
China ist heute nicht mehr (nur) die Werkbank der Welt, ein Land, in dem zu günstigen Konditionen Massenware für die ganze Welt gefertigt wird. Das Land hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einer neuen und eigenständigen Großmacht entwickelt – ein Schritt, der keinem anderen Land in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelungen ist. Chinas Aufstieg steht damit für einen tatsächlichen Umbruch im kapitalistischen Weltsystem.
Die Entwicklung nimmt Ende der 1970er ihren Lauf, als unter Deng Xiaoping eine vorsichtige Öffnung und eine Neuausrichtung der Produktion auf den globalen Markt begonnen wurde. Die (ehemaligen) Kolonien Hongkong, Macau und Taiwan, die sich in unmittelbarer Nähe Chinas befinden, funktionierten als eine Art Brückenkopf zum und vom Weltmarkt. So gelangten nicht nur ausländische Devisen, sondern auch moderne Technologien ins Land. In neu eingerichteten Sonderwirtschaftszonen, wo idyllische Bedingungen für Investor:innen geschaffen wurden und die Millionen billiger Arbeitskräfte anzogen, wurde für den Export produziert.
Dabei spielten Joint Ventures, also ein Zusammenschluss von chinesischen und ausländischen Unternehmen, eine entscheidende Rolle. Rein ausländische Unternehmen gab es zu dieser Zeit keine. Die Planung des Außenhandels wurde schrittweise reduziert, wenn auch nicht abgeschafft: Im Jahr 1978 wurde der gesamte Export durch den Plan gesteuert, 1988 waren es 45 % und 1992 nur noch 15 %. Der Binnenmarkt blieb durch Zollschranken stark geschützt. Der Beitritt Chinas zur WTO im Jahr 2001 steht am Beginn einer zweiten Phase, die unter anderem die Halbierung von Zöllen bis 2007 brachte. In dieser Zeit stieg China zur „Werkbank der Welt“ auf, mit vielen neuen unqualifizierten Arbeitsplätzen vor allem in den Küstenregionen, aber immer noch sehr geringen Ausgaben für Forschung und Entwicklung.
Von der Werkbank zur Wirtschaftsmacht
Seit etwa zehn Jahren dominieren jedoch nicht mehr die Exporte von Produkten, die in China mit Komponenten ausländischer Unternehmen zusammengebaut werden. Es wurden zunehmend höherwertige Produkte hergestellt und die Produktion für den Binnenmarkt ausgeweitet, in Kombination mit einem erheblichen Anstieg des Lebensstandards. Die von der chinesischen Wirtschaft produzierte Wertschöpfung verzehnfachte (!) sich in den zwanzig Jahren seit 2001 (heute: 14,3 Billionen US-$).
Ein herausragendes Beispiel ist die ausnahmslose Beherrschung des chinesischen Marktes durch chinesische Tech-Konzerne: von Alibaba (statt Amazon) über Baidu (statt Google) bis hin zu Tencent (für Videospiele und soziale Netzwerke) oder DiDi (statt Uber). Die sonst führenden US-Konzerne spielen in China keine wichtige Rolle. Dabei geht es nicht nur um Profite, sondern auch darum, die Abhängigkeit von ausländischen Technologien und Unternehmen zu verringern. Viel Geld fließt daher in die Entwicklung strategischer Sektoren wie Digitaltechnik, Robotik und Künstliche Intelligenz, im zivilen und militärischen Bereich. Heute stammen 45 % der verkauften Elektroautos von chinesischen Herstellern.
Und auch der chinesische Bankensektor ist mittlerweile mit Abstand der größte der Welt. In Form von Schuldtiteln und Bankkrediten ist China zum größten öffentlichen Gläubiger der Welt geworden, weit vor multilateralen Institutionen wie der Weltbank oder dem IWF. Zudem gehört das Land zu den weltweit größten Produzenten von Energie- und Bergbau-Rohstoffen.
