„Wir wollen leben – nicht überleben“

In vielen europäischen Ländern gibt es gerade größere Streiks oder sogar regelrechte Streikwellen. Zwar sind diese Streiks überall unterschiedlich zusammengesetzt, aber es eint sie die Unzufriedenheit darüber, dass das Leben immer teurer wird. In Griechenland, Portugal, England, Deutschland und Frankreich wird zur Zeit besonders viel gestreikt. Den letzten beiden Ländern sind gesonderte Artikel gewidmet.

England – eine Streikwelle wie seit Jahrzehnten nicht mehr

Schon 2021 begannen die Streiks und erfassten zunehmend das ganze Land. Auch in England frisst die Inflation die Löhne auf. 40.000 Beschäftigte des öffentlichen Diensts nutzen Lebensmitteltafeln und 45.000 beanspruchen Unterstützungsleistungen, weil sie trotz Arbeit zu arm sind um sich den alltäglichen Lebensunterhalt leisten zu können. In den letzten Monaten gingen immer wieder hunderttausende Lehrkräfte, Assistenzärzt:innen, Mitarbeiter:innen von Regierungsbehörden und Beschäftigte der U-Bahn auf die Straße. Sie fordern saftige Lohnerhöhungen. Andere waren bereits erfolgreich. Die Mitglieder der britischen Eisenbahnergewerkschaft RMT haben nach einem Jahr Arbeitskampf Lohnerhöhungen zwischen 9,2 und 14 % erkämpft, obwohl die Chefs am Anfang nur mickrige 2 % angeboten haben. Darüber hinaus gibt es auch kleinere und lokale Streiks. So streiken Amazonbeschäftigte einiger Standorte, Sicherheitskräfte des Londoner Flughafen Heathrow oder die Ölarbeiter:innen der Ölplattformen in der Nordsee. Der Ölkonzern Shell hat mit 37 Milliarden Gewinn ein Rekordergebnis erwirtschaftet, will aber nichts davon an die Arbeiter:innen abgeben. Auch in den nächsten Monaten wird es weiterhin zu großen Streiks kommen.

Griechenland – ein kaputtgespartes Land

Auslöser der Proteste war ein Zugunglück am 28. Februar mit 57 Toten. Ursache der Katastrophe ist die seit der Wirtschaftskrise 2008 kaputtgesparte Infrastruktur.  Mehrere Generalstreiks brachten den Verkehr des Landes weitgehend zum Erliegen, es fuhren keine Fähren zu den Inseln, alle Flüge fielen aus und der öffentliche Nahverkehr stellte den Betrieb ein. Kliniken arbeiteten nur in Notbesetzung, der Unterricht in Schulen fiel aus. Dabei geht es nicht nur um die Aufklärung des Zugunglücks,
sondern darüber hinaus um Lohnerhöhungen. Die größten Proteste fanden in Thessaloniki und Athen statt, wobei es auch zu größeren Auseinandersetzungen zwischen Streikenden und der Polizei kam. In der Hauptstadt skandierten Tausende vor dem Hauptsitz des Bahnunternehmens: „Dieses Verbrechen wird nicht vergessen“ und „Das war kein Unfall, sondern Mord“. Denn dieses Unglück war hausgemacht: So verfassten die Gewerkschaften keine drei Wochen vor dem Unglück einen Brandbrief, in dem sie bereits die katastrophalen Bedingungen anprangerten.

Portugal – Vom Mietenprotest zur Streikwelle

Die Wohnungspreise explodieren zurzeit, so sind in der Hauptstadt Lissabon die Mieten innerhalb eines Jahres um 37 % gestiegen. Eine Einzimmerwohnung kostet durchschnittlich 1350 Euro pro Monat. Dabei stehen 700.000 Wohnungen, überwiegend aus Spekulationsgründen, leer. Mehr als die Hälfte der Arbeitenden verdienen weniger als 1000 Euro im Monat, der Mindestlohn liegt bei 760 Euro. Am 1. April haben in sechs Städten mehrere Zehntausend Menschen gegen diese Entwicklung protestiert. Bereits im Februar demonstrierten und streikten 150.000, vor allem Lehrkräfte, für ein besseres Bildungssystem. Höhepunkt der Proteste könnte der 25. 4. werden, der Jahrestag der Nelkenrevolution. Gestreikt wird auch in weiteren Sektoren wie dem Gesundheitswesen oder der Bahn. Die Streiks von Eisenbahner:innen für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen rissen auch über Ostern nicht ab. Seit der 1-Jährigen Regierungszeit der Sozialdemokratie hat die Zahl der Streiks   massiv zugenommen. Allein im Januar gab es mehr als 300 Streikankündigungen, mehr als dreimal so viele wie im Vorjahr.

Allen voran sind in diesen Streikbewegungen die Beschäftigen des öffentlichen Dienstes, der Daseinsversorgung und des Transports. Also all diejenigen, für die man während der Corona-Pandemie noch geklatscht hatte. Wenn es jetzt darum geht die Löhne zu erhöhen und die Arbeitsbedingungen zu verbessern, sucht man diesen Zuspruch vergeblich. Alle sollen schön weiterarbeiten und die schlechten Bedingungen akzeptieren. Doch das Leben wird immer teurer und der Wille alles zu erdulden schwindet. So rollt eine Protestwelle durch Europa, die hoffentlich nicht so schnell wieder abebben wird.

Karl Gebhardt, Berlin

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