
Wie Streikrecht und Gewerkschaftsbürokratie die Kampfkraft der Arbeitenden im Zaum halten sollen
Wer nicht will, dass die Welt so unmenschlich bleibt, wie sie ist, steht vor der Frage, welche Kraft in der Lage ist, entscheidende Veränderungen durchzusetzen. Die Arbeiterklasse wurde schon oft tot gesagt in der sogenannten „Dienstleistungs-“ oder „Wissensgesellschaft“. Doch diese Arbeiterklasse, also die große gesellschaftliche Mehrheit aller arbeitenden und in Arbeitslosigkeit gedrängten Menschen, ist auch im 21. Jahrhundert eine entscheidende Macht. Die Arbeitenden halten die Wirtschaft am Laufen, haben alle gemeinsam also das notwendige Know-How, um sie auf ganz anderer gesellschaftlicher Grundlage weiterzuführen, indem sie selbst die Organisierung von Produktion und Verteilung in ihre Hände nehmen.
In der jetzigen Gesellschaft kommt der Reichtum, den sie schaffen, nur der kleinen Minderheit von Superreichen zugute, die hinter den Großkonzernen steht und die sich immer weiter bereichert. Die Vorstellung, dass man gegen die herrschenden Interessen des international vernetzten und mobilen Kapitals erfolgreich Widerstand leisten könne, ist heute nicht sehr verbreitet – die Angriffe auf den Lebensstandard der Arbeitenden sind so vielfältig und oft von Erfolg gekrönt. Doch da alle Profite von menschlicher Arbeitskraft abhängen, hat die Arbeiterklasse noch immer eine entscheidende Waffe: den Streik.
Genau dafür, um sich zu organisieren, zu streiken und somit viele Verbesserungen zu erkämpfen, wurden vor weit mehr als Hundert Jahren Gewerkschaften gegründet. Die Arbeiterbewegung hat seitdem – auch in Deutschland – viele große Kämpfe geführt. Doch heute sind Gewerkschaften zwar immer noch große Organisationen, aber vollkommen in das kapitalistische System integriert. Streiks sind eher selten. Wer das revolutionäre Potenzial der Arbeiterklasse wiederbeleben will, muss verstehen, wie es zur heutigen Situation gekommen ist.
Darum geht es in dieser Broschüre: Um das wie geölt laufende Rechtsarsenal, das die deutschen Unternehmen und ihr Staat nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschaffen haben, um die Arbeiterklasse zu kontrollieren, zu disziplinieren und ihre Vertreter*innen einzubinden. Daraus hat sich das deutsche „Modell“ der sogenannten „Sozialpartnerschaft“ und „Mitbestimmung“ entwickelt, das international ziemlich einzigartig ist und zuletzt auch französischen Unternehmensvertretern als Vorbild dient. Es handelt sich dabei um eine Art bürgerliche „Heilige Dreifaltigkeit“:
- Erstens eine mächtige Gewerkschaftsmaschinerie mit einem im Vergleich zu anderen Ländern hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad und zugleich einer Praxis von Sozialpartnerschaft mit den Unternehmen, die sich in Ritualen von Verhandlungen und Zugeständnissen zeigt.
- Zweitens ein restriktives Streikrecht, das von der Gewerkschaftsbürokratie zudem nur sehr zurückhaltend genutzt wird und das rechtlich keine Entscheidungsmöglichkeit für einen Streik auf der Ebene des einzelnen Betriebs vorsieht.
- Drittens schließlich die ziemlich einflussreichen Betriebsräte, die ein Recht auf Kontrolle bei Entlassungen, Neueinstellungen oder Umstrukturierungen haben, aber stets dem göttlichen Befehl des „Betriebsfriedens“ unterworfen sind und dem Management viele Zugeständnisse machen.
