In der letzten Ausgabe der Aurora brachten wir einen Artikel „Der Zweite Weltkrieg: Demokratie gegen Faschismus?“, in dem wir die wirtschaftlichen Hintergründe des Krieges und die Interessen der kriegführenden Parteien analysiert haben. Dort wurde ausgeführt, dass aus Sicht der Arbeiter*innenklasse und der Unterdrückten im Zweiten Weltkrieg verschiedene Aspekte zusammengekommen sind: ein imperialistischer Krieg zwischen den Westmächten und Deutschland/Japan um die Aufteilung der Welt; ein Verteidigungskrieg des – stalinistisch degenerierten – Arbeiter*innenstaats Sowjetunion gegen den Imperialismus; ein Kampf der Menschen in den Kolonien gegen die Imperialist*innen und viertens der Kampf der Arbeiter*innenklasse um ihre Befreiung. Die Völkermorde an Jüd*innen, an Sinti und Roma und an der slawischen Bevölkerung Ost- und Südosteuropas1 haben wir dort nicht behandelt. Das wollen wir hiermit nachliefern.
Der Krieg im Osten war ein Vernichtungskrieg jenseits der „Kriegslogik“
Denn der Krieg im Osten stellte nicht nur einen Krieg gegen den Arbeiter*innenstaat oder einen Krieg zur Eroberung von Rohstoffen dar. Während im Westen tatsächlich ein „normaler“ Krieg zwischen imperialistischen Mächten stattfand, war der Krieg im Osten von Anfang an als Vernichtungskrieg konzipiert, die Ausrottung als „minderwertig“ angesehener Menschen ein Kriegsziel.
Die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ hat in den Jahren nach 1997 trotz einzelner sachlicher Fehler anschaulich belegt, dass der Krieg der Wehrmacht von den Aktionen der SS nicht zu trennen war und die Wehrmacht im Ganzen Teil des Vernichtungskriegs war.
Bereits im Polenfeldzug 1939 folgten hinter den Kampfeinheiten die Mordkommandos der SS. In Jugoslawien und vor allem in der UdSSR trat 1941 neben den „Einsatzgruppen“ die Wehrmacht von Anfang an selbst als aktiver Teil der NS-Vernichtungspolitik gegen die Zivilbevölkerung und Kommunist*innen in Erscheinung. Es wurden Ressourcen und Truppen aus militärischen Handlungen abgezogen, um Massaker wie an Weihnachten 1941 in Simferopol (Krim) zu organisieren.
Die Entscheidung Leningrad nicht zu erobern, sondern durch Belagerung auszuhungern, band über drei Jahre wesentliche Truppenteile der Wehrmacht. Die Deportation per Bahn und die Ermordung von ca. 565.000 ungarischen Jüd*innen ab April 1944 erfolgte, als gleichzeitig ab Juni 1944 die deutsche Ostfront zusammenbrach und die West-alliierten in Frankreich landeten.
Diese deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkrieges lassen sich weder durch militärische noch durch kriegswirtschaftliche Notwendigkeiten begründen. Der Krieg im Osten hatte die physische Vernichtung von Menschen, die objektiv keinerlei Gefahr für Nazideutschland darstellen, zum Ziel, selbst wenn dadurch reale militärische Aufgaben vernachlässigt wurden. Die bürokratisch-rationale Organisation des Massenmords darf nicht davon ablenken, dass die Morde insgesamt sich kaum rational erklären lassen.
Wie ist diese Irratonalität der deutschen Kriegsführung zu erklären?
Stalinistisch geprägte Ansätze, die Hitler als reine Marionette des deutschen Kapitals hinstellen und die Völkermorde nur am Rande erwähnen2, können diese Kriegsführung nicht erklären. Die deutsche Bourgeoisie hatte zwar ein Interesse an osteuropäischen Kolonialgebieten und billigen Arbeitskräften – aber nicht an der Vernichtung von Millionen von Menschen. Auch steuerte „das Kapital“ Hitler nicht.
Teile der deutschen Bourgeoisie und des Militärs versuchten ja in Anbetracht der Kriegsniederlage sogar, sich am 20. Juli 1944 von Hitler zu lösen – vergeblich.
