Ukraine: Ein Krieg zweier imperialistischer Blöcke

Der Ukraine-Krieg und wie man sich zu ihm stellen soll, ist in der linken Bewegung stark umstritten. Auch innerhalb der RSO gibt es unterschiedliche Ansichten. Daher bringen wir hier eine Stellungnahme, die die von Richard Lux in zwei Artikeln (https://www.sozialismus.click/die-stellung-von-revolutionaerinnen-zum-krieg/ und https://www.sozialismus.click/ukraine-krieg-soll-das-so-weitergehen/) vertretene Position kritisiert. In einer gekürzten Version erschien der folgende Beitrag in Aurora Nr. 28.

In Aurora Nr. 24 erschien im April als Debattenbeitrag ein längerer Artikel, der die historische Sichtweise von Kommunist:innen auf imperialistische Kriege und Aggressionen darstellte und eine Einschätzung des Charakters des gegenwärtigen Krieges in der Ukraine versuchte. Wir wollen die Debatte konstruktiv und solidarisch weiterführen, einzelne dort vertretene Aussagen und Thesen aber zu widerlegen versuchen. In Aurora Nr. 27 erschien im Artikel „Ukraine-Krieg: Soll das so weitergehen?“ eine – zumindest von uns so gelesene – sinnvolle Ergänzung und Präzisierung zentraler Aussagen des Artikels aus dem Frühjahr. Gleichzeitig wird daran festgehalten, dass bei aller Kritik an Selenskyj und der NATO „Waffenlieferungen an sich“ nicht abzulehnen seien. Daher erscheint es uns sinnvoll noch einmal auf den Artikel aus dem April zurückzukommen.

Eine „nationale Frage“ …?

In Aurora Nr. 24 wird der Krieg aus ukrainischer Sicht als nationale Selbstverteidigung dargestellt und somit in kommunistisch-leninistischer Tradition gerechtfertigt. Wenn sich Polen im 19. Jahrhundert gegen deutsche und russische Fremdherrschaft auflehnt, Algerien 1954 gegen den französischen Imperialismus erhebt, wenn Vietnam 1968 gegen die USA für das Recht auf nationale Unabhängigkeit kämpft, dann haben Revolutionär:innen sicherlich an der Seite der Kolonisierten oder national unterdrückten Menschen zu kämpfen. Die Marx’sche Idee dahinter ist, dass mit der Lösung der „nationalen Frage“ die „nationale Unterdrückung“ in „Völkergefängnissen“ oder feudaler Kleinstaaterei endet und der Klassengegensatz von Arbeitenden und Kapitalist:innen ohne nationale Verzerrungen hervortritt. Im 20. Jahrhundert kam der Gedanke dazu, dass v.a. Unabhängigkeitsbewegungen in den Kolonien oder in Teilen der imperialistischen Staaten diese schwächen, den Unterdrückten weltweit Hoffnung und Mut geben und somit die Bedingungen für die Revolution der Arbeiter:innenklasse verbessern könnten. Trotzki wies allerdings nicht zuletzt darauf hin, dass jeder echte Kampf um „nationale und koloniale Befreiung“ nur unter Führung der – wie immer kleinen – Arbeiter:innenklasse Erfolg haben könne.

Nun könnte diskutiert werden, ob nicht sogar die „Klassiker:innen“ in der nationalen Frage den Mythen und Vorstellungen des 19. Jahrhunderts von Nationen als quasi „natürlichen Gemeinschaften“ anhängen. Die Mehrheit der Geschichtsforschung ist sich mittlerweile einig, dass es sich bei Nationen um „eingebildete Gemeinschaften“ handelt, die mit der Machtergreifung der Bourgeoisie in Westeuropa und den USA überhaupt erst auf der historischen Bühne auftreten. So konstruiert und von Geschichtsmythen geprägt Nationen auch sind, so wurden sie zuerst als Teil der bürgerlichen Ideologie und Legitimation der bürgerlichen Revolutionen wirkmächtig und somit zumindest in ihren Auswirkungen „real“. Viele Soldaten, die sich im Ersten Weltkrieg verstümmeln und totschießen ließen, glaubten sehr fest daran, dass die Nation dies von ihnen verlange, dass die Nation real existiere und das Recht habe, dieses Opfer von „ihren Söhnen“ zu verlangen. In der Ukraine vielleicht bis heute. Daher ist die Frage, ob Nationen „natürlich“ sind oder „konstruiert“ hier zweitrangig.

Wichtig aber ist die Feststellung, dass Nationalvorstellungen, je später sie sich entwickelt haben, desto hysterischer wurden, je künstlicher und je mehr von Mythen und kollektivem Vergessen durchsetzt.[1] Wo die Bourgeoisie nicht – im Gewande der „Nation“ – den bereits bestehenden (feudalen) Einheitsstaat übernehmen und für ihre Zwecke ummodeln konnte, da verlor der „nationale Gedanke“ früh seinen progressiv-liberalen Charakter. Aus der Souveränität des „schaffenden Volkes“, wie es Sieyès 1789 gegen König, Adel und Klerus gefordert hatte, wurde in Deutschland schon in den „Befreiungskriegen“ 1813/14 und beim Wartburgfest 1817 eine ambivalente, bald eine tendenziell „völkische“, von Geschichtsmythen durchtränkte, konservativ-reaktionäre Konzeption. Der russische Nationalismus eines Pobedonoszew und Alexander III. hatte jeden Bezug auf den liberalen und progressiven Nationalismus der französischen Revolution verloren, er diente zur Legitimation der Unterdrückung von Bevölkerungen und zur Integration in die Herrschaft des Zarenreichs durch Ausschließung und Unterdrückung von „Nichtrussen“.  Aber wie gesagt – der deutsche Nationalismus des 19. Jahrhunderts stand diesem spätestens seit 1871 nicht viel nach. Und auch der französische Nationalismus trennte sich spätestens mit dem Kolonialerwerb von seinen liberalen Wurzeln und fabulierte von der „Mission“ der überlegenen „französischen Kultur“.