Gewerkschaftsvertreter*innen und Betriebsrät*innen sehen ihre Aufgabe häufig darin, „ihre Branche“ oder sogar „ihren Standort“ zu verteidigen, zumeist Seite an Seite mit den Chefetagen. Wir erinnern uns an die Pläne zur Streichung von 23.000 Arbeitsplätzen bei Volkswagen, die den Beschäftigten gemeinsam durch die Geschäftsführung, den Betriebsratsvorsitzenden und einen Gewerkschaftsverantwortlichen der IG Metall präsentiert wurden.
Es wird alles getan, um die Kampfbereitschaft der Arbeiter*innen so weit wie möglich zu beschränken. Aber das funktioniert nicht immer. Es gibt viele Beispiele für Arbeitsniederlegungen oder sogar größere Streiks, deren Wucht die rechtliche Zwangsjacke zerriss. Das jüngste, zugegebenermaßen kleine Beispiel, ist das der Piloten der insolventen Fluggesellschaft Air Berlin während der Verhandlungen der Unternehmensleitung mit Lufthansa. Massive Krankheitsfälle häuften sich als Protest gegen die Tatsache, dass die der Arbeitsplatzsicherheit bei den Verhandlungen die letzte aller Sorgen war. Das Ergebnis: mehr als 100 annullierte Flüge…
Wer strenge rechtliche Fesseln anlegt, schafft auch Schlupflöcher und erleidet gelegentlich „wilde“ und unerwartete Gegenschläge. Auch das gehört zum deutschen „Modell“!
Im zweiten Teil dieser Broschüre geben wir zwei ältere Texte neu heraus, die sich mit den Aufgaben und Möglichkeiten für kämpferische Aktivist*innen in den Betrieben beschäftigen, die sich der mächtigen Gewerkschaftsbürokratie entgegenstellen wollen.
Darin sehen wir auch unsere Aufgabe: Einen Beitrag dazu zu leisten, dass die Arbeiterklasse in Deutschland wieder bewusst und entschlossen für ihre Interessen – und damit auch für die Befreiung aller Menschen – kämpft und diesen Klassenkampf in die eigenen Hände nimmt. Das ist die Voraussetzung dafür, an die revolutionären Traditionen anknüpfen zu können, für die der hundertste Jahrestag der Novemberrevolution dieses Jahr mehr als nur ein Symbol ist.
Januar 2018
Eine gewerkschaftliche Maschinerie gegen die Spontanität der Arbeitenden
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„Starke“ Gewerkschaften? Darüber kann man sich streiten…
Deutschland eilt der Ruf voraus, dass viel mehr Arbeitende in Gewerkschaften organisiert seien als in anderen Ländern. Über alle Bundesländer hinweg sind 18,9 Prozent der Arbeitnehmer Mitglied einer Gewerkschaft, was in Europa eher durchschnittlich ist1. Dabei gibt es große Unterschiede: Im Westen ist derOrganisationsgrad mit 19,4% der Beschäftigten höher als im Osten, wo nur 16,5% der Arbeitenden Gewerkschaftsmitglied sind. Aber dieser Durchschnitt verzerrt das Bild, denn regionale Unterschiede sind genauso groß wie berufliche. Am auffälligsten ist, dass in den Behörden des Öffentlichen Dienstes und in den Großbetrieben die meisten Gewerkschaftsmitglieder zu finden sind (bis hin zu den „closed-shop“-Betrieben wie Volkswagen, wo üblicherweise mit dem Arbeitsvertrag gleich der Gewerkschaftsbeitritt unterschrieben wird und über 90% in der IG Metall sind).
Insgesamt sind knapp über 7,3 Mio. Menschen in einer Gewerkschaft organisiert2 (von 44,2 Millionen Erwerbstätigen insgesamt). Dabei verteilen sich die meisten auf die beiden größten Gewerkschaften IG Metall (Metall-, Elektro-, Stahlindustrie – fast 2,3 Mio Mitglieder) und ver.di (Öffentlicher Dienst, Logistik , Post usw. – etwas über 2 Mio. Mitglieder)3.
