische Organisation (KO), in der ideologischen Tradition jener Parteien stehen, die im Ostblock und in der DDR an der Macht waren.

Wir als RSO sind Trotzkist:innen, beziehen uns also positiv auf die Analysen von Leo Trotzki, der als russischer Revolutionär den Stalinismus von Anfang an bekämpft hat. Trotzkist:innen haben keinen Grund, sich für den unter Stalin entstandenen Ostblock verantwortlich zu fühlen. Doch auch im trotzkistischen Spektrum gibt es Differenzen und Diskussionen über die DDR. Das ist keine historische oder überholte Debatte, sondern sie betrifft direkt unsere Vorstellungen vom Sozialismus, den wir erkämpfen wollen.

Im August gab es ein Streitgespräch zwischen je einem Genossen der trotz­kistischen SAV und der stalinistischen KO1. Dort kann man die Argumentation der KO, weshalb sie die DDR als sozialis­tisch ansieht, nachhören. Kurz zu­sammengefasst: Die DDR war sozialistisch, weil sie das Privatkapital aus der Wirtschaft ausgeschaltet hat. Damit habe sie in ihrem ganzen Wesen den Interessen der Arbeiter:innen und Bäuer:innen gedient, was sich auch an der höheren sozialen Sicherheit im Ver­gleich zum Kapitalismus erkennen lasse.

Die Arbeiter:innen seien demokratisch beteiligt worden, die Parteiführung der SED habe keine nennenswerten Privi­legien gehabt (man brauche doch ihren Lebensstil nur mit dem der Kapitalist:innen zu vergleichen). Es seien vielleicht Fehler gemacht worden, doch der Staatsapparat der DDR habe die „Diktatur des Proletariats“, also die Herr­schaft der Arbeitenden verwirklicht. Der Sozialismus müsse „harmonisch“ zentra­listisch sein, Vorstellungen von Selbst­organisation durch Arbeiter:innenräte würden dezentralem Chaos das Wort reden. Und dass Planungsent­scheidungen nicht von unten korrigiert werden konnten, läge daran, dass der Prozess der Planung „nahezu unendlich kompliziert“ sei (Minute 33 des Streit­gesprächs). Daher mussten Spezialist:innen, losgelöst von der Mehr­heit der Bevölkerung, den Plan auf­stellen.

Wie geht sozialistische Verwaltung?

Hier berühren wir verschiedene Kern­punkte dessen, was Sozialismus ist. Lenin hat wenige Wochen vor der Okto­berrevolution in seinem Werk „Staat und Revolution“ die Perspektive und Mög­lichkeit des Sozialismus damit be­gründet, dass der Kapitalismus die „Rechnungsführung und Kontrolle (…) bis zum Äußersten vereinfacht“ hat. Deshalb könne man sofort nach der Revolution zur systematischen Arbeiter:innenkontrolle über die ge­samte Produktion übergehen, wobei das „nur eine Stufe“ sei „um weiter vorwärts­schreiten zu können“. Wohin? Dahin, dass „alle Mitglieder der Gesellschaft oder wenigstens ihre übergroße Mehr­heit selbst gelernt haben, den Staat zu regieren“ und von diesem Zeitpunkt an „die Notwendigkeit jeglichen Regierens überhaupt zu schwinden“ beginnt2. Damit ist gemeint, dass der Staat als los­gelöster Verwaltungs- und Repressions­apparat abstirbt, weil er nicht mehr not­wendig ist.

Die DDR hat jahrzehntelang behauptet, den Sozialismus verwirklicht zu haben, aber der Repressionsapparat (insbesondere die Stasi) war allgegen­wärtig und die Planwirtschaft wurde von losgelösten Spezialist:innen bewerk­stelligt. Die KO rechtfertigt dies und be­hauptet, die Spezialist:innen hätten ja im Interesse der Arbeitenden gehandelt.

Doch die Partei- und Staatsbürokratie (Nomenklatura) hatte zwar im Vergleich zu den Ausbeuter:innen im Kapitalismus nur sehr bescheidene Privilegien (die Jagdsitze von Honecker und Co. waren vor allem kleinbürgerlich spießig), aber sie war dennoch von den Arbeitenden und ihren Interessen meilenweit ent­fernt. Einerseits haben in einer Mangel­wirtschaft auch kleine Privilegien Be­deutung (wie das Einkaufen in speziellen Läden mit besserem Sortiment), anderer­seits war die Macht ein nicht zu unter­schätzendes Privilegium, das allerorts durch Anpassung an die von oben vorge­gebene Linie erkauft wurde.