Schon Marx spottete über die Deutschtümler, „die die Geschichte unserer Freiheit in den teutonischen Urwäldern suchten“ und damit die Freiheit auf die Freiheit des Wildschweins reduzierten,[2] auch wenn Marx und Engels selbst nicht immer ganz frei vom Freiheitsmythos eines „Herman“ / Arminius blieben. Nationalismus wurde zunehmend zur ideologischen Klammer, die Bevölkerungen „über den Klassen stehend“ – und damit gegen die Arbeiter:innenklasse – zusammenhalten sollte.  Dafür ließen sich gerade in Osteuropa aber auch in anderen (ent-)kolonialisierten Ländern Beispiele finden. Und nicht zuletzt gilt dies auch für die Entstehung der ukrainischen Nationalbewegung im späten 19. Jahrhundert – selbst als sie im Widerstand gegen die „Russifizierung“ und den großrussischen Nationalismus entstand.

… in der Ukraine 2022?

Allerdings wurde die Ukraine als „Nation“ vom russischen Zarismus erst spät unterdrückt, weil sie als „Nation“ erst spät entstand. Und selbst der russische Nationalismus – im Gegensatz zur vorherigen absolutistisch-dynastisch-klerikalen Unterdrückung im Zarenreich – war eine recht späte Erfindung und nahm erst ab den 1890er Jahren wirklich an Fahrt auf. Eine „jahrhundertelange Unterdrückung der Ukraine“ durch „die Russen“, wie sie heute in den ukrainischen Schulen gelehrt wird, ist wie so vieles andere in der ukrainischen Nationalerzählung dem Reich des Mythos zugehörig. Im Gegenteil: Der Aufstand der Kosaken gegen den polnisch-litauischen Staat im 17. Jahrhundert führte diese freiwillig unter die „Schutzherrschaft“ des russischen Zaren, andere blieben polnische oder später habsburgische Untertanen. Die Juden auf dem Gebiet der heutigen Ukraine wurden als Juden, nicht als „Ukrainer:innen“ unterdrückt – auch wenn sie ukrainisch sprachen. Die Kosaken – als ein zentraler Teil der ukrainischen Bevölkerung, wenn auch nicht nur in der Ukraine ansässig – blieben bis zum Ende des Zarenreichs eine privilegierte Säbelgarde. Die Bauern zwischen Donbass und Karpaten wurden als Bauern, nicht aber als Ukrainer:innen unterdrückt.[3]

Und so ist auch die zeitgenössische Ukraine als Staat insgesamt alles andere als eine „unterdrückte Nation“, was immer auch Selenskyj und die seinen behaupten mögen.[4] Zwar wurden v. a. in der Stalin-Ära immer wieder missliebige Kader:innen unter dem Vorwurf des „bürgerlich-ukrainischen Nationalismus“ entfernt (und ermordet!), war nicht selten eine großrussisch-nationalistische Mentalität in der Moskauer Bürokratie vorherrschend, aber gleichzeitig wurde z. B. die Krim ohne Befragung der Bevölkerung von der Russischen Föderativen SSR der Ukrainischen SSR zugeschlagen, waren mit Chruschtschow und Breschnjew Ukrainer über Jahrzehnte Parteichefs. Das können wenige Kolonien von sich behaupten.[5]

Der ukrainische Nationalismus spielte, aktiv gefördert, eine zentrale Rolle im Kontext des Zerfalls der UdSSR als ideologische Legitimation der lokalen „nationalen“ Parteibürokratie im Kampf um das „Volkseigentum“ gegen die Bürokrat:innen in Moskau.  Die Versuche der Bürokrat:innen in der „Zentrale“, die UdSSR 1988-1991 zusammenzuhalten, ist keine primäre Geschichte des „Großrussentums“ gegen unterdrückte Nationen (wenn dann noch deutlich eher im Baltikum), sondern der Streit zwischen zwei antidemokratischen (und antisozialistischen) Cliquen um Macht und Einfluss.

Einmal unabhängig, begründeten die neuen Herren (oder alten Herren im neuen Gewande) in Kiew die ukrainische Nation als eine „nichtrussische“, geradezu „antirussische“. Es ging nicht mehr darum, dass die Menschen in der Ukraine die Sprache sprechen konnten, die sie wollten. Um Ukrainer:in zu sein, musste mensch jetzt v. a. kein Russe sein. Dabei griffen diese neuen Eliten, die vor allem aus der Westukraine stammten, auf die jahrzehntelangen Erfahrungen von Missachtung durch großrussisch denkende Bürokrat:innen zurück, interpretierten aber auch historische Ereignisse einseitig in ihrem Sinne.[6] Jede Form der realen Unterdrückung von Menschen in der Ukraine wurde nun als „nationale“ Unterdrückung gelesen: der russische Zarismus, die bolschewistische Befreiung der Ukraine von den „Weißen“ im Bürgerkrieg und der Stalinismus. Insbesondere die von der Stalin-Clique zu verantwortende schreckliche Hungersnot in Folge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft nach 1929, die in allen Agrargebieten der UdSSR zu fürchterlichem Hunger führte, wird in der ukrainischen Narration zum bewussten „Völkermord der Russ:innen“ an Ukrainer:innen umgedeutet. Der „Holodomir“ stellt damit den Versuch dar, einen zentralen nationalen Opfermythos zu begründen, eine historische Schuld „der Russen“ am „ukrainischen Volk“. Eine Relativierung des NS-Völkermordes an Jüd:innen, Sinti und Roma wird dabei nicht selten gleich mitgemeint.[7]

Dieser Nationalismus, wie er uns heute in der Ukraine begegnet, ist nicht das Ergebnis einer spontanen „Volksbewegung“ oder die „wahre Stimme“ der unterdrückten Massen des Landes. Nein, er ist vor allem das Ergebnis einer gezielten nationalistisch-antirussischen Politik, die sich z. B. 2006 in der Gründung des „Ukrainischen Instituts für Nationale Erinnerung“ niederschlug, das den Auftrag hat, die ukrainische Erinnerungskultur zu gestalten und diese maßgeblich bestimmt. Es kontrolliert den Zugang zu den Archiven der Sowjetzeit und hat 2015 zentral an den Gesetzen zu „Dekommunalisierung“ der Ukraine mitgeschrieben, mit denen Sowjetsymbole verboten und NS-Symbolik gleichgestellt werden.[8] Das Sprachengesetz, das die große russischsprachige Minderheit im Land diskriminiert, ist vom „Demokraten“ Selenskyj so wenig angetastet worden wie das nationale Erinnerungsinstitut. Im Gegenteil: Der antirussische Nationalismus bildet den Kitt der heutigen westorientierten Oligarch:innenclique in der Ukraine. Und diese hat einen Nationalstaat zur Verfügung, um nationale Erziehung und nationale Symbole und eine „Nationalgeschichte“ zu verbreiten. Kurz: Der ukrainische Nationalstaat schafft „die Ukraine“ zwar nicht aus dem Nichts, aber gibt erst die Möglichkeiten für ein derartiges nationales Narrativ und dessen Einübung durch Rituale, Schule usw.

Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, was „das Recht auf nationale Selbstverteidigung“, das in Aurora Nr. 24 so frenetisch gefordert wird, konkret bedeuten soll. Die Ukraine existiert seit 1991 als Nationalstaat, in dem die Staatsmacht über Sprachgesetze und verordnete Geschichtskultur eine Nation kulturell – und eben nicht wie in Frankreich 1789 als Einheit der schaffenden Menschen gegen die reichen Unterdrücker:innen – als antirussische konstruiert und festigt. Von solchen Möglichkeiten können z.B. Kurd:innen oder Tamil:innen nur träumen. Die Ukraine ist zumindest im Moment somit keine „unterdrückte Nation“, sondern im Gegenteil ein bürgerlicher Staat mit einem aggressiven, antirussischen Nationalismus. Zwar spricht Putin heutzutage den Ukrainer:innen propagandistisch jede Nationalität ab und erklärt sie zu „Kleinrussen“ aber durch solcherart historischen Humbug wird der ukrainische (wie jeder!) Nationalismus kein bisschen weniger konstruiert. Vom „Selbstverteidigungsrecht der Nation“ – nicht vom Recht der Arbeiter:innenklasse sich als Klasse oder vom Recht der Menschen ihre demokratischen Rechte zu verteidigen – zu sprechen bedeutet hier, diesem Nationalismus, der sich auch gegen die ukrainische Linke und Arbeiter:innenbewegung richtet, eine Legitimation zu verschaffen und letztlich die ukrainischen Arbeiter:innen aufzufordern, für’s gemeinsame Vaterland zu sterben.

Die Arbeiter:innen aber haben – nach Karl Marx – kein Vaterland und schon gar kein gemeinsames mit der Bourgeoise.  Wer also soll „die Nation“ sein, die ein „Recht“ auf Selbstverteidigung hätte? Wäre es die Nation so wie Sieyès sie 1789 verstand, so wäre es das Recht der Werktätigen (damals unter Einschluss der Bourgeoisie) sich gegen in- und ausländische Ausbeuter:innen zu verteidigen und dadurch ihren Staat erst revolutionär zu erobern. Ist es aber eine Nation als widersprüchlich konstruierte „Sprach-, Kultur- und Schicksalsgemeinschaft“ und besitzt diese bereits staatliche Form, so ist es de facto das Recht des bürgerlichen Nationalstaats, seine Staatsbürger:innen zur Verteidigung des Staates und damit seiner herrschenden Klasse – der westorientierten ukrainischen Bourgeoisie – zu opfern. Das ist der klassenmäßige Kern des „Selbstverteidigungsrechts einer Nation“ im vorliegenden Fall.  Und daher kann selbst taktisch betrachtet, das Recht einer unterdrückten Bevölkerung, die keinen „eigenen“ Nationalstaat hat wie Polen 1905 oder Irland 1916, nicht gleichgesetzt werden mit dem Recht eines existierenden bürgerlichen Staates auf Hinschlachtung seiner Bürger:innen „im nationalen Interesse“.

Für das Selbstverteidigungsrecht und den Sieg der Ukraine?

Der Artikel in Aurora Nr. 24 behauptet, dass die Ukraine „offensichtlich keine imperialistischen Ziele gegenüber Russland“ verfolge und Revolutionär:innen daher in diesem Krieg nicht neutral sein dürften, sondern auf der Seite des „ukrainischen Selbstverteidigungsrechts“ zu stehen hätten und damit unverhofft verbal die Meinung der eigenen Regierung teilen müssten.[9]

Was aber sind „imperialistische Ziele“? Sicher geht es der Selenskyj-Regierung nicht darum Moskau zu erobern oder sich einen Platz an der Sonne des Kaukasus zu sichern. Zumindest aber die „Rückeroberung“ der Krim und des gesamten Donbass hat Selenskyj als Kriegsziel definiert und mit jedem vermeintlichen oder realen Erfolg an der Front bekräftigt. Den Willen der dortigen Bevölkerung – den wir nicht kennen – hat er nie zur Grundlage gemacht. Auf der Krim war die Bevölkerung vor 2014 mehrheitlich tartarisch oder russischsprachig, im Donbass ist der Wille der Bevölkerung durch jahrelangen Krieg, die kriminelle Herrschaft der prorussischen „Separatist:innen“ und die ukrainische Propaganda noch unklarer. Zumindest gab es dort aber vor der Eskalation große Gruppen von Menschen, die sich explizit mit Russland verbunden und sich von der Kiewer Regierung 2013/14 unterdrückt fühlten. Nach den Erfolgen der ukrainischen Armee im September 2022 begann umgehend die Verfolgung von „Kriegsverbrecher:innen und Kollaborateur:innen“. So wenig Sympathie wir für Putins Folterknechte in diesen Gebieten haben, soviel Zweifel haben wir daran, dass hier etwas anderes als eine „Abrechnung“ und „Ukrainisierung“ stattfindet mit nicht wenigen unschuldigen Opfern. Diese Gebiete zurückzuerobern ist jedenfalls schon ein offensives Kriegsziel, was in Aurora Nr. 27 auch explizit gesagt wird. Von einem „Selbstverteidigungsrecht“ eines – zudem von Oligarch:innen, extrem nationalistischen und autoritären Strukturen durchzogenen – bürgerlichen Staats zu sprechen, verwirrt die Frage mehr, als sie klärt.