Effiziente Gewerkschaften? Auch darüber kann man sich streiten…
Als Arbeiter oder Angestellte in Deutschland kann es dir passieren, dass du nie in deinem Berufsleben zum Streik aufgerufen wurdest. Seit Beginn der Bundesrepublik gibt es ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Japan, den USA und den Niederlanden, wer weniger Streiks vorzuweisen hat. Und doch stimmt es natürlich nicht, dass in Deutschland nie gestreikt würde.
In den letzten 10 Jahren (2006 bis 2015) gab es durchschnittlich sieben durch Streiks ausgefallene Arbeitstage pro 1.000 Beschäftigte4. Im selben Zeitraum waren es in Frankreich 123 Ausfalltage5. Aber seit etwa 10 Jahren nehmen Streiks tendenziell zu, sehr unterschiedlich in den Branchen, regional oft beschränkt und häufig nur mit einzelnen Streiktagen; aber auch in Deutschland sind Streiks eher normal geworden.
Schweigemarsch von Siemens-Beschäftigten in Erfurt November 2017 – aber haben die Stellenabbaupläne nicht eine laute und kämpferische Gegenantwort verdient?!
Warum wird in Deutschland wenig gestreikt?
Sind die deutschen Arbeiter*innen zu „vernünftig“? Die Zeit der Weimarer Republik (1919 bis 1933) war von vielen und großen Streiks geprägt. Selbst in der Kaiserzeit vorher gab es viel mehr Streiks, wenn man mit der Zeit der Bundesrepublik ab 1949 vergleicht.
Wenig Streiks, weil es den Deutschen so gut geht? Merkel würde das sicher sofort unterschreiben. Aber inzwischen sind fast ein Viertel aller Beschäftigten im Niedriglohnbereich tätig6, „Arm trotz Arbeit“ ist kein Randphänomen mehr und Altersarmut ist ein weit verbreitetes Thema, das große Angst macht. Wie kann man die Verschlechterung der sozialen Situation seit Mitte der 2000er erklären? Die Gesetze der sozialdemokratisch geführten Regierung unter Gerhard Schröder mit der Verschärfung des Drucks auf die Arbeitslosen und den Minijobs sind eine, aber nicht die einzige Erklärung.
Die Vorteile des „Modells Deutschland“ für die Vorstände und Aktionäre stammen bereits aus einer viel früheren Zeit, und zwar aus einer Zeit, als die westlichen Alliierten (USA, Frankreich, Großbritannien) zugunsten deutscher Großbetriebe, die im Gegensatz zu den Arbeiter*innen den Krieg ohne viel zu leiden überstanden haben, in Westdeutschland nach dem 2. Weltkrieg ein Gewerkschaftssystem und ein Arbeitsrecht etabliert haben, das Streikbewegungen begrenzt; vor allem für Arbeiter*innen, die bereit sind zu kämpfen, und es Aktivist*innen schwer macht, selbst wenn die Kampfbereitschaft im Betrieb vorhanden ist.
Die Entstehungsgeschichte
Mit dem Ende des 2. Weltkrieges war das Leben der Menschen geprägt von Zerstörung, Hunger und Millionen Flüchtlingen. Was die Stimmung unter der Bevölkerung muss man sich in Erinnerung rufen muss, dass vor der Machtergreifung Hitlers in gewisser Weise die Mehrheit links gewählt hatte, und so gab es nun nach dem Krieg keine Zweifel, wer Schuld war am Faschismus und am Krieg: es gab eine allgemeine antikapitalistische Stimmung. Forderungen nach Sozialisierung und Enteignung waren verbreitet. Und es gab unter den Arbeitenden auch die Illusion einer gewerkschaftlichen Einheit, also Schluss mit dem „Bruderkampf“ zwischen SPD und KPD wie in der Zeit vor dem Sieg des Faschismus, was als Hauptgrund für den Sieg wahrgenommen wurde. An vielen Orten bildeten sich am Ende des Krieges „antifaschistische Ausschüsse“ und „Betriebsräte“ auf Initiative von Aktivisten, die Faschismus und Krieg überlebt hatten. Dabei hatte sicher die Mehrheit noch die Erfahrungen an die Räte aus der Novemberrevolution 1918/19 und das 1920 verabschiedete Betriebsrätegesetz im Kopf.