Die Grundlage der DDR: ein bürger­licher Staatsapparat

Um wirklich zu verstehen, wessen Interessen diese Staatsbürokratie ver­trat, muss man sich anschauen, wer bei der Entstehung der DDR und dieses Staatsapparates ausschlaggebend war. Stalin war die Stabilität seiner Herr­schaft in der Sowjetunion tausendmal wichtiger als die Weltrevolution. Weil er sich nach dem Zweiten Weltkrieg außenpolitische Stabilität erhoffte durch einen Kompromiss mit dem west­lichen Imperialismus, war er gegen jede proletarische Revolution in Osteuropa. Den KPD-Funktionär:innen in der zu­künftigen DDR wurde eingeimpft: „Die politische Aufgabe bestehe nicht darin, in Deutschland den Sozialismus zu ver­wirklichen oder eine sozialistische Ent­wicklung herbeiführen zu wollen. Dies müsse im Gegenteil als schädliche Ten­denz verurteilt und bekämpft werden. Deutschland stehe vor einer bürgerlich-demokratischen Umgestaltung…“3.  Dementsprechend war auch die KPD am 11. Juni 1945 für „völlig ungehinderte Entfaltung des freien Handels und der privaten Unternehmerinitiative auf der Grundlage des Privateigentums“. Die KO behauptet, damit sei „die deutsche Be­völkerung“, die vom Faschismus ver­seucht gewesen sei, behutsam an den Sozialismus herangeführt worden. Nichts könnte falscher sein. Viele Arbei­ter:innen waren 1945 froh, vom Faschis­mus befreit zu sein und bereit zu einer sozialistischen Umwälzung. Nicht um­sonst mussten die spontan gebildeten „antifaschistischen Komitees“ von den Stalinist:innen aufgelöst werden.

An deren Stelle haben die Stalinist:innen einen bürgerlichen Staat wiederaufgebaut, unter Einbeziehung bürgerlicher Kräfte und voller Miss­trauen gegenüber der Arbeiter:innenklasse. Diese Staats­maschine wurde weder von der Mehr­heit der Arbeiter:innen aufgebaut, noch gewollt und erst Recht nicht kontrolliert.

Eine Diskussion innerhalb des Trotz­kismus: DDR verteidigen oder nicht?

Was die Diskussion innerhalb des trotz­kistischen Spektrums betrifft, so war der Vertreter der SAV bei dem erwähnten Streitgespräch ziemlich defensiv, da er selbst die Errungenschaften der DDR als „nachkapitalistische Gesellschaft“ ver­teidigte. Und hier kommen wir zu einem delikaten Punkt, der die trotzkistische Bewegung viel beschäftigt und oft genug entzweit hat.

Denn wenn die DDR und die anderen Ostblockstaaten eine Errungenschaft darstellten, so war diese Errungenschaft vom Stalinismus und durch die Rote Armee bewerkstelligt worden und nicht durch eine Arbeiter:innenrevolution. Dann können die Trotzkist:innen sich beklagen über mangelnde Demokratie und Bürokratie, aber der Stalinismus kann für sich in Anspruch nehmen, mit der Abschaffung des Kapitalismus den entscheidenden Schritt vollbracht zu haben, im Gegensatz zu den Trotzkist:innen, die so etwas trotz aller guter Absichten nie hingekriegt haben.

Die meisten Trotzkist:innen bezeichnen die Ostblockstaaten als zwar „deformierte“ aber dennoch „Arbeiter:innenstaaten“, die es zu ver­teidigen galt. Wohin diese Argu­mentation führt sieht man in einem Artikel des „funke“ zum 60-jährigen Jubiläum des Mauerbaus4.

Die SED hat die DDR auf ihre Art ver­teidigt: unter anderem mit Mauerbau und Schießbefehl gegen „Republikflüchtlinge“. Das hat ange­sichts der massiven Abwanderung von benötigten Arbeitskräften die DDR „vorläufig stabilisiert“, wie wir im funke-Artikel lesen können. Dass die Arbeitenden mit den Füßen gegen den angeblichen „Arbeiter:innenstaat“ ab­stimmten, muss dann noch beschönigt werden: Es waren „Facharbeiter, Ärzte und Ingenieure“ sowie „Architekten“, die „gezielt in die BRD“ abgeworben wurden. Letztlich richtete sich der Mauerbau also nur gegen das für die Vorteile des Sozia­lismus unempfängliche Klein­bürger:innentum und eine Facharbeiter-Elite. Der funke kommt zur Schluss­folgerung: „Der Fall der Mauer ist nicht als fortschrittlich anzusehen, sondern als Niederlage der Arbeiterbewegung.“

Was soll man da sagen? Natürlich hat der Mauerfall den deutschen Kapita­lismus gestärkt und war für das west­deutsche Kapital eine Quelle der Berei­cherung. Aber die massive Zerstörung von Arbeitsplätzen und sozialer Sicher­heit im wiedervereinigten Deutschland ist die Folge des schlechten Kräfte­verhältnisses für die Arbeitenden, die unter anderem durch das abschreckende Beispiel eines angeblichen „Sozialismus auf deutschem Boden“ zutiefst desorientiert waren.

