
Der Roman des französischen Schriftstellers Nicolas Mathieu spielt in der Kleinstadt Heillange im Osten Frankreichs zwischen 1992 und 1998. Sowohl der Ort als auch die Zeit sind der Ankerpunkt dieser Erzählung. Eine Kleinstadt, geprägt durch die stillgelegten Hochöfen der Schwerindustrie, in einer Zeit, in der nicht mehr die Arbeit in der Fabrik die Verbindung der dort wohnenden Menschen ist, sondern die Arbeitslosigkeit, die Perspektivlosigkeit, das Überleben im aufkommenden Neoliberalismus. So gesehen ist der Ort wiederum austauschbar durch viele andere Kleinstädte Europas in dieser Zeit, die im Schatten der geschlossenen Industrieviertel ihre neue Identität, ihre neue Zukunft suchen müssen. Die Protagonist:innen des Romans sind die Jugendlichen der Kleinstadt und deren Familien – in Plattenbauten, in Reihenhäusern, in den wenigen wohlhabenden Kleinstadtvillen. Nach außen hin erweckt das Buch den Eindruck, es handle sich um einen platten Coming-of-Age-Roman, jedoch offenbart das Innere eine Beschreibung unserer Klassengesellschaft.
Die Einzelschicksale spiegeln die Lage einer ganzen Klasse wider — der Arbeiter:innenklasse. Die Erzählung zeigt den engen Rahmen, den diese Klassenzugehörigkeit jedem Aspekt des Lebens der Menschen aufzwingt, ob Arbeit, Bildung, Persönlichkeitsentwicklung oder soziale Beziehungen. Der Roman zeigt uns, wie wir durchdrungen sind von unserer Klassenzugehörigkeit, wie wir sie reproduzieren und über Generationen weitergeben. Dabei stellt er die neoliberale Erzählung über die unbegrenzte Selbstverwirklichung grundlegend in Frage. Wie frei können wir in einer Gesellschaft sein, die durch Klassenverhältnisse bestimmt ist? –Diese Frage schwingt leise mit, während wir das Leben der Menschen in Heillange verfolgen. Der Autor zeigt uns die Probleme, die Härte der Gesellschaft, ohne jedoch das Schöne des Lebens auszulassen, ohne in Kitsch, Pomp oder überhebliche Analyse zu verfallen. Er zeigt das Raue und das Sinnliche eingebettet in den existierenden Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft. Auf eine klare Weise werden Themen wie Rassismus, Sexismus, Gewalt, Sucht und erwachsen werden verhandelt.
Nicolas Mathieu wählt wohl nicht umsonst die 90er Jahre aus, um die Entwicklung der Arbeiter:innenklasse anhand einer Generation zu beschreiben. Ihre organisierte Kraft scheint fast erloschen zu sein, statt der Solidarität, statt des Kollektivs nimmt das Individuum und das Überleben des Einzelnen einen immer größeren Platz ein, statt Klassenbewusstsein und Klassenkampf breiten sich die hohlen und trügerischen Phrasen des Fortschritts in die Zukunft immer weiter aus. Die Protagonist:innen befinden sich genau an der Schwelle dieser Zeitenwende, mit den großen Geschichten der Vergangenheit erzogen und mit der Generation ihrer Eltern vor Augen, die an den gesellschaftlichen Veränderungen zerbrechen, versuchen sie ihren eigenen Weg zu finden, an den schweren Gittertüren des Systems zu rütteln und sich ihre Freiräume zu erkämpfen. Der Roman bietet kein Programm für einen Weg hinaus, er sagt nicht, was getan werden muss, um diese gesellschaftlichen Verhältnisse zu überwinden, aber er beschreibt die Lage der Klasse, die das Potential hat, diese Veränderung herbeizuführen. Und auch wenn viel Scheitern, viel Schwere darin liegt, ist diese Lage und die Geschichte ganz und gar nicht hoffnungslos. Der Roman schaffte es trotz allem, dass die Leser:in in die süße Melancholie eines lauen Sommerabends mit all seinen Träumen, Möglichkeiten und Sehnsüchten eintaucht.
Zu guter Letzt eine kleine Anmerkung der Rezensionsautorin: Wer den in der deutschsprachigen Linken viel gefeierten Didier Eribon und sein Buch „Rückkehr nach Reims“ gelesen hat, wird viele Themen wiederfinden, wer sich entscheiden muss zwischen den beiden Werken, dem würde ich „Wie später ihre Kinder“ empfehlen, das Buch macht einfach viel mehr Freude beim Lesen und hat absoluten Suchtcharakter.
Nike Milos, Wien