Familie, Heirat und Revolution in der
frühen Sowjetunion

Friedrich Engels hatte im Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats von einer Überwindung der Frauenunterdrückung infolge der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft gesprochen. Durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, so Engels, würde die Frau aus dem Griff der Kernfamilie befreit werden, da die Haushaltsführung und Kindererziehung zu einer gesellschaftlichen Angelegenheit geworden wären. Daraus würde zudem folgen, dass die Familie nicht länger als „wirtschaftliche Einheit der Gesellschaft“ fungieren und dass ökonomische Momente nunmehr keine Rolle in den Geschlechterverhältnissen spielen würden. Damit würden allerlei Liebes- und Sexualbeziehungen zur Privatsache. Und doch wurde diese Vision im sowjetischen „Experiment“ kaum realisiert. Im Gegenteil: während des Großteils der Geschichte der UdSSR herrschten konservative Familien- und Beziehungsnormen vor, obgleich mit „sozialistischem“ Visier. Dies wird oft als Mangel des Marxismus aufgefasst, der von einem vereinfacht ökonomischen Ansatz ausgehe. Die sowjetische Erfahrung weist jedoch viel eher auf die Schwierigkeit hin, ein sozialistisches Programm inmitten von „verallgemeinerter Not“ (Marx) durchzuführen, als auch auf den reaktionären Charakter des Stalinismus.

Die Oktoberrevolution von 1917 wurde vorwiegend in den Fabriken, Straßen und Dörfern des ehemaligen Zarenreichs entschieden, war jedoch begleitet von einer entsprechenden „Revolution“ in der Gesetzeslage.

In einem Territorium, wo die Ehe der strengen Kontrolle von Geistlichen ausgesetzt und wo sich scheiden zu lassen folglich nahezu unmöglich gewesen war, wo Frauen und Kinder praktisch als Sklaven des Ehe­mannes gegolten hatten, brachten die Bolschewiki im Jahr 1918 den bis dahin progressivsten Familienkodex der Geschichte heraus: Es wurde die Zivilehe eingeführt, Frauen und Männer wurden auf einen Schlag in jedwedem Gesellschaftsbereich (inkl. der Ehe) formell gleichgestellt, man/frau konnte sich nun jederzeit (ohne Gerichts­prozess) scheiden lassen, und es wurde allen Kindern (auch unehelichen) das uneingeschränkte Recht auf Unterhalt gewährt. Der Kodex erweiterte zwar die Rechte und Pflichten der Familien­mitglieder, setzte die Existenz der Familie als gesellschaftliche Einheit allerdings vielmehr voraus. Von deren Beseitigung konnte nicht die Rede sein, solange die dazu nötigen sozio­ökonomischen Verhältnisse noch nicht gegeben waren.

Die durch den Ersten Weltkrieg (und den Russischen Bürger­krieg) verwüsteten neuen Sowjet­republiken, deren Industrien und Infra­struktur ein erheblicher Schaden zugefügt worden war, boten geradezu das ungünstigste Fundament dafür. Dennoch lag den Lockerungen der Ehe zweifellos die sozialistische Vision von freier Liebe und Sexualität zugrunde, die erst recht der Sozialismus verwirklichen würde.

Für die Bolschewiki lag die Vorbe­dingung dafür zuerst einmal in der Ver­gesellschaftung der „Reproduktionsarbeit“ und der darauf basierenden vollkommenen Eingliederung von Frauen auf Augen­höhe mit Männern in die Erwerbsarbeit. Dies lief daraus hinaus, der Gesellschaft alle bzw. den Großteil von Frauen geleis­teten Hausarbeit durch öffentliche Ein­richtungen (Tagesstätten, öffentliche Küchen und Wäschereien, usw.) über­nehmen zu lassen. Alle ökonomischen Fesseln wären verschwunden, die bisher auf dem Verhältnis der Geschlechter gelastet hatten.

Erste Versammlung der Abteilung für Arbeit unter Frauen in Armur, 1920

Die Bolschewiki hatten eine sozialisti­sche Revolution in einem Land ange­führt, welches nur einige wenige hochin­dustrialisierte Ballungszentren aufwies und sich zu 80% aus Bauern zusammen­setzte, deren Lebensbedingungen im Wesentlichen seit dem 17. Jhd. unver­ändert geblieben waren. Die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ war auffallend: neben der Einführung des damals progressivsten Familien­gesetzes wurde in Sowjetrussland als erstem Land der Welt der Schwanger­schaftsabbruch im Jahr 1920 legalisiert; darüber hinaus wurde 1922 die Homo­sexualität in den europäischen Teil­republiken straffrei (wurde allerdings in den asiatischen Republiken weiterhin bestraft). Etwa der erste Außenminister der Sowjetunion, Georgi Tschitscherin, war ein offen homosexueller Mann.