Auch die deutsche Bourgeoisie und die westlichen Alliierten hatten diese Geschichte im Kopf…. Und das ließ sie fürchten. Insofern war man sich doch in einem Punkt in Ost und West einig: die Arbeiterklasse Deutschlands musste unbedingt unter Kontrolle gehalten werden.
Einig waren sich die westlichen Alliierten gleich mit dem Ende des 2. Weltkrieges, dass die Arbeitsverfassung aus der Zeit des Faschismus (mit wenigen Ausnahmen) in Kraft bleiben sollte. Das bedeutete Fortgeltung des Lohnstopps und des Verbots, den Arbeitsplatz frei zu wechseln. Die sich spontan gebildeten „Betriebsräte“ in den Betrieben wurden zwar zugelassen, ohne jedoch einen klaren Status anzuerkennen (die selbstverwalteten „antifaschistischen Ausschüsse“ wurden jedoch zwangsweise aufgelöst). Und neue Gewerkschaften sollten so schnell wie möglich aufgebaut werden, jedoch nach den Vorstellungen der Alliierten.
Düsseldorf März 1947 Da jede Gründung einer örtlichen Gewerkschaft beantragt und genehmigt werden musste, behielten sie immer die Kontrolle.
Streikwelle 1949 bis 1952
Die Nervosität und Sorge der Kapitalisten vor dem Potenzial der Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse war nicht unbegründet. Das zeigte sich bald. Die ersten großen Proteste begannen im Winter 1946/47 für eine bessere Versorgung. Hungermärsche und Streiks prägten vor allem das Frühjahr 1947 im Ruhrgebiet.
Immer wieder wurde die Sozialisierung der Betriebe, entschädigungslose Enteignung und „Volkskontrolle über die Nahrungsmittelversorgung“ verlangt. Auch andere Regionen und Städte wurden von den Protestmärschen erfasst. Streiks und Proteste entstanden an der Basis und waren von der Gewerkschaftsführung wenig kontrollierbar. Anfang 1948 hatte sich an der schlechten Lage für die Bevölkerung nichts geändert. Gewerkschaften in Bayern und Nordrhein-Westfalen beschlossen eintägige Generalstreiks – die Streiks sind erfolgreich mit mehr als einer Million Streikenden.
München Mai 1948
Nur mit viel Mühe können die Gewerkschaftsführungen zu diesem Zeitpunkt einen allgemeinen Generalstreik verhindern. Doch die Währungsreform verschlimmerte die Lebenssituation der Bevölkerung. Gegen eine große Demonstration in Stuttgart im Oktober setzte die Militärpolizei schließlich Panzer ein. Der Generalstreik vom 12. November 1948 ist der Höhepunkt der Streikwelle. Er ist diesmal – mit großem Widerwillen – vom DGB organisiert, um in erster Linie die „Demokratisierung der Wirtschaft und die gleichberechtigte Mitwirkung der Gewerkschaften in allen Organen der wirtschaftlichen Selbstverwaltung“ durch zu setzen. Die Beteiligung war riesig: etwa 9,25 Millionen Arbeiter*innen legten die Arbeit nieder (von 11,7 Millionen Beschäftigten insgesamt)7, weniger wegen der Träume der Gewerkschaftsapparate von einer „Wirtschaftsdemokratie“ als Drittem Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus; sondern wegen der Forderungen zur Preispolitik und zu den Löhnen.
