„Während des Kriegs haben die Oligarchen ihr wahres Gesicht gezeigt.“  

Am 22. August hatten wir Gelegenheit, in Wien mit Vitaliy Dudin von der ukrainischen Sozialnyj Ruch (Soziale Bewegung) über die aktuelle Lage der Arbeitenden und die Regierungspolitik während des Krieges zu sprechen. Aus dem langen Gespräch veröffentlichen wir hier Auszüge. Auch wenn wir nicht alle Positionen von Sozialnyj Ruch teilen, sind wir sehr froh, Informationen aus erster Hand über die Situation der ukrainischen Arbeitenden zu erhalten.

Aurora: Wie sind die Bedingungen in der Ukraine  und  worum  geht  es  bei  der Arbeitsrechtsreform, die die Regierung Selenskyj im Windschatten des Krieges durchgeführt hat?

Vitaliy Dudin: Die ukrainische Arbeiter:innenklasse hat im europäischen Vergleich einen sehr niedrigen Lebensstandard. Wir haben keine starke Gewerkschaftsbewegung, die Streiks organisieren könnte, was daran liegt, dass die Gewerkschaften zu Sowjetzeiten Teil der Staatsverwaltung waren. Und seit zehn Jahren ist die Linke politisch nicht mehr präsent, so dass es keinen Akteur gibt, der den Arbeitenden helfen würde, ihre Rechte durchzusetzen.

Das Arbeitsgesetzbuch, das noch aus den 1970er Jahren stammt, garantierte trotz aller Anpassungen nach wie vor wichtige Rechte. Im ersten Monat der russischen Aggression besaßen unsere Arbeitenden noch das Recht auf regelmäßige Lohnzahlungen und sie konnten nicht einfach entlassen werden. Aber schnell haben unsere Politiker entschieden, dass die Gesetzgebung „liberalisiert“ werden müsse. Manches wurde für die Dauer des Krieges befristet durchgeführt, doch dann wurden auch dauerhafte Änderungen durchgesetzt. Das war ein Schock für die Arbeiter:innen, denen erzählt wurde, wir säßen alle im selben Boot.

Das erste am 15. März beschlossene „Gesetz über die Organisation von Arbeitsbeziehungen“ gibt den Unternehmen die Möglichkeit, Arbeitsverträge zu suspendieren. Das ist keine Entlassung, aber die Arbeitenden bekommen keine Arbeit und keinen Lohn mehr. Zunächst dachten einige, das käme nur in vom Krieg betroffenen Gegenden zur Anwendung. Aber schnell wurde klar, dass praktisch jedes Unternehmen auf dem Territorium der Ukraine diese Klausel nutzen kann, um keine Löhne zu zahlen. Kündigungen können nun ohne Verhandlungen mit der Gewerkschaft vorgenommen werden. Zusätzlich bekommen Unternehmen die Gelegenheit, Arbeitsbedingungen von einem Tag auf den anderen zu verschlechtern. Und wer das nicht akzeptiert, der kann gefeuert werden. Außerdem kann sich fast jedes Unternehmen befreien von Vereinbarungen in Kollektivverträgen, wie Prämien, zusätzliche Urlaubstage, …

Aurora: Wie wurde das durchgesetzt?

V. D.: Das wurde top-down befohlen und gesagt, ihr müsst das akzeptieren. Es war nicht der beste Zeitpunkt für Widerspruch, weil russische Panzer in der Nähe der Hauptstadt Kiew standen und alle Leute Angst hatten vor den Raketenangriffen auf die gesamte Ukraine. Die Politiker haben dieses Gefühl der Angst ausgenutzt. Das war eine Gelegenheit für die Unternehmen, Stellen zu streichen. So wurden auch im Krankenhausbereich Hunderte oder Tausende Pflegekräfte im ersten Monat des Krieges entlassen. Die Arbeitslosigkeit steigt, sie liegt mittlerweile bei 35 %, und ich glaube, das Ende ist noch nicht erreicht.

Aurora: Haben die Gewerkschaften die Arbeitenden dagegen mobilisiert?

V. D.: Die kurze Antwort: Es gab keine Proteste oder Mobilisierungen. Wegen der Einschränkungen von öffentlichen Versammlungen und weil alle relevanten Ressourcen der Gewerkschaften eingesetzt werden für humanitäre Hilfe: Sie helfen Menschen, die vor dem Krieg geflohen sind, dabei, neue Jobs und Wohnungen zu finden. Und sie unterstützen ihre Mitglieder, die an der Front sind. Die aktivsten Gewerkschafter:innen sind an der Front. Daher ist es eine schwere Zeit für gewerkschaftliche Organisierung. Aber es gibt auch ein politisches Element: Sich jetzt auf für elementare Rechte von Arbeitenden einzusetzen, fordert nicht nur die Unternehmen heraus, sondern auch den herrschenden Konsens, der besagt, wir sollten alle Konflikte vergessen. Aber das ist völlig verlogen. Die Arbeitenden tragen die Kosten des Krieges und die Oligarchen können tun und lassen was sie wollen: Keine Steuern zahlen, ihre größten Fabriken schließen, das Land verlassen.

Die Gewerkschaften konzentrieren sich auf Petitionen, Forderungen und mediale Arbeit. Wenn das gut organisiert wird, kann das das Bewusstsein der Menschen beeinflussen. Es gibt einen Kampf um politische und gesellschaftliche Hegemonie. Wir setzen uns für die Rechte am Arbeitsplatz ein, aber zugleich kämpfen wir für eine soziale Alternative zu diesem Kurs. Wir denken, dass dieses System auf unfairen Prinzipien basiert. Während des Kriegs haben die Oligarchen ihr wahres Gesicht gezeigt.

Interview geführt von Nike Milos, Wien

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