Vergleich der DDR-Gesellschaft mit Kapitalismus und Sozialismus.

Eine internationalistische Perspektive

Doch einen Schritt zurück: War die „Abschaffung des Kapitalismus“ in Ost­deutschland nicht ein wesentlicher Fort­schritt, selbst wenn der Sozialismus viel­leicht noch nicht verwirklicht war? Das Problem bei dieser Fragestellung ist eine nationalstaatliche Sicht auf die Ent­wicklung von Revolution und Klassen­kampf, was Trotzki Zeit seines Lebens bekämpft hat5. Noch viel weniger als in einem Land wie der Sowjetunion lässt sich der Sozialismus in einem halben Deutschland aufbauen.

Nicht jede Verstaatlichung ist ein Schritt in Richtung des Sozialismus, es ist immer die Frage, auf Grundlage welches Kräfteverhältnisses und mit welcher sozialen Basis die Verstaatlichung durch­geführt wird (es gab auch in erzkapita­listischen Ländern wie Frankreich oder England nach dem Krieg Verstaat­lichungen relativ großen Ausmaßes).

Die stalinistische Bürokratie konnte wesentliche Teile der Wirtschaft ver­staatlichen, weil das deutsche Kapital den Weltkrieg verloren hatte. Die Ver­staatlichung und die Einführung der Planwirtschaft nach russischem Muster war die Übernahme von wirtschaft­lichen Methoden des Sozialismus. Sie waren aber ihrer sozialistischen Stoß­richtung dadurch beraubt, dass sie – anders als in den frühen Jahren der Sow­jetunion – nicht durch eine selbst­organisierte und selbstbewusste Arbeiter:innenklasse durchgeführt wurden.

In Osteuropa war die „soziale Basis“ die militärische Präsenz der Sowjetunion, deren Panzer 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in Prag die jeweiligen Regime gegen die eigene Bevölkerung „retten“ mussten. Sobald unter Gorbatschow die Sowjetunion ihren Rückzug aus Osteuropa erklärt hat, hatte keines dieser Länder eine eigenständige soziale Basis (vor allem nicht in der Arbeiter:innenklasse) um die angeblich „nachkapitalistischen Errungen­schaften“ zu verteidigen.

Der Stalinismus und die Errichtung der DDR mit Unterdrückung der Selbst­tätigkeit der Arbeiter:innen haben keine revolutionäre Rolle gespielt, sondern eine den Kapitalismus als Weltsystem stabilisierende Rolle (Aufteilung von Einflusssphären unter den Alliierten, Verzicht auf revolutionäre Bestrebungen in Westeuropa, Niederhaltung der Arbeiter:innen in Osteuropa 1956). Die DDR mit Verstaatlichung und Plan­wirtschaft hat bestenfalls angedeutet, dass diese Methoden der Wirtschafts­lenkung ohne privates Profitstreben möglich sind.

Doch da der Lebensnerv des Sozialismus – die freie Selbstbetätigung und schöpfe­rische Initiative der Arbeitenden – fehlte, ist eine bürokratische Miss­wirtschaft herausgekommen, die letzt­lich nicht mit Westen konkurrieren konnte.

Ja, es stimmt: Die bürgerliche Ideologie benutzt das Scheitern der DDR, um platten Antikommunismus zu ver­breiten. Der bürgerlichen Ideologie müssen wir entgegentreten und die Machbarkeit und vor allem die dring­liche Notwendigkeit einer von Aus­beutung und Kapitalinteressen befreiten Wirtschaft verteidigen. Aber nicht, indem wir die stalinistischen Staaten als „sozialistisch“ bezeichnen. Sich diesen toten Ballast der Geschichte aufzu­bürden, können wir den heutigen Stalinist:innen überlassen. Wir sollten hingegen allen Menschen ein Bild vom Sozialismus aufzeigen, in dem nach Marx‘ Worten endlich wirklich „die freie Entfaltung des Einzelnen die Bedingung der freien Entfaltung aller ist“.

Von Richard Lux, Berlin

Zur Entstehung und den Anfangsjahren der DDR siehe auch unseren Vortrag auf youtube: LINK

Referenzen

1 https://open.spotify.com/episode/7iOUdcVKWcwQAM2eyWa9bi

2 Lenin Werke Bd. 25, S. 488/89 oder online https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1917/staatrev/kapitel5.htm

3 Bericht von Wolfgang Leonhard in seinem Buch „Die Revolution entlässt ihre Kinder“, Köln/Berlin 1955, S. 332/33.

4 https://www.derfunke.de/rubriken/geschichte/2902-der-mauerbau-1961-eine-marxistische-analyse

5 Dass er dabei das Erbe des Bolsche­wismus und Lenins auf seiner Seite hatte, kann man nachlesen im Anhang zu Trotzkis Geschichte der russischen Revolution: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1930/grr/b2-anh02.htm

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