Wiedererrichtung von oben
Nirgendwo entstanden die neuen Gewerkschaften aus den Betrieben heraus, sondern sie entstanden „von oben“. Die Apparate wurden „von oben“ mit verlässlichen Exil-Gewerkschaftern aufgebaut, die schon in der Weimarer Republik das Sagen gehabt hatten.
Ein wichtiges Element war dabei, die Gewerkschaften auf der untersten Ebene nicht in den Betrieben aufzubauen, sondern nach Orten (das war ein großer Unterschied im Vergleich zur Zeit vor 1933). Insofern gab es zwischen den Alliierten und den neuen Gewerkschaftsfunktionären Einigkeit. Der Hauptgrund für diese Entscheidung gegen betriebliche Gewerkschaftsstrukturen und für „Ortsgruppen“ war, den Einfluss der Gewerkschafter in den Betrieben auszuschalten Gewerkschaften raus aus den Betrieben – das kann merkwürdig erscheinen und kann nur verstanden werden, wenn man die Angst vor dem Erstarken der Kommunisten versteht. Der damalige Vorsitzende des Bergarbeiterverbandes, August Schmidt, meinte dazu ganz offen: „Und weil die Freunde von links, die sich so gern Opposition nennen, es nicht lassen können, immer und immer wieder Mitgliederversammlungen der Betriebsgruppen dazu zu benutzen, ist das zunächst der erste Grund, weshalb der Verbandstag und auch ich mit aller Deutlichkeit für die Beseitigung der Betriebsgruppen eintreten. Diesen politischen Hexenkessel wollen wir endlich beseitigen.“8 Und der Chef-Historiker beim U.S. High Commissioner for Germany, Harold Zink, schrieb später in seinem Werk über die „Vorsicht“ der amerikanischen Militärregierung gegenüber den neuen Arbeiterorganisationen: „Ein Teil des scheinbaren Zögerns im Zusammenhang mit den Arbeiterorganisationen rührte zweifellos von der Sorge her, die in manchen amerikanischen Abteilungen sich zeigte, daß die Kommunisten einen Vorteil aus der Situation ziehen könnten, derart, dass sie die Kontrolle über solche Organisationen wie Gewerkschaften, politische Parteien oder ähnliches erlangen könnten.“9
In der Weimarer Republik konnten sich kommunistische Aktivist*innen gut in den gewerkschaftlichen Betriebsstrukturen verankern. Um das nun zu verhindern, sollte die unterste Ebene statt des Betriebs die „Ortsgruppe“ bilden. Betriebsräte und gewerkschaftliche Vertrauensleute sollten zwar die Gewerkschaften im Betrieb repräsentieren, aber ohne jeden formalen Einfluss auf gewerkschaftliche Fragen. Bis heute gibt es keine in den Betrieben gewählten Gewerkschaftsvertreter mit Funktion in dem Sinne, dass sie eigene Rechte haben, Anspruch auf bezahlte Freistellung und dem Recht, Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb zu versammeln (auch wenn vieles in großen Unternehmen geduldet und gelebt wird, vor allem, wenn die Gewerkschaft sich als „Partner“ des Managements versteht und eher als Anhängsel der Personalabteilung auftritt). Die Angst vor den Kommunisten war damit einer der wichtigsten Punkte für die grundlegende Entscheidung, welche Strukturen die Gewerkschaften in Westdeutschland kriegen sollten.