Aber auch unabhängig von den propagierten Kriegszielen der ukrainischen Regierung scheint ein wesentlicher Aspekt zu wenig beleuchtet: der geopolitische Gesamtzusammenhang und die Konkurrenz zwischen den Großmächten. Imperialismus bedeutete schon immer mehr als „nur“ direkte Herrschaft oder die Annexion von Gebieten. Der Imperialismus stellt nach Lenin ein Weltsystem dar, in dem verschiedene Staaten oder Blöcke um Märkte, Rohstoffe und geopolitische Vormacht streiten. Schwächere Staaten werden dabei mehr und mehr gezwungen, sich einem „Lager“ anzuschließen, wenn ihre Bündniszugehörigkeit auch bisweilen wechseln kann. Was bedeutet das aber für die Aussage, die Ukraine verfolge „keine imperialistischen Ziele“ in diesem Krieg und daraus folgend, dass Revolutionär:innen in diesem Krieg nicht neutral sein dürften?

Festzustellen, dass die russischen Zielsetzungen in der Ukraine „imperialistisch“ sind, ist das Kernstück der westlichen Darstellungen des Krieges von den US-Republikanern bis zu den deutschen Grünen. Dass Russland „imperialistisch“ ist, scheint uns so offensichtlich wie die Tatsache, dass Putin ein Drecksack ist. Aber das ist nur die halbe, wenn nicht der kleinere Teil der Miete. Für Marxist:innen muss es doch darum gehen, das Problem in seinen gesamten Zusammenhängen zu sehen. Nicht allein Russland ist hier imperialistisch. Die Ukraine ist nicht Zentralafrika, das im 19. Jahrhundert nach den gemeinsamen Absprachen der Kongokonferenz von imperialistischen Mächten aufgeteilt wurde oder Australien, dessen Urbevölkerung vom britischen Imperialismus ohne Einmischung anderer Großmächte kolonisiert wurde. Die Ukraine ist ein Staat, dessen Legitimation seit der Unabhängigkeit 1991 auf einem antirussischen Narrativ baut, und ein Staat, der seitdem von der NATO umworben wird. Anders formuliert: Die Ukraine liegt im Spannungsfeld des imperialistischen Blockkonflikts zwischen der – schwächeren und relativ schwächer werdenden – imperialistischen Großmacht Russland und der imperialistischen NATO unter Führung der Supermacht USA. Dabei ist die Ukraine kein hilfloser Spielball beider Seiten, wie sie aber auch schon lange kein „neutraler Puffer“ mehr ist. Die Ukraine ist – geführt von ihren Oligarch:innen, die sich bessere Profite im westlichen Lager ausrechnen – de facto Teil des NATO-Blocks. Und da haben sich zwei gefunden!

So eröffnete die NATO 1997 das erste offizielle Auslandsbüro in Kyjiw, darf sich seit 2004 in der Ukraine bewegen und stellte der Ukraine 2008 eine Mitgliedschaft in Aussicht. Auch wenn die NATO dabei keinesfalls immer einig war – Deutschland und Frankreich setzten z. B. eher auf eine Partnerschaft mit Russland, während die USA die Ukraine enger einbinden wollten – so ist der Druck der NATO auf die ukrainische Politik nicht zuletzt in der Orangen Revolution 2004 und auf dem Maidan 2014 überdeutlich geworden.[10] Das ändert sich auch nicht dadurch, dass die russische Seite seit 2008 zunehmend aggressiv versucht, die Ukraine durch Destabilisierung aus der NATO rauszuhalten. Die Ukraine hat bereits vor 2008 gemeinsam mit NATO-Ländern „Auslandseinsätze“ durchgeführt, zum Beispiel die Invasion im Irak 2003. Seit langem, verstärkt aber seit 2014, wird die Ukraine von der NATO aufgerüstet, gibt es NATO-Offiziere in der Ausbildung und die Umrüstung der ukrainischen Armee auf NATO-Standards und -Kompatibilität war vor Februar 2022 in vollem Gange. Dabei ist für den Westen weniger die Verteidigung „der Ukraine“ gegen Putins Annexion der Krim oder der Krieg im Donbass Auslöser gewesen, als vielmehr der seit 1991 mal offener mal verdeckter tobende Machtkampf zwischen den ukrainischen Oligarch:innen, die auf Moskau, und denen, die auf „den Westen“ setzen. 2014 schien eine endgültige Entscheidung für die „Westfraktion“ gefallen zu sein. Zuletzt hat die Ukraine 2019 die EU- und NATO-Mitgliedschaft als Verfassungsziel beschlossen. Was anderes ist das, als Teil eines Blocks zu sein?

Unterstützung ohne Beispiel

Wurde die Ukraine bereits vor dem Februar 2022 von NATO und USA massiv aufgerüstet, so zeigt sich seit dem russischen Überfall, dass die ukrainische Armee – nach anfänglichem Zögern der BRD Regierung – von allen NATO-Ländern, besonders den USA und ihren Freund:innen in den populistischen Regierungen Osteuropas, fast unbegrenzte Mittel erhält. Während die deutsche Diskussion sich um die Lieferung „schwerer Waffen“ oder die Frage ob auch Waffen aus westlicher Produktion geliefert (und nicht nur alte Sowjetpanzer weitergegeben) werden sollten, legten die USA von Anfang an Milliardenprogramme auf, lieferten bereits im März 9000 hochmoderne Panzerabwehr- und 800 Boden-Luft-Raketen und seit April auch gepanzerte Fahrzeuge und weitreichende 155mm-Haubitzen mit moderner Munition.[11] Allein vom 24. Februar bis zum 24. August haben die USA für 10,6 Mrd. Dollar Waffen geliefert und nun weitere 3 Mrd. Dollar zugesagt.[12] Im September kamen nochmals mehrere hundert Millionen dazu, die realen oder vermeintlichen Erfolge der ukrainischen Streitkräfte im September 2022 scheinen den „Freund:innen“ im Westen Spendierhosen in XXXL angezogen zu haben. Vor dem russischen Angriff betrug der ukrainische Militärhaushalt insgesamt 11,6 Mrd. Dollar.[13] Dieses Verhältnis zeigt, dass hier nicht die Ukraine einen Krieg führt, bei dem sie Hilfe bekommt, sondern dass es längst ein Krieg der USA und der NATO mit Russland ist, den ukrainische Soldat:innen ausfechten.

