Afghanistan – Rückblick auf 20 Jahre Krieg

Die Medien sind voll von Bildern von verzweifelten Menschen am Flughafen von Kabul, die nach dem Sieg der Taliban versuchen außer Landes zu fliehen und das zum Teil mit dem Tod bezahlen. In der deutschen Debatte über dieses Debakel hat Dietmar Bartsch von der Linkspartei gesagt, der „Versuch, Demokratie zu exportieren“ sei gescheitert. Doch diese Kritik am Afghanistan-Einsatz greift viel zu kurz. Wir wollen Bilanz ziehen und die Hintergründe und Motive für den Krieg am Hindukusch (dem afghanischen Gebirgszug) genauer betrachten.

Fast 20 Jahre hat dieser Krieg gedauert, von Oktober 2001 bis heute. Für die Bun­deswehr war es der größte Auslands­einsatz ihrer Geschichte mit insgesamt rund 160.000 Bundeswehrsoldat:innen. Die Todesopfer werden nur auf Seiten der NATO-Armeen genau gezählt: rund 3.600 waren es in 20 Jahren. Über die afghanischen gibt es nur grobe Schät­zungen. Aber allein für das Jahr 2015 werden über 11.000 zivile Opfer an­gegeben, so dass die Gesamtzahl an Opfern in der Zivilbevölkerung bei weit über 100.000 liegen dürfte.

Eine Studie der Brown University schätzte die US-amerikanischen Kriegs-ausgaben bis 2019 auf sage und schreibe 975 Mrd. US-$. Mit dem Geld, das für die Interventionen in Afghanistan, Pakistan und Irak ausgegeben wurde, hätte man derselben Studie zufolge 1,4 Millionen Arbeitsplätze finanzieren können.

Für Deutschland spricht das Auswärtige Amt von 12 Mrd. € an Kosten. Doch das ist offenbar sehr kleingerechnet: Das Deutsche Institut für Wirtschafts­forschung ging schon im Jahr 2010 von jährlich rund 3 Mrd. € aus, so dass andere Medienberichte auf Gesamt­kosten von 47 Mrd. kommen.

Ein imperialistischer Krieg

Nun sind ja vielleicht weder Geld und nicht einmal Menschenleben zu kostbar, wenn es um hehre Ziele wie die Ein­führung von Demokratie und Menschen­rechten geht. Doch dieser Mythos wird nur gepflegt, um den jahrzehntelangen Kriegseinsatz im Westen zu recht­fertigen.

Den westlichen Großmächten geht es nicht um Demokratie, sondern um „geopolitische“ Stabilität. Das hat nie­mand so unverblümt ausgesprochen wie der ehemalige SPD-Verteidigungsminister Struck, der sagte, „die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt“. In den offiziellen „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ wollte er als „vitale Sicher­heitsinteressen“ die „Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des unge­hinderten Zugangs zu Märkten und Roh­stoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung“ hin­einschreiben. Am Ende wurde das durch unverfänglichere Formulierungen er­setzt. Aber alle Offiziere wussten spätes­tens seit damals, was ihr Auftrag ist!

Der „freie Welthandel“ und die Weltwirt­schaftsordnung meinen selbst­verständlich die Freiheit für die Groß­konzerne, die ganze Welt ungeniert aus­zuplündern. Für diese Ausbeutung des gesamten Planeten im Interesse des Großkapitals, das seine Machtansprüche auch militärisch durchsetzt, gibt es einen Fachbegriff: Imperialismus. Und die imperialistische Außenpolitik der westlichen Staaten ist nur die Fort­setzung ihrer innenpolitischen Rolle – immer auf der Seite der Superreichen und ihrer kapitalistischen Interessen. In der logischen Folge geht die Schere zwischen arm und reich sowohl in jedem einzelnen Land stetig weiter aus­einander als auch zwischen den Ländern.

Pipelines und Einflusssphären

Auch wenn Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt ist (2004, also drei Jahre nach dem Sturz der Taliban, war Afghanistan bezüglich des Pro-Kopf-Einkommens auf dem weltweit dritt­letzten Platz!), so gab es durchaus hand­feste Wirtschaftsinteressen für diesen Krieg. Es ging um Öl und Gas. Schon seit Beginn der 1990er Jahre gab es Pläne zum Bau einer Pipeline von den zentral­asiatischen Gasvorkommen nach Indien – quer durch Afghanistan und Pakistan, um den Gastransport unabhängig von Russland, Iran und China zu bewerkstel­ligen. Der Sieg der Taliban im Bürger­krieg der 1990er Jahre machte einen Strich durch die Rechnung. Doch nach 2001 konnte das Projekt wieder in An­griff genommen werden. Allerdings musste der Baubeginn aufgrund der Sicherheitslage immer wieder ver­schoben werden – bis 2015. Doch nun könnte sie im Laufe der nächsten Jahre fertiggestellt werden. Vor dem Truppen­abzug wurde auch darüber mit den Tali­ban verhandelt, vermutlich energischer als für die afghanische Bevölkerung oder die sogenannten „Ortskräfte“.

