Im zweiten Wahlgang der Parlamentswahlen in Frankreich ist der befürchtete Erdrutschsieg des rechtsradikalen Rassemblement National (RN) ausgeblieben. Seine Parlamentsfraktion kommt erst an dritter Stelle. Es scheint, als ob „das kleinere Übel“ gesiegt hat. Doch es gibt keinen Grund anzunehmen, dass damit der Aufstieg des RN gebremst wird . Nicht in der Wahlkabine, nur auf der Straße kann sein Einfluss wirklich bekämpft werden!
Die Besonderheiten eines undemokratischen Wahlsystems
In Wahrheit war der RN bei allen drei Wahlgängen in den letzten Wochen stärkste Partei: Bei den Europawahlen mit 31,4 %, im ersten Wahlgang der Parlamentswahlen mit 29,3 % und im zweiten Wahlgang sogar mit 32,1 %. Da der RN nicht die einzige rechtsradikale Kraft in Frankreich ist, gab es insgesamt sogar fast 11 Mio. Stimmen für die radikale Rechte. Trotzdem erhält der RN nur knapp ein Viertel der Sitze in der „Assemblée Nationale“. Das liegt am französischen Wahlrecht: Anders als in Deutschland oder Österreich gibt es keine Listenwahl, wo die Sitze proportional zum Stimmanteil vergeben werden, sondern ein:e Kandidat:in mit den meisten Stimmen pro Wahlbezirk setzt sich durch.
Im ersten Wahlgang brauchte man über 50 % der abgegebenen Stimmen. Das ist dem RN in 37 Wahlbezirken gelungen, mehr als jeder anderen Partei. Danach kam das Linksbündnis „Neue Volksfront“ (NFP auf Französisch), an dritter Stelle die Partei von Präsident Macron. Doch in 501 von 577 Wahlkreisen ging es in die Stichwahl. Und da sich NFP und Macronist:innen in der Stichwahl meist gegenseitig unterstützt haben, konnten sie sich oft gegen den RN durchsetzen, obwohl sie landesweit weniger Stimmen bekamen als dieser.
Im Endergebnis erhält die NFP 31,5 % der Parlamentssitze, das Macron-Lager 29,1 % und der RN nur 24,8 %. Eine neue Regierungsmehrheit wird sich also aus Teilen der NFP und der Macronist:innen zusammensetzen müssen: Genau dieselben Kräfte, die seit 2012 Frankreich regieren und erst für den fulminanten Aufstieg des RN gesorgt haben!
„Linke“ und liberale Regierungen gegen die Arbeiter:innen
Schon der „sozialistische“ (so nennt sich die französische Sozialdemokratie bis heute) Vorgänger Macrons, François Hollande, hatte sich mit massiven Angriffen besonders auf das Arbeitsrecht unbeliebt gemacht und Widerstand heraufbeschworen. Macron, der unter Hollande Wirtschaftsminister gewesen war, ist eindeutig Präsident der Reichen, und als solcher verhasst bei den unteren Schichten: 2018 kam es zur Gelbwesten-Bewegung, 2023 löste seine Rentenreform große Streiks aus. Das Gesetz, das das Renteneintrittsalter um zwei Jahre anhob, musste er ohne parlamentarische Mehrheit per Verordnung durchdrücken.
Diese Erfahrungen mit angeblich „linken“ oder „fortschrittlichen“ Regierungen haben den RN groß gemacht. Und eine Neuauflage von solchen Regierungen, die weitere Angriffe gegen die Arbeitenden durchsetzt, wird die radikale Rechte nur weiter stärken. Auch wenn viele jetzt erleichtert sind, dass das größte Übel verhindert wurde, so bereitet das „kleinere Übel“ oft nur eine noch stärkere Rückkehr des großen Übels vor – wie wir aktuell mit Biden und Trump in den USA beobachten können.
Der RN hat versucht mit sozialen Versprechen zu punkten, indem er „die Kaufkraft“ zu einer seiner Prioritäten machen wollte. Wie alle Bürgerlichen stehen die Rechtsextremen aber nicht für höhere Löhne, sondern sprechen davon, „die Arbeit“ zu „verteidigen“. Das erinnert an den Slogan der französischen pro-faschistischen Pétain-Regierung im Zweiten Weltkrieg: „Arbeit, Familie, Vaterland“! Sobald jetzt die Regierungsmacht in greifbarer Nähe schien, erklärte der Vorsitzende des RN Bardella, dass er natürlich die Rentenreform Macrons nicht zurücknehmen werde – auch der RN hat vor, im Interesse des Kapitals und gegen die arbeitende Bevölkerung zu regieren.
Die „Neue Volksfront“ – eine linke Alternative?
Angesichts des Erfolgs des RN bei den Europawahlen und der kurzfristigen Neuwahlen entstand dieser Zusammenschluss von Sozialdemokrat:innen, „Kommunist:innen“ (die genauso wenig kommunistisch sind wie die Linkspartei in Deutschland), Grünen und vor allem der „France Insoumise“ (LFI). Diese Partei, die ein „unbeugsames Frankreich“ zur Perspektive erklärt, präsentiert sich gerne als „links“. Wie ihr Name verrät, ist sie aber auch nationalistisch. Sie lässt sich am ehesten mit dem deutschen Bündnis Sahra Wagenknecht vergleichen.
