Russische Stimmen gegen den Krieg

Mit dem Krieg gegen die Ukraine hat die Repression von Putins Staatsapparat gegen die eigene Bevölkerung ganz neue Dimensionen angenommen. Wer „falsche“, also kritische Informationen über diesen Krieg verbreitet, dem drohen bis zu 15 Jahre Gefängnis, und schon von „Krieg“ zu sprechen ist in Russland verboten. Ein Mann wurde festgenommen, weil er das Buch „Krieg und Frieden“ von Tolstoi gezeigt hat, eine Frau, weil sie bei einer Mahnwache ein weißes Blatt Papier hochhielt.

Und trotzdem protestieren immer wieder Russ:innen mit großem Mut. Mitten in den Abendnachrichten hielt eine Journalistin ein Plakat in die Kamera: „Stoppt den Krieg. Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen.“ Und seit Beginn des Krieges gab es mehr als 15.000 Festnahmen bei russischen Anti-Kriegs-Demonstrationen.

Wir dokumentieren Stellungnahmen1 der revolutionären Organisationen Rossijskoje Sozialistitscheskoje Dwischenie (Russische Sozialistische Bewegung, RSD) und Revoljuzionnaja Rabotschaja Partija (Revolutionäre Arbeiterpartei, RRP).

Stellungnahme der RSD vom 21. Februar (nach Putins Anerkennung der „Volksrepubliken“ und drei Tage vor der Invasion):

Gegen den russischen Imperialismus, Hände weg von der Ukraine!

Soeben hat Putin seine Ansprache an die Russen beendet. Der Mann, der sich Präsident nennt, begann seine Rede mit einer antikommunistischen Huldigung und er erklärte, dass Wladimir Iljitsch Lenin der Schöpfer der Ukraine sei und dass die Ukraine in ihrer heutigen Form – das Ergebnis der Nationalitätenpolitik der Bolschewiki sei. Mit seinem Vorwurf an die Bolschewiki „Nationalisten herangezüchtet“ zu haben, bemäntelt er die schlimmste und widerlichste Form des Nationalismus – den großrussischen Chauvinismus2. Vor diesem Hintergrund hat Putin den Ukrainer:innen angedroht, ihnen zu zeigen, was „Dekommunisierung“3 bedeute. In Anbetracht des Kontextes seiner Rede kann man diese Worte nicht anders denn als Drohung mit einer direkten Intervention in der Ukraine verstehen. Es überrascht nicht, dass Putin neben seiner Kritik an Lenins Nationalitätenpolitik auch gegen Planwirtschaft und Verstaatlichung zu Felde zog und sich lobend über den Stalinismus äußerte.

Alles, was Putin über die Ukraine sagte, Verfolgung der Opposition, Korruption, steigende Preise für Waren und Dienstleistungen, Abwesenheit unabhängiger Gerichte …, klingt, als hätte er über Russland gesprochen. Wir leugnen nicht, dass die Reformen, die in der Ukraine stattgefunden haben, zu ungeheuerlicher sozialer Ungleichheit, Verarmung der Bevölkerung, Arbeitslosigkeit und anderen Problemen führen. Wir sind jedoch der festen Überzeugung, dass das Schicksal der Ukraine von den Arbeiter:innen und allen ausgebeuteten Schichten dieses Landes entschieden werden muss und nicht von russischer Militärtechnik und pro-russischen Lobbyist:innen. Die Schulden der Ukraine bei der Russischen Föderation, an die Putin erinnert hat, sind kein Grund für eine militärische Invasion. Diese Schulden hat nicht die ukrainische Bevölkerung bei Russland gemacht; soll die russische Regierung das Geld doch von denjenigen einfordern, denen sie es gegeben hat, einschließlich Wiktor Janukowytsch, der seelenruhig auf dem Gebiet der Russischen Föderation lebt.

Die Verletzung der „Minsker Vereinbarungen“ ist das Werk nicht nur Kiews, sondern auch Moskaus, das nicht bereit ist, die Unterstützung für die imperialistischen Enklaven in den sogenannten „Volksrepubliken“ einzustellen. Wir treten ein für den sofortigen Abzug der russischen Truppen, die Beendigung jeglicher militärischen Unterstützung für bewaffnete Formationen in den Oblasten Luhansk und Donezk, die Einhaltung eines Waffenstillstands und für das Recht der ukrainischen Bürger, selbständig über das Schicksal ihres Landes zu entscheiden, ohne Imperialisten aus Ost und West!