Die Alliierten, Konzerne und Gewerkschaftsspitzen waren dabei kein bisschen paranoid. Trotz Faschismus und Weltkrieg spielten kommunistische Aktivist*innen an vielen Orten und in vielen Betrieben gleich zum Ende des Weltkriegs eine Rolle. An Rhein und Ruhr waren 38% aller Betriebsräte Kommunisten. Und bei den ersten Wahlen war die wieder gegründete KPD durchaus erfolgreich (bei den ersten Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen im April 1947 erhielt die KPD 14% der Stimmen und stellte zwei Minister der neuen Landesregierung). Zwar hatte die Kommunistische Partei mit ihrer verbrecherischen Politik die Arbeiterklasse Deutschlands in die Katastrophe geführt. Und mit Stalin an der Spitze hat die Kommunistische Internationale ihren Frieden mit den westlichen Großmächten gemacht, so dass von der KPD selbst nicht so viel zu befürchten war. Aber die Kapitalisten fürchteten sich nicht nur vor dem Einfluss der Aktivisten, die den Krieg überlebt haben, sondern vor allem vor der gesamten Arbeiterklasse. Und deren Erinnerungen an die Revolutionsjahre 1918/19 und die folgenden Jahre großer Klassenkämpfe waren noch ziemlich frisch.
Monolithisch und „einig“
Eine weitere zentrale Entscheidung in Bezug auf das neue Gewerkschaftssystem: Während es in der Weimarer Republik sog. Richtungsgewerkschaften gab (ähnlich wie in Frankreich), setzten die neuen Gewerkschaftsführungen und Alliierten nun auf sog. Einheitsgewerkschaften. Jede Branche sollte nur eine zuständige Gewerkschaft haben. In jedem Betrieb sollte nur eine Gewerkschaft aktiv sein. So wurden die sogenannten Industriegewerkschaften gegründet, die alle gemeinsam einem Dachverband, dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), angehören (die Vorstandsmitglieder gehören verschiedenen politischen Parteien an und es gibt bis heute durchaus ein munteres Paktieren, welche Partei bei Neubesetzungen im Vorstand nun dran wäre). Bei dieser Entscheidung hat die Verhinderung von klassenkämpferischen „Konkurrenz“-Gewerkschaften eine entscheidende Rolle gespielt. Dass sich dies gegenüber den Arbeitern rechtfertigen ließ, lag an den Erfahrungen der Weimarer Republik und dem Gefühl, dass der „Bruderkampf“ dem Faschismus zur Macht geholfen hat. Der DGB wurde Oktober 1949 gegründet. Neben diesen Einheitsgewerkschaften wiederauferstanden weitere Gewerkschaften, die sich an Berufsgruppen orientierten und teils auf eine lange Geschichte zurückblicken konnten10 oder christliche Gewerkschaften11. Bis in die 1990er spielten sie aber keine besondere eigenständige Rolle.
Alles für Verhandlungen!
Die Initiative zur Regelung des Tarifvertragssystems (Inhalt von Tarifverträgen, Abschluss, Geltung etc.) ging von den Großunternehmen aus, vor allem der rheinischen und westfälischen Eisen- und Metallindustrie. Es geht dabei um institutionalisierte Verhandlungsrunden zwischen Unternehmen und Gewerkschaften, die regelmäßig stattfinden und als Basis für Sozialpartnerschaft wirken. Sie forderten von den Gewerkschaften, diese sollten „frei von politischen Beeinflussungen und parteipolitischen Bindungen“ und „zur Kooperation bereit“ sein. Gewerkschaften, die „vernünftig“ und „kooperativ“ sind – das zieht sich durch die Geschichte der Bundesrepublik. Um die Gewerkschaften als Partner beim Wiederaufbau der Wirtschaft in Deutschland im Sack zu haben, waren die Großunternehmer zu ein paar Zugeständnissen bereit. Im Konsens wurde daher zwar das Recht auf Bildung von Gewerkschaften in das Grundgesetz geschrieben, aber das Streikrecht gerade nicht. Ein paar gesetzliche Regelungen, die praktisch aus der Weimarer Zeit stammen, wurden in ein neues Gesetz gegossen, das ein paar Dinge zur Geltung von Tarifverträgen regelt (Tarifvertragsgesetz). Alles weitere, nämlich die Ausformung des „Arbeitskampfrechts“ erledigten in den folgenden Jahrzehnten unter Druck der Unternehmen die Arbeitsgerichte und die Gewerkschaften durch eigene interne Regularien.