Ähnlich wichtig wie die Waffenlieferungen sind die sonstigen Unterstützungen. So werden ukrainische Soldat:innen z. B. – sicher vor russischen Luftangriffen – auf NATO-Gebiet an neuen Waffen wie der deutschen Panzerhaubitze 2000 ausgebildet. Die USA haben von Anfang an Aufklärungs- und Zieldaten mit der Ukraine geteilt, was vermutlich einen Gutteil der im Krieg gestorbenen russischen Generäle und auf jeden Fall die Erfolge der ukrainischen Gegenoffensive erklärt. Es sind nicht nur – wie die „Freund:innen der Ukraine“ nun behaupten – die Waffenlieferungen , die es den kampfesfreudigen Ukrainer:innen erlaubt haben, ihr „Vaterland“ (und die vermeintliche Demokratie) zu verteidigen. Nein: Es sind die Aufklärung und Zielfindung des US-Militärs, die diese Erfolge ermöglichen. Knapp formuliert: Am Abzug stehen Ukrainer:innen, aber in der Zielerfassung durch AWACS-Flugzeuge sitzen NATO-Soldaten. Es gibt mehrere Aussagen von US-Generälen vor Senats- und Kongressausschüssen, die belegen: Noch niemals in der Geschichte des Bündnisses hat es einen derart weitreichenden Zugriff eines anderen Staates (einschließlich der NATO-Partner) auf die Daten des US-Militärs gegeben. Um die Bedeutung klarzustellen: Zwei bis drei türkische Bayraktar-Drohnen mit Zugriff auf das NATO-Aufklärungs-, Navigations- und Feuerleitsystem erzielen heute den gleichen Effekt auf dem Gefechtsfeld wie vor dreißig Jahren eine komplette Panzerjägerabteilung mit 18 Rohren. Die Septemberoperation der ukrainischen Truppen nördlich von Isjum ist im Pentagon mit neuester Computertechnik und riesigen Serverparks detailliert durchgespielt worden, brüstete sich US-Verteidigungsminister Lloyd Austin. Was ist das anderes als ein gemeinsamer Schlachtplan? Die gleiche US-Regierung (aber auch EU und Bundesregierung) spricht davon, dass eine Niederlage und nachhaltige Schwächung Russlands ihr Ziel sei.

Es ist daher – anders als in Aurora Nr. 24 behauptet – fast völlig irrelevant, ob NATO-Soldat:innen nun die Panzer in der Ukraine fahren oder nur jenseits der Landesgrenzen als Nachschublieferanten, Ausbilder:innen oder Aufklärer:innen aktiv sind.[14] Der Krieg in der Ukraine ist kein Krieg zwischen einer Halbkolonie und einem aggressiven russischen Imperialismus – es ist ein imperialistischer Krieg zwischen Russland und der NATO auf dem Territorium der Ukraine und auf dem Rücken der ukrainischen und russischen Arbeiter:innenklasse und Bevölkerungen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich als Aufgabe der Revolutionär:innen zumindest im „Westen“ eben nicht die Unterstützung des „Selbstverteidigungsrechts“, sondern der Aufbau einer internationalistischen, defätistischen und gegen den Hauptfeind im eigenen Lager wirkenden Kraft. Und das bedeutet, trotz und wegen seiner Gräuel dem Krieg gegenüber „neutral“ zu sein und an der Seite der ukrainischen wie der russischen Arbeiter:innenklasse zu stehen, die im Moment verhaftet, in Folterkellern gequält, deportiert, von einer mordenden Soldateska vergewaltigt, in Bunkern erstickt, von Granaten zerfetzt wird oder im Panzer verbrennt. Wir übersehen nicht, dass sich die schrecklichen Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung seit Februar 2022 bisher ausschließlich gegen ukrainische Staatsbürger:innen richten und in ihrem Ausmaß trotz aller Unklarheiten in der Quellenlage die Verbrechen des Asow-Regiments oder der ukrainischen Armee im Donbass seit 2014 bei weitem übertreffen. Die russische Zivilbevölkerung wird im Moment nicht durch ukrainische Truppen sondern durch die russische Polizei drangsaliert, die russischen Arbeiter:innen in Soldatenuniform aber verrecken genauso schrecklich wie ihre ukrainischen Kolleg:innen. So ist es nicht als Zynismus oder Ignoranz den ukrainischen Opfern gegenüber zu lesen, wenn wir die Opfer auf beiden Seiten der Front als Opfer in einem Krieg der Herrschenden herausstellen.

Konkret bedeutet das z. B. Waffenlieferungen an die Ukraine nicht zu befürworten, sondern den Charakter dieses Krieges und die Natur der Selenskyj-Regierung zu erklären.[15] Es bedeutet, sich dem herrschenden Narrativ vom Kampf der (ukrainischen) „Freiheit und Demokratie“ gegen die (russische) „Diktatur“ entgegenzustellen, statt dieses Narrativ unfreiwillig zu stützen, indem die Ukraine als sich „selbst verteidigende Nation“ dargestellt wird.[16] Denn es ist nicht die Ukraine und noch weniger eine heldenhafte und demokratiehungrige Bevölkerung, die die russische Armee aufhält: Es ist die NATO, das mächtigste Militärbündnis der Welt, der die Bevölkerung der Ukraine so viel wert ist, wie die Menschen in Afghanistan, im Irak oder in Libyen, die einem alten Konkurrenten seine Grenzen aufzeigt und dem neuen Konkurrenten China dabei zeigt, wo der Hammer hängt. Alle Reden von „Selbstverteidigungsrecht der Ukraine“ scheinen uns diesen Kern zu vernebeln.

Die Ukraine verteidigen aber mit den Mitteln der Arbeiter:innenbewegung?

