Geschichte topaktuell

Das Buch „Lemberg. Die vergessene Mitte Europas“ von Lutz C. Kleveman ist nichts für schwache Nerven, da es auch in die brutalen Abgründe von Gewalt und Massenmord im 20. Jh. blickt. Es schildert die Geschichte dieser westukrainischen Stadt, die heute Lviv heißt, und eröffnet tiefe Einsichten in die nationalen Konflikte in der Ukraine, die auch im heutigen Krieg eine nicht unwichtige Rolle spielen.

Der ukrainische Nationalismus ist nicht zufällig in der Westukraine besonders stark ausgeprägt, weil hier die Geschichte reich an nationaler Unterdrückung ist. Dabei liegen Opfer und Täter oft nah beieinander, anders als in den nationalen Mythen, die sowohl von antirussischen als auch von prorussischen Kräften mit umgekehrtem Vorzeichen gerne bedient werden. Kleveman widersetzt sich jeder vorschnellen Parteinahme und versucht besonders die blinden Flecken der Geschichte auszuleuchten.

Elf chronologisch angeordnete Kapitel tauchen ein in die bewegte Geschichte dieser Stadt zwischen der österreichisch-ungarischen Habsburger Kaiserzeit im 19. Jahrhundert und dem 2. Weltkrieg. Sie werden immer wieder unterbrochen von Schilderungen aus der Gegenwart, das heißt aus den Jahren 2014-2015, in denen der Autor zur Spurensuche in Lviv war und seine historischen Recherchen mit wachem und nachdenklichem Blick vor Ort durchführte. Das Buch zitiert viele Memoiren und persönliche Erinnerungen, Kleveman unterhält sich auch mit Zeitzeugen und so „erleben“ wir die leidvolle, aber auch anregende Geschichte dieser Stadt aus sehr persönlichen Schilderungen.

Lemberg lag im Kreuzfeuer unterschiedlicher Großmächte, wurde innerhalb weniger Jahrzehnte in beiden Weltkriegen vielfach erobert und wechselte dadurch oft die staatliche Zugehörigkeit. Auch die Zusammensetzung der Bevölkerung wechselte durch Kriege, Vertreibungen und Mord. Zum Beispiel waren 1840 noch 49 % der Bevölkerung polnisch, 41 % jüdisch und nur 7 % ukrainisch. Die heutige Bevölkerung ist fast nur noch ukrainisch. Im Vergleich zu dem, was später kam, kann die Habsburger Zeit mit ihrem Vielvölkergemisch irgendwie idyllisch erscheinen. Aber Kleveman verklärt auch diese Zeit nicht und zeigt auf, wie schon damals die Machthabenden eine Teile-und-herrsche-Politik angewandt haben, die die späteren Katastrophen vorbereitete.

Lemberg war lange Zeit „multikulti“ und tatsächlich noch in den 1920er Jahren – als die Stadt wieder zu Polen gehörte – eine kulturelle Hochburg insbesondere jüdischer, aber auch polnischer Intellektueller. Das Buch lässt uns an dieser Blütezeit teilhaben.

Dann kommt der Zweite Weltkrieg: Nach dem deutschen Einmarsch in Polen 1939 wird Lemberg kurz deutsch, aber aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts an die Sowjetunion übergeben. Als Nazideutschland 1941 dann die Sowjetunion überfällt, kommt Lemberg wieder unter deutsche Kontrolle. Kurz vorher massakrierte die stalinsche Geheimpolizei Tausende politischer Gefangener. Die jüdische Bevölkerung wurde zum Sündenbock gemacht und nicht wenige Ukrainer:innen beteiligten sich an Pogromen und unterstützten den deutschen Völkermord an den Juden und Jüdinnen, der in der Ukraine besonders grausam wütete.

Kleveman ist kein Marxist und uns wird keine Klassenanalyse der Ereignisse geboten. Dessen ungeachtet ist dieses besondere Geschichtsbuch wärmstens zu empfehlen. Der Autor wurde durch die Ereignisse rund um die Majdan-Revolte, die Annexion der Krim und den Beginn des Krieges im Donbass 2014 dazu angeregt, sich mit der ukrainischen Geschichte zu beschäftigen. Sein Buch liefert nach wie vor einen wertvollen Beitrag zum Verständnis der heutigen Ukraine, der nationalen Traumata und der nationalistischen Narrative, die durch den Angriffskrieg Russlands erneut angefacht werden. Es ist ein im besten Sinne des Wortes aufklärerisches Buch.

Richard Lux, Berlin

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