Streikbewegung in Frankreich: nach Streik unterm Weihnachtsbaum die Bescherung im Januar?

Seit dem 1. Januar ist es der längste Bahnstreik in der Geschichte Frankreichs: länger als der Kampf gegen die Rentenreform von 1995, länger als 1986, als ebenfalls der Weihnachtsverkehr zum Erliegen kam. Seit dem 5. Dezember wird bei Bahn und Pariser ÖPNV unbefristet gestreikt, sowie in geringerem Maße bei LehrerInnen, in den Raffinerien oder bei der Energieversorgung. Und über alle Sektoren hinweg, wird an den großen Aktionstagen gestreikt.

Über die ersten Tage und die Entstehung der Bewegung wurde bereits in der „Aurora“ berichtet (Aurora Nr. 4, Sturmwarnung über Frankreich: Gegen die Rentenreform und das prekäre Leben!). Seither folgten noch zwei große zentrale Aktionstage. Am 10.12, an dem etwas weniger Menschen auf der Straße waren. Und am 17. Dezember, an dem noch mehr Menschen auf der Straße waren als am ersten Tag des Streiks – nach Zahlen der stärksten Gewerkschaft CGT bis zu 1,8 Millionen in ganz Frankreich.

In all diesen Großdemos konnte man sehen, dass die Bewegung weit über die Verteidigung der „speziellen Rentensysteme“ der BahnerInnen hinausgeht: Blöcke mit Feuerwehrleuten oder Beschäftigten aus den Krankenhäusern, die seit Monaten für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen kämpfen, andere streikende Sektoren aus dem öffentlichen Dienst (wie bei der Post, wo am 5. Dezember ca. 35.000 streikten), Studierende und SchülerInnen, aber auch Blöcke oder kleine Gruppen aus unzähligen Privatbetrieben. Diese haben nach den ersten Erklärungen der Regierung oft erkannt, dass die Reform alle betrifft.

War es vorher Sympathie mit den Streiks im öffentlichen Sektor, der am meisten zu verlieren hat, und eine tiefgreifende Ablehnung des Präsidenten Macron, sahen nun viele, dass die Rentenpläne konkret weniger Rente und ein späteres Renteneinstiegsalter für sie bedeuten würden. Mit ihren Erklärungen am 11. Dezember, denen seither weitere gefolgt sind, hat die Regierung es also nicht nur nicht geschafft, die Bewegung zu spalten, sondern hat sogar die eigentlich mit Macron Hand in Hand gehende Gewerkschaft CFDT gegen sich aufgebracht und die Wut im Privatsektor verstärkt. Wirkliche Antworten auf die Bewegung gab die Regierung nicht, außer dass die Reform nun erst für nach 1975 (inzwischen nach 1985) Geborene angewendet wird, es längere Übergangszeiten für die „Spezialsysteme“ geben wird und es individuelle Anpassungen für diejenigen, die zu viel Geld verlieren, geben soll. Nur ein Sektor hat bereits bekommen, was er wollte: Die Polizei und das Militär dürfen ihre spezielle Rente behalten!

Privat und öffentlich, alle gemeinsam: Generalstreik!“

Die Streikenden sind sich bewusst, dass die größten Erfolgschancen der Bewegung mit einer Ausweitung des Streiks auf andere Sektoren, gerade in den Privatbetrieben, zusammenhängen. Vielerorts verteilen sie Flugblätter vor Betrieben, in Industriezonen oder Einkaufszentren. Auch in den bestreikten Betriebs-höfen und Bahnhöfen wird weiter versucht, die (wenigen) Nicht-Streikenden zu überzeugen. Dabei sind die Zahlen weiterhin gut: bei den LokführerInnen der Metrogingen am 26. Dezember, nach22 Tagen Streik, nur 150 von 3.000 zur Arbeit!

