Kein Lockdown für politische Proteste und Aufstände weltweit

Das Jahr 2019 war ein Jahr der sozialen Proteste in vielen Ländern der Erde: von Hongkong bis Chile, von Algerien über den Sudan bis in den Nahen und Mittleren Osten mit Ländern wie Libanon, Irak und Iran. Die Corona-Pandemie hat weltweit zu einem Lockdown und mehr oder weniger strengen Ausgangssperren geführt, was öffentliche Proteste schwieriger gemacht hat. In manchen Ländern ist die Gefahr zu verhungern eine unmittelbarere Gefahr und Sorge, als das Coronavirus selbst (siehe den Artikel zur globalen Hungerkrise in dieser Ausgabe). Doch auch wenn viele der großen Mobilisierungen des letzten Jahres durch Corona unterbrochen wurden, so besteht die Wut fort. Und mit der Wirtschaftskrise, die sich in immer mehr Ländern verschärft, werden neue Ausbrüche wahrscheinlicher.

In Algerien beispielsweise gab es über ein Jahr lang wöchentliche Massenproteste (von Februar 2019 bis März 2020) zunächst gegen den greisen Dauer-Präsidenten Bouteflika, der ein weiteres Mal kandidieren wollte, doch dann nach dessen Rückzug sehr schnell gegen das gesamte Regime und die korrupten „Eliten“ des Landes. Auch die Wahl des neuen Präsidenten Tebboune im Dezember hat den wöchentlichen Mobilisierungen gegen die Ausplünderung der Bevölkerung durch die Reichen nichts anhaben können. Erst durch die Corona-Pandemie und die Ausgangssperre sind seit Mitte März die Straßen auch freitags leer und die Regierung verschärft die Repression unter Deckmantel von Corona.

Doch die Bewegung – „Hirak“ im Arabischen – hat tiefe Spuren im kollektiven Bewusstsein hinter-lassen und könnte schnell wieder aufflammen, sobald die unmittel-bare Corona-Gefahr etwas in den Hintergrund tritt. Das kämpferische Selbstbewusstsein in Algerien hat sich auch unter Corona schon wieder gezeigt: Die Arbeitenden beim Energieunternehmen Energa haben auf einer Kundgebung bezahlten Sonderurlaub für die Zeit vom 19.-29. April gefordert.
Und Mitte April haben in Oran, der zweitgrößten Stadt des Landes, die Arbeiter*innen der städtischen Müllabfuhr für eine Coronaprämie gestreikt.


Ein Beispiel, wo die Proteste sich von der Corona-Pandemie nicht haben aufhalten lassen, ist der
Libanon, der seit Monaten in einer tiefen politischen und wirtschaft-lichen Krise steckt und am 9. März für zahlungsunfähig erklärt wurde. Das kleine Land an der Ostküste des Mittelmeers wurde lange als „Schweiz des Nahen Ostens“ betrachtet, weil dort der Finanz- und Bankensektor so stark ist und die Superreichen ein angenehmes Leben führen. Die Kehrseite ist die Armut der großen Bevölkerungsmehrheit in diesem Land der extremen Ungleichheit.

Die reichsten 0,1 % (rund 3.000 Menschen von 5 Millionen) be-kommen 10 % des Einkommens, genauso viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung! Und die Lage spitzt sich in der Krise dramatisch zu: Während im letzten Herbst schon ein Drittel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebte, sind es inzwischen 45 %. Dazu kommt, dass der Libanon, an der Grenze zu Israel und zu Syrien, eines der Länder mit dem höchsten Aufkommen von Geflüchteten weltweit ist. Ein Drittel der Bevölkerung lebt in Flüchtlingslagern.

Der Öffentliche Dienst war schon vor Corona katastrophal: 20 % der Libanes*innen hat keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, es gibt keine durchgehende Stromversorgung und die Krankenhaus-beschäftigten protestieren schon seit letztem Sommer gegen die Unterversorgung des Gesundheitssystems.

Am 17. Oktober 2019 hat eine „WhatsApp-Steuer“ das Fass zum Überlaufen gebracht und eine breite Aufstandsbewegung ausgelöst, die sich ähnlich wie in Algerien und anderen Ländern gegen die soziale Ungerechtigkeit und die offensichtliche Korruption der Herrschenden richtet.

Corona war für die erschütterte Regierung eine sichtlich willkommene Gelegenheit, zunächst Ausgangs-beschränkungen und dann ab dem 21. März eine Ausgangssperre zu verhängen. Diese wurde versucht mit Militär und Hubschrauberüber-wachung durchzusetzen.

Bei Redaktionsschluss gab es im Libanon offiziell „nur“ 1.000 bestätigte Coronafälle und 26 Tote.

Angesichts des desaströsen Gesundheitswesens könnte eine stärkere Welle, insbesondere in den Flüchtlingslagern, schnell zu neuen Katastrophen führen. Doch die Bevölkerung hat keine Wahl.

Wie auch in vielen anderen Ländern des globalen Südens treffen die Ausgangsbeschränkungen besonders die arme Bevölkerung, von der sich ein großer Teil im sogenannten „informellen Sektor“ als Kleinhändler*innen oder Schwarzarbeiter*innen durchschlägt, die nun von ihren mageren Einkommensquellen abgeschnitten sind. Und die Inflation galoppiert weiter, so dass die Verzweiflung die Menschen wieder auf die Straße getrieben hat.

„Mit dem Virus hat man ein Risiko von 3-6 % zu sterben, am Hunger stirbt man sicher. Wenn wir uns entscheiden müssen, ziehen wir das Virus vor!“

Und so sind am 21. April wieder Hunderte Demonstrant*innen im Libanon auf den zentralen Märtyrerplatz in Beirut geströmt. Und bis Ende April hat sich Protest weiter verschärft. Banken als Symbol der Ungleichheit wurden attackiert, die vor allem jungen Menschen haben einen Ruf auf den Lippen: „Revolution!“

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