Ein anderer Erklärungsansatz versucht das „deutsche Volk“ insgesamt für die Völkermorde verantwortlich zu machen. „Hitlers willige Vollstrecker“ lautete der Titel des einschlägigen Buches von Daniel J. Goldhagen 1997. „Die Deutschen“ hätten schon vor Hitler einen „mörderischen Antisemitismus“ in sich gehabt. Daraus abgeleitet wären die Deutschen dann im Ganzen schuldig, wie es „antideutsche“-Strömungen ja behaupten und z.B. das Bombardement deutscher Städte durch die USA und Großbritannien feiern. Eine Kollektivschuld im Sinne einer aktiven Teilnahme „aller Deutschen“ hat es aber nicht gegeben, selbst das Ausmaß des Antisemitismus und der Willen das Regime zu unterstützen unterscheiden sich zwischen den gesellschaftlichen Klassen stark.
Die geographische Lage der Vernichtungslager weit außerhalb des eigentlichen Reichsgebiets dürfte sich dadurch erklären, dass „die Deutschen“ zwar die Entrechtung und Vertreibung, nicht aber die Ermordung der Jüd*innen unterstützten. Beide Erklärungen greifen also viel zu kurz.
Faschismus nicht als „Agent“ sondern dynamische Bewegung über Klassengrenzen hinweg
Der Faschismus ist nie eine marionettenartige „Agentur des Kapitals“ gewesen, sondern kam als dynamische, „rechtsrevolutionäre“ Bewegung des Kleinbürgertums zu seiner Stärke. So vermochte er es, auch Menschen aus anderen Klassen an- und mitzuziehen. Neben einem Hass auf die Arbeiter*innenbewegung gab es im „Nationalsozialismus“ auch eine „linke“ Strömung, die sich gegen das „raffende Bankkapital“ und „die Bonzen“ richtete. Dieser Flügel des Nazifaschismus wurde nach 1933 enttäuscht und 1934 mit der Ermordung der SA-Führung politisch entmachtet. Aber anders als der italienische Faschismus ist der deutsche Faschismus nie auf eine „reine Diktatur“ zurückgesunken. Vor allem bis 1943, aber auch danach, war die Nazibewegung in der Lage dynamisch große Teile v. a. des Kleinbürgertums und der Bauernschaft zu mobilisieren. Da aber ein echter Kampf gegen „die Banken“ oder „die Bonzen“ nicht im Interesse der Naziführung lag, bedurfte es zur Aufrechterhaltung der Dynamik schon wirklicher Maßnahmen – die nichts mit einem Klassenkampf zu tun haben – gegen Teile des Kapitals: „jüdische“ Betriebe, Medien und Selbständige.
Die Ausschaltung der „jüdischen“ Konkurrenz durch Boykott und Enteignung – oft verbunden mit der Möglichkeit den ehemaligen Konkurrenten günstig aufzukaufen – ließ nicht nur die Deutsche Bank oder Karstadt, sondern auch Zahnärzte, Anwälte und kleine Geschäftsinhaber vom Antisemitismus profitieren. An der Auflösung jüdischer Wohnungen und der Versteigerung des Mobiliars beteiligten sich – abgestuft durch Vermögen und politische Überzeugungen aus der Zeit vor 1933 – alle Klassen der deutschen Bevölkerung.
Vor allem aber die nach 1939 einsetztenden Vergewaltigungen, Erschießungen und Massaker im Bereich der Wehrmacht bezogen tatsächlich alle Schichten der deutschen Bevölkerung ein. Das Wissen um diese „Mitschuld“ hat bis 1945 Abwehrkräfte in der deutschen und österreichischen Bevölkerung gegen die Kriegsgegner*innen und den antifaschistischen Widerstand mobilisiert und nach 1945 kollektive Verdrängungsprozesse befördert.
Nazideutschland zementierte zwar die Klassenherrschaft, aber ermöglichte einzelnen Arbeiter*innen durch „Mitmachen“ im NS-Staat den sozialen Aufstieg. Damit verließen sie, z. T. unter merklicher Verachtung ihrer Kolleg*innen, ihre Klasse. Obwohl die Arbeiter*innenklasse innerhalb der deutschen Gesellschaft vom Faschismus insgesamt am wenigsten infiziert wurde, gelang es dem Faschismus doch, Hunderttausende deutscher Arbeiter*innen in sein Projekt hineinzuziehen. Das auch, weil die Niederlage der Arbeiter*innenbewegung 1933 eine weitgehend kampflose war und Hitlers Politik in den ersten Jahren scheinbare Verbesserungen auch für Arbeiter*innen brachte3.
Durch die Zerschlagung aller Strukturen der Arbeiter*innenbewegung bis auf kleinste Zirkel im Untergrund gelang es dem Faschismus die Arbeiter*innenklasse zu atomisieren, aus einer mächtigen Klasse Millionen vereinzelter Menschen zu machen, die nun mehr oder minder allein dem Faschismus, seiner Propaganda und seinen „Angeboten“ gegenüberstanden.