Doch obwohl für den Moment nur zwei Sektoren mehrheitlich und sichtbar im unbefristeten Streik stehen, gibt es (trotz verhaltener dahingehender Versuche einiger Gewerkschaften) keinerlei Korporatismus: „Alle gemeinsam!“ und zwar nicht nur gegen die Reform, sondern gegen „Macron, den Präsidenten der Bosse“. Und obwohl die Medienwenig von den anderen Brand-herden reden, sind die BahnerInnen und die RATP (der Pariser ÖPNV) bei weitem nicht alleine. Die Lehrer-Innen wollen nach dem Ferienende weiterstreiken. In der Energieversorgung verstärkt sich der Streik: lokale Gewerkschaftsgliederungen haben gezielte Stromausfälle, z.B. in Einkaufszentren, organisiert. Anderseits haben sie aber auch in Privathaushalten Stromzähler, die wegen Zahlungsrückständen vom Netz genommen worden waren, wieder angeschlossen! In den Raffinerien wird gestreikt, und auch wenn die Reserven des Militärs für drei Monate reichen und keine Gefahr von Engpässen besteht, stehen täglich mehrere hundert Tankstellen, ob des Ansturms beängstigter AutofahrerInnen, leer.

Die Zahl kleiner Betriebe, die die Streikatmosphäre für lokale An-liegen und Auseinandersetzungen genutzt haben, ist groß, ebenso wie die größerer Betriebe, die in starker Zahl zu den großen Streiktagen und Demos auftauchen. Die Frage wird also sein, ob die nächsten Höhepunkte des Streiks nach den Ferien signifikante und medial sichtbare Privatbetriebe mitziehen werden. Oder ob die Regierung, die durch die den französischen „Arbeitgeber“-Verband MEDEF gut genug informiert ist, genug Angst vor einer Welle in den Privatbetrieben bekommt, um provisorisch einzulenken und die Reform, oder noch mehr, fallenzulassen.

Der Streik den Streikenden“

Dieser Streik und die gesamte Bewegung sind nicht aus dem Nichts entstanden. Seit 2016 sind in Frankreich immer wieder mehr oderweniger große Bewegungen ausgebrochen, in denen sich Teile der ArbeiterInnenklasse politisiert haben: gegen die Arbeitsrechtsreform 2016, der Bahnstreik gegen die Teilprivatisierung und die Studibewegung 2018, und selbstverständlich die Gelbwestenbewegung seit Dezember 2018. Besonders diese Bewegung, an der gerade von den Streikenden der RATP viele teilgenommen haben, hat den Willen, die die eigene Bewegung selbst zu kontrollieren und eine Skepsis gegenüber den Gewerkschaftsleitungen hinterlassen.

Bereits bei den ersten Demonstrationen marschierten Zehntausende, häufig mehr als die Hälfte des Demozugs, vor den eigentlichen Gewerkschaftsblöcken; was zwar nunmehr schon seit einigen Jahren üblich ist, aber in dieser Bewegung ist das deutlich sichtbarer und es sind erkennbar die Beschäftigten verschiedener Branchen.

Gerade am 17. Dezember taten sie dies häufig mit selbstgeschriebenen Transparenten, deren Sprüche auch hier häufig weit über die Rentenreform hinausgingen, und hinter denen gewerkschaftlich Organisierte aller Gewerkschaften und gar nicht organisierte Streikende ihrer jeweiligen Betriebshöfe, Bahnhöfe, Unis, Schulen oder Krankenhäuser zusammen marschierten. Gerade bei der RATP sind häufig die aktivsten Streikenden ehemalige Gewerkschaftsmitglieder, die nach dem letzten großen Streik 2007, bei der die Gewerkschaften gegen den Willen vieler Streikender zur Wiederaufnahme der Arbeit aufgerufen hatten, ausgetreten waren.

Zum ersten Mal seit langem wurden vielerorts Streikkomitees von den Streikversammlungen gewählt, mit Streikenden aller Gewerkschaftsorganisationen und nicht gewerkschaftlich Organisierten. Einige Streikkomitees bringen nur die motiviertesten Streikenden zusammen und bieten einen Ort, um Protokolle der Streikversammlungen, Flugblätter nach außen etc. zu verbreiten. Doch andere haben sich lokal bereits als eine alternative Streikleitung bewiesen, werden von den Streikenden direkt gewählt und sind vor ihnen verantwortlich.