Der Debattenbeitrag in Aurora 24 fordert, die Ukraine mit den Mitteln der Arbeiter:innenbewegung zu verteidigen. Das klingt nach Spanien 1936, Arbeiter:innenmilizen, Organisation des Lebens durch die Gewerkschaften, Klassenkampf. So sympathisch es klingt, scheint es im Moment jenseits aller Wirklichkeit. Die ukrainische Arbeiter:innenbewegung hat durch den Stalinismus und durch die Vollendung der Konterrevolution nach 1991 ihre vergangene Kraft verloren. Welche Streiks hat es in den letzten 30 Jahren gegeben? Wo sind die wirklich kämpferischen Gewerkschaften, die gesellschaftlichen Einfluss haben? Die Verteidigung der Ukraine ist im Moment die Verteidigung eines bürgerlichen Staates durch eine bürgerliche Armee unter paralleler Gleichschaltung von Medien und Angriffen auf das Streikrecht. Daran ändern auch einzelne Anarchist:innen und Sozialist:innen nichts, die sich den Territorialverteidigungskräften anschließen.

Selbst das könnte – wie das Beispiel Frankreich 1870/71 gezeigt hat, als die „revolutionäre Vaterlandsverteidigung“ zur Pariser Commune geführt hat – ja eine revolutionäre Potenz haben… allerdings sehen wir davon nach einem halben Jahr Krieg kaum etwas. Eher scheint das Gegenteil der Fall. Konnte man – wie in Aurora Nr. 24 geschehen – im Frühjahr noch im Narrativ von der kampfeswilligen und politisch bewussten ukrainischen Bevölkerung sprechen, so scheint es auch in der ukrainischen Armee mittlerweile Unzufriedenheit und Desertationen zu geben. Viele Berufssoldaten sind gefallen, Ersatz wird oft schlecht ausgebildet und ausgerüstet an die Front geschickt. Noch immer ist es Männern zwischen 18 und 60 Jahren verboten, das Land zu verlassen, gilt Desertation als Verbrechen. Und es gibt Männer, die versuchen den willkürlichen Rekrutierungen und dem Wahnsinn des imperialistischen Krieges zu entfliehen.[17] Wie stehen Revolutionär:innen dazu? Objektiv werden hier Arbeitende in eine bürgerliche Armee gesteckt und unabhängig von ihrer Meinung zur Verteidigung der Interessen der Oligarch:innen und der NATO geschickt. Wenn Revolutionär:innen die russische Armee für den Hauptfeind, die Verteidigung der Ukraine für ein legitimes Selbstverteidigungsrecht erklären, dann können sie den Wehrpflichtigen und den Familienvätern in ukrainischen Uniformen eigentlich wenig anderes sagen als Selenskyj:  „Man [Putin] erzählt euch, dass man die Ukrainer befreien würde, aber die Menschen in der Ukraine sind frei.“ Außer die Zivilpolizei schleift sie in Autos und steckt sie in Uniformen.

Die Revolutionäre in der BRD und Österreich: Gegen die Aufrüstung, aber nicht gegen Waffenlieferungen?

Zunächst soll die Bedeutung der Frage auch jenseits aller praktischen Einflussnahme kurz skizziert werden: Wer – wie ein Teil der radikalen Linken – Waffen liefern will, muss sie auch herstellen. Die Interventionistische Linke Bremen lehnte daher ihre Beteiligung an der „Rheinmetall entwaffnen“-Kampagne mit genau der Begründung ab. Die Aurora-Artikel von Richard Lux schweigen dazu, aber wenn wir Waffen liefern „an sich“ richtig finden, dann können wir auch schlecht gegen ihre Produktion sein, auch wenn Arbeiter:innenkontrolle bei Rheinmetall gerade jenseits aller Vorstellung liegt. Sollte eine – fiktive – RSO-Betriebsgruppe bei Rheinmetall also die Arbeiter:innen zu guter Arbeit auffordern, wenn die Lieferung nach Kiew geht? Oder zum Streik? Oder …?

Wichtiger: Wenn wir Waffen für die Ukraine richtig finden, damit diese sich „gegen den russischen Angriff“ verteidigt, wie widersprechen wir dann Scholz, wenn er für die Verteidigung der BRD oder des NATO-Gebiets Waffen fordert? Putin hätte sicher keine Scheu andere Länder anzugreifen als die Ukraine, wenn er das mit guten Chancen tun könnte. Die BRD oder Österreich sind da keine Ausnahmen. Sind Waffen für die Bundeswehr also nur deshalb nicht nötig gegen Putin, weil Uncle Sam uns mit seinen Atomwaffen schützt? Das wäre eine schräge Argumentation aber selbstverständlich würde das kein:e ernsthafte:r Revolutionär:in sagen (und schon gar nicht unser Genosse, der in Aurora Nr. 24 geschrieben hat!) aber so unrecht haben Selenskyj und von der Leyen nicht: Die Ukraine führt gerade den Krieg für EU und „den Westen“ (wenn auch sicher nicht für „die Demokratie“). Wenn wir „Waffen für die Ukraine“ gegen die russische Aggression nicht ablehnen, dann müssten wir einem angegriffenen Polen, einem angegriffenen Schweden oder einer angegriffenen BRD diese Waffen ja genauso zugestehen. Und das klingt sehr nach Grünen oder SPD.

Aurora Nr. 27 spricht davon, dass „wir daher zwar die eigenen imperialistischen Kalküle Deutschlands, der NATO und der USA entlarven und bekämpfen müssen, nicht aber Waffenlieferungen an die Ukraine an sich.“ Nun stellt sich die Frage, was eine Waffenlieferung „an sich“ ist. Abstrahiert sie vom konkreten Empfänger und stellt damit die revolutionäre Arbeiter:innen-Selbstverteidigungsmiliz mit einer motorisierten Schützendivision der bürgerlichen ukrainischen Armee gleich? Oder ist eine Waffenlieferung „an sich“ lösbar von den Interessen des Lieferanten? Das ist sie nicht. Denn immerhin hat im Westen niemand Waffenlieferungen an die YPG gegen die Invasion des Autokraten Erdogan gefordert oder Armenien gegen den erneuten Angriff der aserbeidschanischen Diktatur „Abwehrwaffen“ geliefert. Bisher hat das auch in der radikalen Linken niemand gefordert.