Wo das Klassenbewusstsein zerschlagen wurde, war die „nationale Identität“ auch für Arbeiter*innen leichter anzunehmen. Die Arbeiter*innenklasse war ausreichend isoliert, um spätestens ab 1936 einen Klassenwiderstand – wie in Italien – bis 1945 im Wesentlichen zu verhindern.
Die Nazidiktatur hatte mehrere konkurrierende Machtzentren
Es waren nicht „die Nazis“, die etwas taten… Es waren die Nazis, die es verstanden, wesentliche Teile der deutschen (und ab bzw. schon vor 1938 der österreichischen) Bevölkerung durch Propaganda, aber auch durch ein als „echt“ erlebtes „nationales Gemeinschaftsgefühl“ und konkrete Aufstiegsperspektiven in ihr Projekt hineinzuziehen.
Der Holocaust und die Verbrechen der Wehrmacht waren kein Werk kleiner Gruppen, wenn sie auch durch bürokratische „Fachmänner“ organisiert waren.
Der Nazifaschismus lebte auch nach 1933 von der dynamischen Eigentätigkeit seiner – vor allem, aber nicht ausschließlich – klein-bürgerlichen Aktivist*innen und der scheinbaren Alternativlosigkeit zum Gehorsam. Selbst Verweigerung oder Unangepasstheit kam selten über ein individuelles Verhalten hinaus, die Bildung einer breiten Widerstandsbewegung gelang daher zu keinem Zeitpunkt. Hitlers Regime war nie eine „Ein-Mann-Diktatur“, auch wenn die NS-Propaganda oder ZDF-History es so darstellen.
Innerhalb des Faschismus gab es stets verschiedene miteinander konkurrierende Machtzentren, unter denen Heinrich Himmlers SS als „Staat im Staate“ eines der mächtigsten war.
So wurden zwar die Kapitalist*innen in ihrer ökonomischen Herrschaft nicht enteignet, aber die SS über das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt und einige nazikontrollierte Staatsbetriebe (z. B. „Hermann-Göring-Werke“) traten politisch unterstützt als neue „Konzerne“ auf den Markt. Der Holocaust war zwar nicht der Wille „des deutschen Kapitals“, aber zumindest der „Konzern“ SS verdiente sehr gut am Massenmord4. Hitler stand über all dem, förderte die sich in Nuancen unterscheidende ideologische Konkurrenz und innerbürokratische Machtkämpfe und wurde von den verschiedenen Nazigruppen umworben. So sehr er auch die Radikalisierung förderte, ließ er die Grundentscheidung – die kapitalistischen Strukturen und die alten Eliten nicht anzutasten – nicht in Frage stellen. Als die SA dies in eingeschränktem Maße 1934 versucht hatte, ließ Hitler ihre Führung ermorden. Die Grenzen waren also klar.
Verbrechen angesichts der eigenen Ohnmacht im verlorenen Krieg
Vor diesem Hintergrund – Kampf einzelner Machtzentren, Erhalt der Dynamik der Bewegung trotz klarer Begrenzung, Einbeziehung weiter Teile der Bevölkerung ins faschistische Projekt – erklärt sich die Radikalisierung des NS-Regimes insbesondere nach 1941 und der weitgehend fehlende Widerstand dagegen.
Die Ohnmacht des Kleinbürgers die Welt zu ändern und die Ohnmacht des Nazis den Krieg zu gewinnen brachen sich in immer mörderischerem Hass auf Pol*innen, Sowjetbürger*innen, Osteuropäer*innen, Jüd*innen, Sinti und Roma Bahn. Letztlich als Zusammenspiel aus den wirtschaftlichen Interessen der SS, den politischen Interessen einzelner Zentren des NS-Staats um mehr Einfluss und dem ohnmächtigen Hass der radikalisierten „Volksgenoss*innen“ (vor allem der Soldaten) an der „Basis“ erklärt sich die Bereitschaft mitten im Krieg ungemeine Ressourcen für noch ungemeinere Verbrechen einzusetzen und sich an diesen zu beteiligen.
Teile der NS-Führung legten diese Prioritäten fest, aber sie taten es nicht im Auftrag und nur eingeschränkt im Interesse der Konzerne und auch nicht als „reines“ Ergebnis ihrer Ideologie. Wenn die Welt schon nicht erobert und die Macht der Banken und Konzerne nicht angetastet werden kann, dann sollten zumindest die Jüd*innen und die Osteuropäer*innen die Macht des NS-Staats spüren.
