Am 1. Februar räumte die Polizei in Wien das Protestcamp von Klimaaktivist:innen gegen Lobauautobahn und „Stadtstraße“ – auf Anordnung der Bürgermeisterpartei SPÖ. Gleichzeitig betreibt die Stadtregierung eine enorme Propagandaschlacht, um Wien als „Klimamusterstadt“ zu verkaufen und sich selbst als einziger vernünftiger Garant dafür. Diese Politik ist jedoch weit mehr als einfach nur inkonsequent, irrational oder verlogen. Heute wie vor Hundert Jahren steht die Sozialdemokratie für die autoritäre Verwaltung der kapitalistischen Widersprüche – das bedeutet auch gegen jene vorzugehen, die die Macht in Frage stellen. Wir werfen einen Blick auf die Situation rund um die Räumung und in die Geschichte.
Die Räumung des Protestcamps ist der vorläufige Höhepunkt einer monatelangen Auseinandersetzung. Im August 2021 besetzten Klimaaktivist:innen mehrere Baustellen in Wien, um den Bau des Lobautunnels und der „Stadtstraße“ zu verhindern (wir haben in Aurora Nr. 20 und Nr. 22 berichtet). Anfang Dezember hat die grüne Klimaministerin Gewessler den Bau des Lobautunnels schließlich abgesagt – ein Erfolg, zu dem es ohne den Druck durch Besetzungen und Klimabewegung nicht gekommen wäre.
Die Stadt Wien will dagegen Klage einreichen und hält auch am Bau der Stadtstraße fest, obwohl diese ursprünglich als Zubringer für die Lobauautobahn geplant war. Die SPÖ Wien macht unmissverständlich klar, dass sie es ist, die in Wien das Sagen hat und Einmischungen nicht akzeptiert werden.
Propaganda vs. Realität
Laut Stadtregierung ist die Stadtstraße zur Erschließung und Anbindung neuer Stadtentwicklungsgebiete notwendig – nur so könne neuer, leistbarer Wohnraum geschaffen werden. In den letzten Jahren und Jahrzehnten ist der Wohnungsbau mehr und mehr durch private Immobilienfirmen dominiert worden – mit dem Ergebnis, dass die Wohnungs- und Mietpreise explodiert sind. Die in Wien regierende SPÖ fördert marktbasierte Lösungen, die „leistbares Wohnen“ immer weiter verschwinden lassen. Den gemeindeeigenen „sozialen Wohnbau“ gibt es ohnehin längst nur mehr als symbolische Ankündigung in Wahlkämpfen.
Auch die Klimapolitik der „Klimamusterstadt“ Wien zeichnet sich durch sehr ähnliche Propaganda aus. Die Öffis sind zwar in vielen (nicht allen) Teilen Wiens gut und die Jahreskarte günstig. Das Radwegenetz hat sich verbessert, ist aber immer noch löchrig und oft gefährlich. Doch der Autoverkehr wird kaum zurückgedrängt und in manchen Stadtteilen (siehe „Stadtstraße“) sogar gefördert. Ein großes Problem sind ebenso die versiegelten Betonwüsten, die der von Investor:innen getriebene Immobilienneubau in ganz Wien geschaffen hat und weiter schafft.
Hände falten, Goschn halten
Erscheint diese Politik vielen zunächst als inkonsequent und unverständlich, macht sie durchaus Sinn als das, was sie ist: der Versuch, die realen Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft zu verwalten und da und dort etwas im Zaum zu halten. Um allzu krasse soziale Verwerfungen etwas abzufedern, gibt es verschiedene städtische Hilfs- und Unterstützungsprogramme. An den explodierenden Mieten und zunehmend prekären Lebensverhältnissen ändert das freilich nichts.
Wie in der Kirche lautet das verordnete Motto: Hände falten, Goschn (Mund) halten. Sich der sorgenden Stadt Wien gegenüber schön brav dankbar zeigen (= SPÖ wählen), aber ja nicht auf die Idee kommen, sich gegen die Stadtregierung zu stellen. Genau diese Botschaft sendet die Wiener SPÖ in aller Eindringlichkeit den Besetzer:innen im Protestcamp, der Klimabewegung im Allgemeinen und allen künftigen kämpferischen Bewegungen.
Autoritäres Waffenarsenal
Die Bürgermeisterpartei fährt dabei gleich mehrere Geschütze auf. Die Einschüchterungsklagen, mit denen (teils minderjährige) Besetzer:innen und Unterstützer:innen (auch solidarische Wissenschaftler:innen, die nicht einmal im Protestcamp waren) eingedeckt wurden, könnten direkt aus dem Handbuch für autokratische Herrscher stammen. Eine ebenso bekannte autoritäre Strategie ist es, den Opfern von Gewalt die Schuld zuzuschieben: Nach dem Brandanschlag auf einen bewohnten Turm im Protestcamp im Dezember hielt Bürgermeister Ludwig fest, dass sei „ein Zeichen, dass ein rechtsfreier Raum in einer Stadt kein Vorteil ist“.