Auch der Wille, diese basisdemokratischen Organe zu koordinieren, hat sich gezeigt, doch bis jetzt sind diese Versuche lokal und recht klein geblieben. Ganz ohne Einfluss sind sie allerdings nicht: Seit dem10. Dezember wurden die Demos weder von Gewerkschaften noch vom Schwarzen Block angeführt, sondern von basisdemokratisch organisierten SNCF/RATP-Blocks mit ihren Bannern und einem spontan organisierten Ordnungsdienst!

Seit Beginn des Streiks haben sich die Gewerkschaften unter dem Druck der Basis zudem gezwungen gesehen einen radikalen Ton aufrechtzuerhalten, gegen Verhandlungen oder korporatistische Kleinsterrungenschaften und für die vollständige Rücknahme der Reform, wenn nicht mehr!

Als sich am 19. Dezember die zwei Gewerkschaften UNSA und CFDT für eine „Weihnachtspause“ aussprachen, dauerte es kaum eine halbe Stunde bis es Pressemitteilungen von regionalen Gewerkschaftsgliederungen oder Bahnhofssektionen der UNSA hagelte, in denen sie sich gegen ihre Leitungen stellten und zur Weiterführung des Kampfes aufriefen – auch aus Angst, dass ihre Basis sowieso weiter streiken würde und sie somit die Kontrolle verlieren würden. Die anderen Gewerkschaften riefen dazu auf, den Streik über Weihnachten weiter zu führen und riefen zur nächsten Großdemo auf … am 9. Januar! Nach zwei Wochen Streik dauert es also noch einmal zwei Wochen bis zur nächsten großen Demo, bei der man seine Kräfte zählen und Motivation tanken kann und die eine Möglichkeit ist, neue Sektoren in den Kampf mitzuziehen!

Der Wille der Streikenden, sich Gehör zu verschaffen, hat sich also in diesen Tagen klarer als je zuvor gezeigt: Streikende, die „ihre“ Leitung zum Teufel jagen, wenn diese zur Pause aufruft, zahlreiche Vollversammlungen, die sich öffentlich gegen die de facto– Pause stellen, die der 9. Januar als fernes Datum darstellt, und lebendige Treffen verschiedener Zusammenhänge, die sich zum Ziel gesetzt haben, eine basisdemokratische alternative Leitung des Streiks durch die Streikenden selbst aufzubauen!

Keine Verhandlungen, keine Pause: Rücknahme der Renten-reform!“

Unter diesem Druck haben sich die Gewerkschaften bei der Bahn gezwungen gesehen, am 28. Dezember Demonstrationen zu organisieren, bei denen in vielen Städten Frankreichs die Streikenden zusammen mit den Gelbwesten demonstrierten; in Paris „nur“ knapp 4.500, doch wie seit Anfang der Bewegung und bereits während der Gelbwesten gab es auch in Kleinstädten Demos mit hunderten TeilnehmerInnen.

In Paris hatte zwei Tage vorher eine von Komitees und Streikversammlungen ohne Unterstützung der Apparate organisierte Demonstration stattgefunden, an der ungefähr 1.500 Streikende und Unter-stützerInnen teilnahmen.

In den Medien findet derweil ein „Kampf der Zahlen“ statt: da viele BahnerInnen während der Ferien einige freie Tage haben, sich krankschreiben lassen oder aus finanziellen Gründen einen Tag wieder arbeiten (in Frankreich gibt es –anders als in Deutschland oder Österreich – kein Streikgeld), gehen die Zahlen zurück und die Journalisten schreiben das Ende des Streiks herbei. Seltsamerweise fahren dadurch aber nicht mehr Züge! Und wenn ja, dann mit unterirdischen Sicherheitsbedingungen, auf nicht gewarteten Strecken und mit in zweiwöchigen Expressausbildungen zu LokführerInnen umfunktionierten Führungskräften!