Was also sind „Waffenlieferungen an sich“? Sinnvoll wird der Begriff nur, wenn sowohl der Empfänger als auch der Lieferant und die historische Situation ausgeblendet werden. So abstrakt kann man gar nicht dagegen sein. Jedes bisschen Konkretisierung aber – von der Waffenlieferung „an sich“ zu Waffenlieferung „für sich“ (oder eben „von wem für wen“) – müsste nach den in Aurora Nr. 27 deutlich gemachten Prämissen abzulehnen sein. Denn dort heißt es: „Die NATO wünscht, dass sich Russland in der Ukraine eine blutige Nase holt, deshalb all die Militärunterstützung. Doch selbst wenn Russland mit NATO-Hilfe zurückgeschlagen würde, wäre das längst keine Befreiung für die Arbeiter:innen der Ukraine.  Die Selenskyj-Regierung im Dienste der Oligarchen benutzt den Krieg, um die rechtlichen Standards der Arbeitenden um Jahrzehnte zurückzudrehen und die Ausbeutungsbedingungen für die Zukunft zu verschärfen.“ Das ist genau der Kontext, unter dem im Moment Waffen geliefert werden und kein anderer, in dem – wie sehr wir dies auch wünschen – „unabhängig und zum Teil gegen die Regierung Selenskyj“ organisierte Arbeiter:innenbataillone gegen Putin und die ukrainischen Oligarch:innen kämpfen.[18]

Solange eine solche Bewegung nicht im Ansatz existiert, verunklaren die Reden von „Waffenlieferungen an sich“ oder dem „Recht auf militärische Verteidigung“ nur die Fragestellung, da sie das – nach allem, was wir wissen, falsche – Bild einer um ihre Freiheit kämpfenden Bevölkerung am Leben halten, wo doch real eine bürgerliche Armee mit NATO-Hilfe und mindestens mit NATO-Willen einen brutalen Krieg gegen eine andere reale bürgerliche Armee führt.

Die Bevölkerung der Ukraine als Subjekt

Und in der Ukraine? Was müsste da die richtige Haltung sein? Inwiefern muss unsere Politik in der BRD (und Österreich) auch eine Politik für die arbeitenden Menschen in Kiew, Charkiw, Odessa und Lwiw sein? Kurz: Wir trauen uns kein Urteil zu. Wir sind nicht vor Ort. Wir kennen die Verhältnisse zu wenig und nur aus – oft bürgerlichen! – Medien. Wir hören zu wenige Stimmen aus der ukrainischen Linken. Manche Parteien scheinen alles andere als „links“ zu sein, sondern verkleidet als „Sowjetnostalgiker:innen“ die Unterstützung Russlands zu fordern. Andere werden von der Selenskyj-Regierung – ohne Prüfung – unter diesem Vorwurf verboten. Ein Teil der Anarchist:innen, aber auch anderer Linker, scheint sich mit mehr oder minder großer Eigenständigkeit dem in Friedenszeiten so verhassten Staat beim Projekt der Vaterlandsverteidigung mit der Waffe angeschlossen zu haben – in Einzelfällen sogar gemeinsam mit extremen Nationalist:innen. Ein anderer Teil – unabhängige Gewerkschafter:innen, Feminist:innen, Klimabewegte – kritisieren zwar aktiv die eigene Regierung in innen- und sozialpolitischen Fragen wie dem Sprachengesetz oder den Anti-Gewerkschaftsgesetzen, halten aber die Abwehr der russischen Invasion und die Unterstützung der Armee für richtig. Gruppen, die aktiv einen revolutionären Defätismus, eine Verbrüderung mit den russischen Wehrpflichtigen und eine Klassenunabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse propagieren, kennen wir nicht. Vor einem solchen Hintergrund ist es unmöglich eine Politik für die ukrainische Arbeiter:innenklasse am grünen Tisch zu konzipieren.

Dabei sind wir selbstkritisch: Es ist Aufgabe der „westlichen“ Revolutionär:innen Kontakte und Austausch mit Aktivist:innen in der Ukraine zu suchen. Auch wenn wir ihre Positionen mit Blick auf die „Vaterlandsverteidigung“ nicht teilen, gebührt all den Genoss:innen, die im Mai eine gemeinsame Konferenz in Lwiw organisiert haben unser Dank und unsere Anerkennung dafür, nicht nur „über“ sondern „mit“ Menschen aus der Ukraine zu sprechen.[19] Dieser Austausch, dieses Lernen muss fortgesetzt werden, gerade auch wenn unterschiedliche Positionen bestehen.

Auch wenn die Unterstützung der ukrainischen Regierung auch in der Frage der „nationalen Verteidigung“ falsch bleibt, so befremdet es doch, wie Linke außerhalb der Ukraine die Frage des Krieges auf Geopolitik reduzieren und der Bevölkerung (und damit auch der Arbeiter:innenklasse) der Ukraine jedes Recht auf einen eigenen Standpunkt absprechen. Revolutionärer Internationalismus bedeutet auch, den Arbeitenden vor Ort zuzuhören, statt nur aus dem Ausland zu erklären, dass sie sich nun eben zu ergeben hätten oder – noch schlimmer – ihnen detaillierte revolutionäre Forderungen vorzuschreiben. Es gilt zuzuhören und zu verstehen. Allerdings in alle Richtungen. Nur weil eine kleine Gruppe von ca. 100 Genoss:innen der „Sozialen Bewegung“ etwas analysiert oder fordert, muss das nicht die Wahrheit sein, noch die „Stimme der ukrainischen Linken“, die wie in Deutschland oder Österreich weder eine dominierende Organisation noch wirklichen Einfluss in der Arbeiter:innenklasse zu haben scheint.

Eine Gruppe wohlgemerkt, die zwar – aus unser Sicht bewundernswert – unter den Bedingungen von Krieg und innenpolitischer Repression gegen den Abbau von Arbeiter:innenrechten kämpft, sich aber zumindest im Aurora-Interview nicht zur Rolle der NATO im eigenen Land oder dem Verfassungsziel der NATO-Mitgliedschaft äußert. Eine Gruppe, die im April von einem „Volkskrieg“ gegen den russischen Imperialismus schrieb und jede Gleichsetzung von NATO und Russland mit Verweis auf die zynische Politik Putins ablehnte.