Die SPÖ ist eine große Freundin staatlicher Zwangsgewalt – egal ob gegen Wohnungslose im öffentlichen Raum, „illegale“ Bierverkäufer:innen, Radfahrer:innen oder kämpferische Aktivist:innen.
Zum langjährigen Waffenarsenal der Wiener Sozialdemokratie gehört auch eine gut geölte Medienmaschine, die sowohl zahlreiche stadteigene bzw. stadtnahe Jubel-Medien umfasst als auch das Erkaufen wohlwollender Berichterstattung über Inserate in privaten Medien. Rund um die Besetzung wurde die Öffentlichkeit offensiv mit Lügen und Fake News versorgt. Die Macht des Rathauses erstreckt sich über ein dichtes Geflecht von stadteigenen Holdings, scheinselbständigen Vereinen und der Vergabe von Subventionen. Das wurde auch während der Räumung des Protestcamps klar, als die stadteigenen Verkehrsbetriebe der Wiener Linien wegen einer „Betriebsstörung“ zahlreiche Stationen um das Protestcamp nicht anfuhren und somit die Anreise von solidarischen Unterstützer:innen massiv erschwerten.
Über 100 Jahre Erfahrung…
… hat die Sozialdemokratie damit, die kapitalistische Ordnung einzubetonieren und gegen kämpferische Bewegungen zu verteidigen. Am Beginn des Ersten Weltkriegs stimmte sie in Deutschland den Kriegskrediten zu und verfolgte in Österreich eine ähnliche Burgfriedenspolitik. Statt „Die Arbeiter haben kein Vaterland“ hieß es nun, in der Armee des „eigenen“ imperialistischen Landes gegen Arbeitende anderer Länder zu kämpfen. Im Roten Wien der Zwischenkriegszeit setzte die Parteiführung alles daran die Kontrolle zu behalten und kämpferische Initiativen von Arbeiter:innen zu ersticken. Das führte zu einem beständigen Zurückweichen vor dem erstarkenden Austrofaschismus und schließlich in die Niederlage in den Februarkämpfen 1934, nach der der Austrofaschismus gänzlich die Macht übernahm.
Dass die Sozialdemokratie auf Seiten der kapitalistischen Ordnung steht, wurde auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs klargemacht. Im Oktober 1950 kam es zu einer kämpferischen Streikbewegung, nachdem mehrere sozialpartnerschaftlich ausgehandelte Lohn-Preis-Abkommen trotz steigender Preise die Löhne niedrig halten sollten – um die Wirtschaft anzukurbeln. Der sozialdemokratische Chef der Bau-Holz-Gewerkschaft organisierte Schlägertrupps, um den Streikenden „schlagkräftig entgegenzutreten“. Zudem wurde die Lüge verbreitet, die Oktoberstreiks wären ein Putschversuch der KPÖ. Es dauerte bis 2015 bis der sozialdemokratisch dominierte Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) diese Geschichtsfälschung revidierte.
Auch im Vorgehen gegen Besetzungen durch Umweltaktivist:innen haben die SPÖ und ihre Handlanger:innen im ÖGB bereits Erfahrung gesammelt. Im Dezember 1984 wurde die Hainburger Donau Au von Aktivist:innen besetzt, um einen riesigen Kraftwerksbau zu verhindern, den die SPÖ-geführte Regierung plante. Die Auseinandersetzung gilt heute als entscheidender Katalysator für die Entstehung der Umweltbewegung und der Grünen. Hunderte Polizisten sollten die Besetzung räumen, die Gewerkschaft Bau-Holz wollte auch wieder selbst Hand anlegen. Schließlich wurde der öffentliche Druck zu groß, das Bauprojekt abgesagt und die Donau Auen in einen Nationalpark umgewandelt.
Fight the System!
Die Sozialdemokratie beweihräuchert sich in peinlicher Folklore gerne selber und behauptet, immer auf der Seite der Unterdrückten und von progressiven Bewegungen gestanden zu sein. Sie entwickelte einen abgehobenen Alleinvertretungsanspruch, der pseudoradikale Sonntagsreden und die Bekämpfung und Verunglimpfung von kämpferischen und unabhängigen Bewegungen vereint. Sie ist Teil des herrschenden Systems und wird dieses – wenn nötig auch mit Zwangsgewalt – verteidigen (lassen). Sie ist nicht einfach nur nicht radikal genug, sondern eine Verwalterin der kapitalistischen Ordnung auf Seiten des Kapitals. Insofern ist das Beharren auf dem Bau der Stadtstraße und die Räumung des Protestcamps nicht „unverständlich“ oder ein „Fehler“, sondern die konsequente Durchsetzung sozialdemokratischer Politik.
Von Johannes Wolf, Wien