Kapitalismus und die KP
Unter den weltweit 500 größten Unternehmen (nach Umsatz) befinden sich mehr als 120 aus China, davon sind 91 Staatsunternehmen. Diese Staatsunternehmen sind die Speerspitze der expansiven Politik der chinesischen Führung und der Investitionen in die Wirtschaft. Natürlich handelt es sich trotzdem weder um Sozialismus noch Kommunismus, es herrschen ganz klar kapitalistische Verhältnisse vor. Der repressive Staatsapparat unter Kontrolle der KP hat bei der langsamen und schrittweisen Transformation der Wirtschaft immer Macht und Kontrolle behalten – bis heute. Dieser Weg steht damit auch im Gegensatz zu Russland, wo nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung das entstandene Vakuum von einer überschaubaren Anzahl Oligarch:innen dazu genutzt wurde, sich unkontrolliert zu bereichern.
Auch in China ist eine neue Elite aus hohen Parteifunktionär:innen und privaten Unternehmer:innen entstanden, die unglaublichen Reichtum angehäuft haben. Kapitalist:innen genießen große Freiheiten, so lange sie nicht zu sehr nach Autonomie streben, Verbindungen zum richtigen „Clan“ innerhalb der KP haben und mit ihren Geschäften nicht die Wirtschaft destabilisieren.
Einige Ziele der chinesischen Führung sind die Stärkung der Binnennachfrage, eine Reduktion der Abhängigkeit sowohl von Importen als auch von Investitionsentscheidungen ausländischer Kapitale sowie der Ausbau des wirtschaftlichen und politischen Einflusses im Ausland. Dieser Weg wird erst recht weiter beschritten, seit Trump den Handelskrieg begonnen hat, der von Biden fortgesetzt wird, mit Zollerhöhungen, Geldstrafen und Importverboten.

Eine neue Weltordnung
Der Aufstieg Chinas ist Ergebnis einer besonderen historischen Konstellation, Chinas spezifischem Entwicklungsweg und den gegebenen Voraussetzungen (Größe, Rohstoffe, Bevölkerung). Das Land hat sich nach der Bauernrevolution unter Mao 1949 vom Druck des imperialistischen Weltmarkts gelöst. Aus dieser Position war seine Politik der langsamen und kontrollierten Öffnung und Integration in den Weltmarkt von Erfolg gekrönt – nach kapitalistischen Maßstäben, natürlich nicht in einem kommunistischen Sinne, ganz egal, wie sich die herrschende Partei nennt.
Der Aufstieg Chinas ist letztlich nur im Zusammenhang mit der Veränderung der US-Hegemonie und dem relativen Bedeutungsverlust der USA und Europas im Laufe der letzten Jahrzehnte zu verstehen. Der Anteil aller EU-Länder an der Weltwirtschaft ist von über 1/3 (in den 1970/80ern) bis auf heute unter 1/4 gesunken. Der Anteil der USA sank im selben Zeitraum von 1/4 auf rund 1/5. Umgekehrt konnte sich China in diesem Zeitraum von rund 1 % auf rund 18 % steigern – und liefert sich damit ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit den USA um den Platz als größte Wirtschaftsmacht.
Hintergrund für den Aufstieg Chinas bildet die „Globalisierung“, also Kapitalexport westlicher Imperialismen in Länder des globalen Südens und die Verlagerung von industrieller Produktion dorthin. Diese „Standortverlagerungen“ führten zu einer Änderung der globalen Arbeitsteilung und brachten den westlichen Konzernen aufgrund geringerer Arbeitskosten satte Profite ein. Diese Strategien waren ein Mittel, die dominante Rolle des Westens aufrecht zu erhalten und zu erneuern, auch indem Krisentendenzen in Länder der „Peripherie“ ausgelagert werden konnten. Während diese Zielländer fast alle in ihrer abhängigen und untergeordneten Position blieben, gelang es China jedoch, selbst zu einer imperialistischen Macht aufzusteigen. Der Entwicklungsweg Chinas ist das paradoxe Ergebnis des Erfolgs der westlichen Imperialismen in den letzten Jahrzehnten – die Geister, die sie gerufen haben, werden sie nun nicht mehr los. Die Karten auf der imperialistischen Weltbühne werden heute endgültig neu gemischt.
Johannes Wolf, Wien und Richard Lux, Berlin