Wir maßen uns nicht an, für die ukrainischen Arbeiter:innen eine Politik zu haben und wir sind der Auffassung, dass ein großer Teil der deutschen revolutionären Linken im Moment aller wortgewaltigen Aufrufe und schmetternden Reden zum Trotz noch genauso „Suchende“ wie wir selbst sind. In diesem Sinne wollen wir unseren Diskussionsbeitrag auch nicht als „dreinschlagende Polemik“ oder als Vorwurf des „Verrats an der Arbeiter:innenklasse“, sondern als ehrlichen Wunsch nach gemeinsamen – internationalen und strömungsübergreifenden – Antworten verstanden wissen. Der Artikel in Aurora Nr. 27 gibt uns Hoffnung, dass die Differenzen – trotz der oben beschriebenen Unklarheiten – zumindest innerhalb der RSO vielleicht kleiner sind, als zunächst gedacht.

Jakob Erpel, Düsseldorf und Dimitri Otto, Berlin


[1] Hans-Magnus Enzensberger (1994)

[2] Marx: Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosphie (1843).

[3]Das bedeutet nicht, dass die Herren in St. Petersburg, die zaristischen Beamten oder die lokalen Eliten nicht auf die ukrainischsprachigen Bauern herabblickten, die ein „schlechtes Russisch“ sprächen, eine primitive „Volkskultur“ pflegten und ohne jede (vermeintlich russische) Kultur seien. Aber ähnlich dachte auch ein (französischsprachiger) Friedrich II. über seine preußischen Untertanen, ohne sie dabei „national“ zu unterdrücken.

[4]Das mag anders aussehen, wenn tatsächlich das ganze Gebiet der Ukraine von russischen Truppen besetzt wäre, wonach es aber zu keinem Zeitpunkt dieses Krieges aussah und wobei auch fraglich ist, ob dies jenseits aller Propagandareden wirklich ein realistisches Ziel der russischen Führung war. Die aktuellen Entwicklungen durch NATO-Waffen und US-Unterstützung lassen es vollends als theoretische Überlegung erscheinen (Stand Okt. 2022).

[5]Die Kors:innen versuchen ebenfalls sich als von Paris national unterdrückt darzustellen, stellten aber die beiden einzigen französischen Kaiser und – vielleicht entscheidender – wichtige Teile des französischen Polizei-, Staats- und Kolonialapparats.

[6]Ähnlich, nur infolge der politischen Kräfteverhältnisse weniger erfolgreich, versuchten übrigens gerade im Osten der Ukraine Oligarch:innen an den Mythos der historischen „slawischen Brudervölker“ anzuknüpfen, um den ukrainischen Nationalstaat – der ihre Profite besser garantierte als der russische – als „Freund Russlands“ zu erfinden.

[7] Um nicht missverstanden zu werden: Wir leugnen keinesfalls die ca. 3,5 Millionen ukrainischen Toten der Hungerkatastrophe (oder die ca. 3 Mio. russischen und 1,2 Mio. kasachischen Opfer) und auch nicht die alleinige Verantwortung der stalinistischen Führung der KPdSU einschließlich der Tatsache, dass es in diesem Zusammenhang auch zu Maßnahmen wie der Abriegelung der Hungergebiete in der Ukraine (aber auch im Nordkaukasus und in Kasachstan) und damit die Verhinderung vor dem Hunger zu fliehen oder gezielten Terror gegen die ukrainische „Intelligenz“ im Frühjahr 1933 gab. Die Motivation aber lag – wie an der Ähnlichkeit der Maßnahmen in anderen Gebieten der UdSSR erkennbar – nicht in einem „nationalen Hass“ der Russ:innen gegen Ukrainer:innen.

[8] https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine/261818/analyse-eine-erinnerungskulturelle-zerreissprobe-wie-das-ukrainische-institut-fuer-nationale-erinnerung-ein-neues-nationalukrainisches-narrativ-konstruiert/

[9] Es geht nicht darum, den Genoss:innen „Einknicken“ vorzuwerfen. Wichtig aber ist festzustellen, dass bei aller Kritik an der Aufrüstung, an der deutschen Regierung, an der NATO usw. in einem zentralen Punkt deren Argumentation nicht kritisiert wird.

[10] Damit soll nicht gesagt werden, dass „der Maidan“ nur ein Werk von George Soros oder westlicher Geheimdienste gewesen sei. Der „Westen“ aber wusste die Bewegung, deren ehrlicher Hass auf das korrupte Regime nur zu legitim war und deren Hoffnungen auf „echte Demokratie wie in Europa“ nachvollziehbar sind, zu beeinflussen und für seine Interessen zu nutzen.

[11] https://www.vienna.at/pentagon-veroeffentlichte-liste-zu-waffenlieferung-was-die-ukraine-erhaelt/7374706

[12] https://www.heise.de/tp/features/Ukraine-Krieg-Weitere-Waffenlieferungen-aus-dem-Westen-7242212.html

[13] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1287041/umfrage/vergleich-verteidigungsbudget-russland-ukraine/

[14] Nebenbei bemerkt: Um die Aufklärungsdaten auslesen zu können, müsste die Ukraine entweder Zugang zu US-/NATO-Codes oder US-/NATO-Verbindungsoffiziere im Land haben. Ersteres wäre ein sehr großer Schritt, was die Anwesenheit von US-Soldaten im Land wahrscheinlicher macht. Somit scheinen tatsächlich bereits Landesgrenzen überschritten worden zu sein.

[15] Die Frage der Waffenlieferung scheint uns eine sekundäre und eher „theoretische“. Ob es uns gefällt oder nicht: Keine revolutionäre Gruppe in Europa ist im Moment in der Lage, Waffenlieferungen tatsächlich zu verhindern oder auch nur wesentlich zu erschweren. Daran ändern auch die Einzelaktionen in Italien oder Griechenland nichts.

[16] Hier ist in Aurora Nr. 27 wirklich eine kaum zu unterschätzende Klärung eingetreten, die manche Unklarheiten aus dem April beseitigt.

[17] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-rumaenien-grenze-101.html

[18] alle Zitate aus Aurora Nr. 27: „Ukraine-Krieg: Soll das so weitergehen?“

[19] https://www.akweb.de/ausgaben/682/warum-eine-auseinandersetzung-mit-linken-positionen-aus-der-ukraine-not-tut/

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