Das nach der Revolution verabschiedete Familiengesetz konnte, angesichts der ökonomischen Rückständigkeit des Landes, nur beschränkt umgesetzt werden. 1921 wurde die Neue Ökono­mische Politik (NÖP) eingeführt, welche nun mehrere Marktmechanismen zuließ und die (mehrheitlich verstaatlichte) Industrie auf kommerzielle Richtlinien umstellte. Dies ging mit Sparmaß­nahmen einher, was einen Abbau von sozialen Einrichtungen wie Tagesstätten zur Folge hatten. Gleichzeitig wurden Arbeiterinnen massenhaft entlassen, weil sie als teurere und weniger flexible Arbeitskräfte gesehen wurden. Nicht überraschend waren Frauen über­wiegend von Arbeitslosigkeit betroffen (1929 machten sie 50% der Arbeitslosen aus, bei gleichzeitig geringerer Erwerbs­quote). Erwerbstätige Frauen tendierten zudem dazu, in schlecht(er) bezahlten Bereichen und Stellen zu arbeiten. Frauen verdienten infolgedessen nur 2/3 des männlichen Einkommens. Unter solchen Umständen konnten Eheschei­dungen den völligen finanziellen Ruin nach sich ziehen, weshalb die Scheidungsfreiheit für die meisten Frauen illusorisch blieb.

Da eine Mehrheit der Bevölkerung auf­grund dessen nicht für die progressive Politik der frühen Sowjetregierung zu begeistern war, bereitete dieser Umstand der Sozialpolitik Josef Stalins einen günstigen Boden. Ab den späten 1920er Jahren war es diesem gelungen, seine Herrschaft innerhalb des sowjetischen Staatsapparates zu verfestigen. So wurde bereits 1934 die Homosexualität erneut zum Delikt erklärt. In einem Dekret von 1936 wurde die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruches zurück­genommen und Einschränkungen im Eherecht wiedereingeführt, die hohe Geldstrafen für jede Scheidung vorsahen. Auch kehrte die Familie als heilige Institution zurück.

Von einer Stabilisierung der Familien­verhältnisse versprach sich das stalinis­tische Regime eine entsprechende Stabi­lisierung der Gesellschaft, ergo eine diszipliniertere und verlässlichere Belegschaft, welche die wirtschaftliche Produktivität steigern konnte. Frauen gingen ab den frühen 1930er Jahren zahlreich in die Industrie, von einer marxistischen Seite aus betrachtet, wurde also die Forderung nach der vollen Eingliederung von Frauen in den Produktionsprozess immer mehr zur Wirklichkeit; gleichzeitig beruhte eben jene Industrialisierung wiederum auf der Familieneinheit, weil durch die zeitgleiche Senkung der Reallöhne ein einzelnes Einkommen (oft) nicht länger für den Lebensunterhalt ausreichte, sondern dass nun das kombinierte Einkommen – des Mannes und der Frau – nötig war. Die Eingliederung von Frauen in die Industrie ging ferner nicht mit der Umsetzung der anderen damit verbundenen Forderung einher, nämlich einer Vergesellschaftung der Reprodukti­onsarbeit, was zur dauerhaften Doppel­belastung von Frauen führte, die nun einer Erwerbsarbeit nachgingen, während sie die ganze Hausarbeit zu verrichten hatten.

Der stalinistische Diskurs brachte dementsprechend die Familie in ihrer früheren Rolle als Keimzelle der Gesellschaft zurück. Der Familie, insbesondere der Mutterschaft, würde die Aufgabe zukommen, Kinder zu patriotischen Bürger:innen der „sozialistischen“ Gesellschaft heranzu­ziehen. Der Stalinismus wandte eine bewährte Formel an, indem er den sozialen Zusammenhalt in der Familie zu verankern versuchte. Diese Vor­stellung ging auf die bürgerliche Klein­familie zurück, die als gesellschaftlich stabilisierend betrachtet wurde, und in der von Frauen erwartet wurde, dass sie eine fürsorgliche Rolle einnehmen. Dass aber eine sich als kommunistisch bezeichnende Partei schlagartig die Tugenden des Familienlebens ver­herrlichte, ist eine Ironie, die den stali­nistischen Konservatismus hervorhebt.

Aufgrund der sozialen und wirtschaft­lichen Rückständigkeit der frühen Sowjetunion, gepaart mit der anfänglich widersprüchlichen, dann konservativen Politik der Regierung, konnte keine Frauenbefreiung konsequent umgesetzt werden. Diese Geschichte zeigt einerseits eine wesentliche Diskontinuität zwischen der unmittelbar aus der Revolution hervorgegangenen Sowjetunion der 1920er und dem Stalinismus und beleuchtet andererseits die Bedingungen, an denen die sowjetische Sozialpolitik scheiterte – macht aus eben jenen Bedingungen keine ewigen Gesetze, sondern schafft eben Einsicht in die Notwendigkeit (Engels).

100 Jahre später verheißt der liberale Feminismus mehr Geschlechter­gerechtigkeit auf den Chefetagen, hat aber keine echten Lösungsansätze für Gender-Pay-Gaps und Mehrfach­belastung durch Haus- und Erwerbs­arbeit. Die Umstände, welche die sozialistische Bewegung vor einem Jahr­hundert ansprach, sind noch nicht über­wunden, und die aus dieser Zeit stammenden Forderungen sind noch immer äußerst relevant.

Gastbeitrag von Marcus Olufsen, Wien

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