Facebook-Post der RSD am Tag der russischen Invasion:

Für revolutionären Defätismus

Ich hoffe, dass die Streitkräfte der Russischen Föderation in dem Krieg, der begonnen hat, besiegt werden. Meine Hoffnung entspringt nicht dem Hass, sondern der Liebe. Militärische Siege des Putin-Regimes werden der russischen Bevölkerung nichts einbringen außer dem Tod von geliebten Menschen, dem endgültigen Zusammenbruch der Wirtschaft und eine Stärkung des Regimes. Solche Siege können nur kurzfristig für Euphorie sorgen, deren betäubende Wirkung bloß ablenkt von Russlands endlosen Problemen und der Notwendigkeit diese anzugehen.

Jede Stadt, die erobert wird, jedes Dorf, das besetzt wird – das sind mehr Menschen, denen ihre Zukunft gestohlen wird. Weil es für das Putin-Regime keinen Platz für die Zukunft gibt, es gibt nur die Fäulnis verströmende Gegenwart und den Versuch uns alle zurück zu zerren in eine noch elendigere Vergangenheit. Dieses Regime spannt jeden Muskel an, um die Räder der Geschichte zurück zu drehen, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft auf einen noch primitiveren Zustand zurück zu schrauben. Eine Niederlage im Krieg würde den Menschen in Russland eine Zukunft geben, ihnen die Augen öffnen über den wesentlichen Charakter des Putin-Regimes und ihnen die Kraft geben, für Demokratie und soziale Gerechtigkeit zu kämpfen.

Danja P., Aktivistin der RSD (24. 2. 2022)

Erklärung des Zentralkomitees der RRP:

Kein Krieg! Der Hauptfeind steht im eigenen Land!

Russland hat einen Krieg mit der Ukraine begonnen. Heuchlerisch und hinterlistig versteckte sich die Regierung der Russischen Föderation hinter dem Leiden der Werktätigen der Volksrepubliken Donezk und Lugansk und benutzte deren angeblichen Schutz als Vorwand für imperialistische Aggression. Der Schutz der Zivilbevölkerung des Donbass bedeutete keineswegs den Beginn eines Krieges. Aber da russische Truppen keine Zeit hatten, in die Volksrepubliken Donezk und Lugansk einzudringen, überschritten sie die Demarkationslinie und fielen in das Territorium der Ukraine ein. In diesen Augenblicken sind Explosionen in Kiew, Kramatorsk, Odessa, Charkiw, Berdjansk zu hören. Es sind nicht „Nazis“ und „Bandera-Anhänger“, die dort sterben – ukrainische Zivilist:innen, ukrainische Proletarier:innen sterben dort.

Keine Überlegungen zur „Eindämmung der NATO“, keine Kritik am ukrainischen politischen Regime und kein anderer geopolitischer Unsinn können dieses Massaker rechtfertigen! Putin spricht von „volksfeindlicher Junta“ und davon, dass die russische Armee angeblich versuche, die Ukraine von „Nazis“ zu befreien. Aber das russische Regime ist nicht besser als das Regime in der Ukraine. Und der einzige, der das Recht hat, die Ukraine von der ultraliberalen nationalistischen Diktatur zu befreien, ist das ukrainische Proletariat und nicht der russische Imperialismus! In diesem Krieg gibt es nichts Gerechtes. Es gibt nur imperialistische Interessen der Bourgeoisie der Russischen Föderation und schmutziges Feilschen mit der Bourgeoisie der USA und der EU. Und im Namen der Verwirklichung dieser Interessen, die der Arbeiterklasse völlig fremd sind, wird jetzt das Blut der Arbeiter:innen der Ukraine und des Donbass, der Soldaten Russlands, der Söhne der Arbeiterklasse, vergossen.

Jede:r Proletarier:in, jeder ehrliche Mensch muss heute sagen: Nein zum Krieg!

Wir müssen entschlossen ein Ende des Krieges und den Abzug der russischen Truppen aus dem Territorium der Ukraine fordern. Die sofortige Unterzeichnung eines Friedensvertrages.

Die Revolutionäre Arbeiterpartei ruft die Kommunist:innen Russlands, die Arbeiter:innen Russlands auf, sich zu festigen und eine vereinte Antikriegsbewegung zu schaffen.

Wir rufen die Arbeiter:innen Russlands auf, gegen den Krieg zu streiken!

Kein Krieg – außer dem Klassenkrieg!

Der Hauptfeind steht im eigenen Land!

1 Wegen der Zensur in Russland sind nicht mehr alle Texte im russischen Original zugänglich, so dass wir auch die Übersetzungen teilweise nicht mehr abgleichen konnten.

2„Großrussisch“ ist eine historische Bezeichnung für die ethnischen Russ:innen in Abgrenzung zu Weißruss:innen oder „Kleinruss:innen“ auf dem Gebiet der heutigen Ukraine. Schon zu Zeiten des Zarismus diente der großrussische Chauvinismus der Unterjochung anderer Nationalitäten.

3 Die Beseitigung der Überreste des „Kommunismus“.

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