Denn die Entschlossenheit ist intakt: vielerorts etablieren sich Streikkassen, um länger durch-halten zu können, sowohl lokal als auch auf Ebene der Gewerkschaften, von denen die größte bereits 1 Million € gesammelt hat. Denn auch das ist beeindruckend: Trotz desenormen Verkehrschaos, auf den Straßen wie in den wenigen Zügen und überfüllten Bussen, bleibt die Stimmung den Streikenden gegenüber positiv.

Das ist der Fall in den Umfragen, nach denen immer noch eine Mehrheit den Streik unterstützt und die Reform ablehnt, aber vor allem in den Zügen, wo trotz komplettem Chaos die Stimmung beeindruckend ruhig ist … und wenn gemotzt wird, dann häufig gegen die Regierung, die ihre Reform doch zurückziehen solle, um die Situation wieder zu beruhigen!

Noch hat die Regierung kaum Zugeständnisse machen müssen. Sie hat stückchenweise das Geburtsjahr verschoben, ab dem die Rentenreform angewendet wird und vorteilhaftere Übergangsperioden für die streikenden Sektoren vorgeschlagen (manchmal sogar für die streikstärksten Berufsgruppen innerhalb der Bahn selbst!). Was bei den am meisten kämpferischen Bereichen nur für ein müdes Lächeln gesorgt hat, hat zumindest einige Gewerkschaften bei Air France dazu bewegt, ihren Streikaufruf vorerst aufzuheben. Bei der Pariser Oper, wo ebenfalls gestreikt wird, sollte die Reform für die TänzerInnen nun erst bei den ab 2022 neu Eingestellten wirksam werden (was die Streikenden mit einer entschlossenen öffentlichen Erklärung abgelehnt haben).

Und der „Hohe Kommissar“, der die Reform für die Regierung ausgearbeitet hatte, musste inzwischen aufgrund „akuter Demenzerscheinungen“ zurücktreten: Er hatte 14 Nebeneinkünfte und Posten „vergessen“ anzumelden, darunter einen bei Versicherungen, die durch private Altersvorsorgen am meisten von sinkenden Renten profitieren würden!

Einige Gewerkschaften trauerten um seinen Abgang und den seiner Expertentruppe, während die Streikenden entgegneten: „Um zu sagen, dass sie die Reform zurücknehmen, brauchen sie doch keinen Experten!“

Können wir gewinnen?

In einer solchen Situation ist es immer gewagt, Prognosen aufzustellen. Doch auch wenn die Regierung hofft, dass sich die Bewegung totlaufen wird, deutet momentan wenig darauf hin. Weder in der Entschlossenheit der Streikenden, noch in der Entwicklung der Streikzahlen.

In dieser Situation müssen die RevolutionärInnen weiter alles tun, um die existierenden Streikkomitees und Streikversammlungen zu stärken und Versuche der Koordinierung der Kämpfe weiterzuentwickeln und mit mehr Leben zu füllen.

Denn auch wenn ein Teil des weiteren Verlaufs der Bewegung davon abhängt, wie erfolgreich der 9. Januar sein wird (und bis jetzt wenig darauf hindeutet, dass es kein Erfolg werden sollte), sieht man bereits Anzeichen, dass einige Gewerkschaften langsam auf die Bremse treten wollen und dafür bereits das Terrain testen.

Umso wichtiger ist es also, dass die Streikenden eine unabhängige Stimme erheben. Dass sie sich eine alternative Streikleitung schaffen, die allen Streikenden eine von unten bestimmte Politik vorschlagen kann, die nicht an Apparatinteressen gebunden ist, sondern dem Willen und den Interessen der Kämpfenden direkt entspricht. Denn es besteht die Möglichkeit, diese Regierung zurückzudrängen, und auf dem Weg allerhand zu gewinnen, was noch über die Rentenreform hinausgeht!

In Regierungskreisen hieß es vor dem Streik: „Eine Woche halten wir ohne Probleme. Bei zwei wird’s kompliziert. Länger schaffen wir es nicht!“. Wir werden uns nicht an Prognosen wagen, aber wir hoffen, dass ihre wahr werden!

Paris, 29.12.2019

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