Der Name „Neue Volksfront“ (NFP) bezieht sich auf eine berühmte Epoche der französischen Geschichte, als 1936 die Arbeiter:innenklasse den erfolgreichsten Generalstreik des 20. Jahrhundert führte. Die damals gewählte „Volksfront“-Regierung war eine Koalition aus „Sozialisten“, „Kommunisten“ und bürgerlichen „Radikalen“. Die Begeisterung über den Wahlerfolg war so groß, dass sie die Streikwelle entzündete, die riesige Lohnerhöhungen durchsetzte sowie das Recht auf bezahlten Urlaub und eine Arbeitszeitverkürzung auf 40 Stunden. Bis heute ist der Mythos der Volksfront in Frankreich groß. Deshalb sprach der RN-Vorsitzende Bardella nach der Gründung der NFP sogar von der „Gefahr eines Aufstands“.
Ganz abgesehen davon, dass schon 1936 die Rolle der Volksfront-Regierung nicht die Unterstützung, sondern das Abwürgen der Streikwelle war, ist der Vergleich vollkommen unangebracht. Damals waren Kommunistische und Sozialistische Partei Massenparteien der Arbeiter:innen, die immense Hoffnungen und Kampfbereitschaft hervorriefen.
Die politischen Parteien, die sich nun in der NFP zusammengetan haben, sind für alle Enttäuschungen der letzten Jahre verantwortlich und haben kaum eine Basis. Sie wollen an die Volksfront als Wahlkoalition anknüpfen, nicht an den Generalstreik. Für die Arbeiter:innenklasse hat die NFP keine Perspektive für ein besseres Leben.
Darüber hinaus gab es seit 1936 andere Wahlbündnisse reformistischer Parteien: Die „Union de la Gauche“ (Linksbund) von Mitterrand in den 1980er Jahren hat eine Erinnerung des Verrats hinterlassen. Und spätestens als François Hollande für die NFP kandidierte – der erwähnte Vorgänger Macrons als Staatspräsident – war klar, dass dieses Bündnis keinerlei Neuanfang bedeutet.
Linkspopulistisch oder radikal?
In Deutschland wird die NFP und insbesondere Mélenchons LFI als linkspopulistisch bezeichnet. Bardella nennt sie sogar linksextrem. Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt. Nicht nur, dass das Programm der NFP sehr gemäßigt ist, sondern vor allem stehen all diese Politiker:innen – einschließlich von LFI – dafür, sozialen Kämpfen die Spitze abzubrechen und sie in institutionellen Bahnen versanden zu lassen. Die abgehalfterten Politiker:innen der NFP, waren sich in einem Punkt ganz einig: Die eigene Verantwortung für den Aufstieg der Rechten nicht diskutieren zu wollen.
Die Gefahr ist nicht gebannt
Macron hat sich mit den Neuwahlen doch nicht so sehr verspekuliert, wie nach dem ersten Wahlgang angenommen wurde. Obwohl sein Lager am deutlichsten verloren hat, kann er sich jetzt wieder als „oberster Schiedsrichter“ aufführen beim Versuch eine Regierungsmehrheit zu bilden.
Der Wahlerfolg der NFP drückt keinerlei massenhafte Zustimmung aus, sondern hauptsächlich Angst vor einem Sieg der Rechtsextremen.
Gleichzeitig haben die Stimmen für den RN ja deutlich zugelegt, nicht zuletzt unter Arbeiter:innen, die die Schnauze voll haben von all den Angriffen auf den Lebensstandard seitens „linker“ Regierungen oder von Macron. Viele haben RN gewählt, einfach weil sie den an der Macht noch nicht ausprobiert haben.
Diese Stimmen eines wachsenden Teils der Arbeiter:innenklasse für Rechtsradikale sind ein großes Problem, denn in ihnen kommt zum Ausdruck, wie rassistische Antworten auf die Krisen des Kapitalismus in immer mehr Köpfe der Bevölkerung einsickern.
Die Organisation der Arbeitenden, die einzige Brandmauer
Egal, wie genau die kommende Regierung in Frankreich aussehen wird, sie wird arbeiter:innenfeindlich sein, wie in all den letzten Jahren. Wenn sie die Massen weiter enttäuscht und verbittert, kann das den rechten Ideen noch mehr Auftrieb geben. Aber das ist nicht zwangsläufig so. Wenn die Arbeiter:innen wieder den Weg des Kampfes, der Streiks und Massenaktionen beschreiten und sich erfolgreich organisieren, um echte Verbesserungen für die Arbeitenden durchzusetzen, dann können die Ideen der radikalen Rechten zurückgedrängt werden. Doch dafür ist es absolut notwendig, alle Illusionen in die NFP entschieden zu bekämpfen.
Unsere Schwesterorganisation NPA-Révolutionnaires und andere revolutionäre Organisationen wie Lutte Ouvrière haben es daher abgelehnt, sich an der NFP zu beteiligen und unabhängige Kandidat:innen aufgestellt, die kämpferische Lösungen für die wirklichen Probleme der Arbeitenden vertreten haben. Jetzt gilt es, solche Kämpfe zu organisieren!
Richard Lux und Lorenz Wassier, Berlin