Aber natürlich wurde ein solcher Kriegs­einsatz nicht für eine einzelne Pipeline geführt. Dem Imperialismus geht es um Kontrolle ganzer Regionen auch durch Militärpräsenz. Während die USA in den 1980er Jahren im Kampf gegen die Sowjetunion die späteren Taliban selbst hochgerüstet haben, waren ihnen die islamischen Fundamentalist:inneen spätestens nach den Anschlägen auf das World Trade Center außer Kontrolle ge­raten. Und in der gesamten ölreichen islamischen Welt ihren Einfluss zu sichern, war ihnen Kriegseinsätze in Afghanistan und im Irak wert.

Die Legende von der Freiheitsmission

Frauenrechte und Demokratie waren ein schöner Vorwand, um den Krieg der eigenen Bevölkerung zu verkaufen. Doch das Mäntelchen war allzu fadenscheinig:

1. Ähnlich diktatorische Regime wie Saudi-Arabien, in denen Menschen- und Frauenrechte mit Füßen getreten werden, waren die ganze Zeit verlässliche Partner der NATO-Staaten.

2. Vor Ort in Afghanistan haben die Westmächte mit Warlords zusammen­gearbeitet, die kaum besser sind als die Taliban. Die „demokratisch gewählten“ Regierungen von Karzai oder Ghani waren korrupte Cliquen, die im Großteil des Landes verhasst waren.

3. Wenn es noch eines Beweises bedurfte, dass es der deutschen Regierung nicht um Menschenrechte geht, so hat die Ab­schiebepraxis der letzten Jahre ihn er­bracht. Noch im Juli 2021 hat das Außen­ministerium weiterhin Abschiebungen nach Afghanistan gerechtfertigt. In einem zynischen „Lagebericht“ stand angesichts der rollenden Taliban-Offensive: „Abgesehen von temporären Straßensperren und akuten Kampf­handlungen bestehen keine dauerhaften Bewegungsbeschränkungen“ für Verfolgte und Bedrohte

Es stimmt, in Afghanistan unter den Taliban, wie in vielen anderen Ländern der Welt, wird die Bevölkerung brutal unterdrückt und insbesondere Frauen­rechtler:innen und überhaupt linke Aktivist:innen sind in Lebensgefahr. Da liegt der Reflex nahe, auf Militärinter­ventionen „demokratischer“ Staaten zu setzen, in der Hoffnung den Menschen vor Ort zu helfen. Doch damit wird der Bock zum Gärtner gemacht. Die Berichte von Menschenrechtsverletzungen, die von westlichen Truppen durchgeführt oder geduldet werden, sind keine „Ausrutscher“. Imperialistische Militär­einsätze sind nicht den Interessen der Bevölkerung sondern geopolitischen Machtinteressen des Großkapitals ver­pflichtet. Daher werden sie immer wieder die Menschen vor Ort im Stich lassen und reaktionären Kräften wie den Taliban in die Hände spielen, die sich als Widerstandskämpfer gegen ausländische Besatzer inszenieren können. Insofern war der Bundeswehreinsatz nicht ein „kleineres Übel“, sondern die Vorbereitung für das größere Übel: Dieselben Taliban können nun nach zwanzig Jahren wieder die Bevölkerung terrorisieren und sind dabei noch innenpolitisch gestärkt durch den „erfolgreichen“ Widerstand gegen die US-geführte Besatzung.

Wenn wir einen Beitrag dazu leisten wollen, Leid in Ländern wie Afghanistan zu verkürzen, dann müssen wir gegen jede imperialistische Militärintervention eintreten, aber auch gegen Waffen­exporte aus unseren Ländern, die viele dieser Kriege erst möglich machen. Und uns insgesamt für den Sturz des kapitalistisch-imperialistischen Systems einsetzen, auf dessen Boden auch Bewegungen wie die Taliban gedeihen.

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