Die Vernichtung der Jüd*innen und die Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung nahmen in dem Maße zu, in dem der Krieg nicht mehr zu gewinnen war. Die „Endlösung“ – also die industrialisierte Vernichtung – wurde Anfang 1942 beschlossen, als der „Blitzkrieg“ gegen die UdSSR gescheitert war. Der Abzug von kriegswichtigen Ressourcen von der Front erklärt sich also gerade aus der Niederlage im Krieg.
Die Vernichtung von Millionen von Menschen und deren Kampf gegen ihre Vernichtung bilden somit innerhalb des Zweiten Weltkriegs tatsächlich einen eigenen Krieg und es war und ist die Aufgabe der Revoutionär*innen auch hier an der Seite der erniedrigten und ermordeten Menschen zu stehen.
Der Vernichtungskrieg der Nazis lässt sich nicht einfach aus dem Kapitalismus oder einem bösen Willen ableiten. Nichtsdestotrotz waren es die zerstörerischen Auswirkungen der kapitalistischen Krise ab 1929, die mit ihrem sozialen Elend überhaupt erst den Aufstieg des Nationalsozialismus und seiner Verheerungen ermöglichte. Die Katastrophe des Faschismus hätte sich 1933 nur durch die Revolution der Arbeiter*innenklasse verhindern lassen. Solange der Kapitalismus besteht, werden die Kapitalist*innen bereit sein, zur Erhaltung ihrer ökonomischen Macht auch politischen Bewegungen Macht zu geben, die in ihrer Eigendynamik vor Krieg und Völkermorden nicht zurückschrecken.
Fußnoten
1 Mit dem Begriff „Jüd*innen“ meinen wir Menschen, die von den Nazis aufgrund konstruierter „genetischer Faktoren“ zu Jüd*innen gemacht – und verfolgt – wurden unabhängig davon, ob diese sich selbst religiös oder ethnisch als Jüd*innen wahrnahmen. Weiter sprechen wir von Völkermorden in der Mehrzahl, da der Begriff „Holocaust“ oder „Shoa“ sich allein auf die Vernichtung der Jüd*innen bezieht, Opfergruppen wie Sinti und Roma andere Begriffe benutzen und die Verbrechen gegen Pol*innen und „nichtjüdische“ Einwohner*innen der UdSSR keine eigene Bezeichnung haben.
2 In den Geschichtsbüchern der DDR werden der Krieg und die Partisan*innenbewegung ausführlich dargestellt, der Holocaust aber nur in einzelnen Sätzen als zusammenhangsloses Verbrechen der Nazis erwähnt. Die größte (mao-)stalinistische Organisation in der BRD, die MLPD, stellt ebenfalls den Krieg im Osten als Raubkrieg im Interesse des „Monopolkapitals“ dar, das auch die Ideologie des Antisemitismus und des „Lebensraums im Osten“ zu verantworten habe. Der Völkermord kommt bei der Betrachtung, die auch ansonsten voller stalinistischen Mythen und Geschichtsverdrehungen ist, nicht vor: https://www.mlpd.de/2020/05/75-jahre-befreiung-vom-hitler-faschismus-ein-sieg-des-sozialismus.
3 Eine ausführliche Darstellung der Lage der Arbeiter*innen unter dem Faschismus würde hier den Rahmen sprengen. Die Aufrüstung und die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Nazis aber ließen zusammen mit den politisch niedrig gehaltenen Löhnen die Erwerbslosigkeit bis 1936 verschwinden und ließen danach auch die Löhne moderat steigen. Während in den meisten Bereichen der Konsumgüterindustrie auch 1939 noch nicht wieder die Reallöhne von 1929 erreicht wurden, lagen die Löhne in der Metallindustrie, auf dem Bau und im Bergbau z. T. deutlich übertroffen – allerdings um den Preis einer Arbeitszeitverlängerung von drei bis vier Stunden die Woche. Relevant für das Bewusstsein vieler weniger klassenbewusster Arbeiter*innen aber war weniger die – relativ betrachtet – geringe Verbesserung ihrer Lebenslage gegenüber 1928, sondern ihre absolute Verbesserung gegenüber 1932.
4 Verdient an der Shoah haben auch „normale“ deutsche Konzerne wie der Zusammenschluss der Chemieindustrie (IG Farben) oder die Schwerindustrie über billige Sklavenarbeiter*innen. Sie aber hatten kein eigenes Interesse an der Vernichtung „ihrer“ Arbeitsklav*innen.