Betriebsräte, made in Germany!
Eine deutsche Besonderheit sind die Betriebsräte. Ihren Ursprung haben sie im Betriebsrätegesetz von 1920, welches ein kleines Zugeständnis und zugleich eine „Zwangsjacke“ für die Arbeiter*innen war, die die Arbeiter- und Soldatenräte in den revolutionären Jahren 1918/19 gegründet hatten. Am Ende des Zweiten Weltkrieges wurden die Betriebsräte wieder durch ein Gesetz legalisiert (Betriebsverfassungsgesetz von 1952) – wieder einmal mit demselben Zweck, nämlich um die Selbstorganisation der Arbeiter*innen zu beschränken.
Heute arbeiten 41% der Beschäftigten in einem Betrieb, wo es einen Betriebsrat gibt12.
Wenn in einem Betrieb mindestens fünf Arbeitende beschäftigt sind, können sie einen Betriebsrat wählen. Die Initiative geht oft vom Gewerkschaftsapparat aus, weil dies den Gewerkschaften ermöglicht in die Betriebe hineinzukommen. Aber die Initiative der Gewerkschaft ist überhaupt keine Voraussetzung. Betriebsräte müssen nicht der Gewerkschaft angehören. Die Betriebsräte sind die einzige gewählte Repräsentation der Belegschaft im Betrieb (daneben gibt es noch die einzelnen Vertreter der schwerbehinderten Menschen und der Frauen, die Gleichstellungsbeauftragten, und Vertreter in den Aufsichtsräten). Wahlen finden nur alle vier Jahre statt, dann aber in etwa zeitgleich in ganz Deutschland im Frühjahr (immer im Jahr der Fußballweltmeisterschaft – kann man sich leicht merken…). Die Größe des Betriebsrates hängt von der Anzahl der Arbeitenden des Betriebes ab (z.B. 51 bis 100 Arbeitende im Betrieb: fünf Betriebsratsmitglieder; 2001 bis 2500 Arbeitende: 19 Betriebsratsmitglieder). Meistens gibt es Listenwahlen – das heißt, mehrere Kolleg*innen schließen sich zusammen und bilden Listen. Das kann eine „offizielle“ Gewerkschaftsliste sein, muss es aber nicht. Dann haben die Wähler nur die Möglichkeit, eine ganze Liste zu wählen, nicht die einzelnen Personen (wie bei Parlamentswahlen). In manchen Betrieben, wo sich keine Listen bilden, werden die Kandidaten direkt gewählt. Die allermeisten Großbetriebe haben Betriebsräte – vor allem in der Metallindustrie. Doch es gibt viele Firmen, die alles dafür tun, damit keine lästigen Betriebsräte gegründet werden (Einzelhandel – z.B. Lidl, Aldi, Schlecker und Bauhaus; Fast Food Ketten – z.B. Burger King und McDonald‘s, aber auch Metallindustrie etc.13). Betriebsräte haben Anspruch auf bezahlte Freistellung (das gibt es für keine gewerkschaftliche Funktion im Betrieb!). Aber im Einzelnen ist es kompliziert. Je größer ein Gremium, um so mehr Mitglieder werden vollständig von der Arbeit freigestellt. Das kann bis dahin gehen, dass einzelne Betriebsratsmitglieder, vor allem die Vorsitzenden, ganze Jahrzehnte gar nicht mehr arbeiten. Solche „Vertreter“ unterscheiden sind häufig kaum noch vom Management, weder vom Äußeren her noch vom Denken. Für alle anderen „normalen“ Betriebsratsmitglieder gibt es keine festen Stundenbudgets, sondern Freistellung je nach Notwendigkeit. Was das in der Praxis heißt, müssen kämpferische Betriebsräte erst herausfinden und bedeutet oft ein Konflikt mit der Personalabteilung.
Co-Management und Mitbestimmung
Praktisch in allen Fragen des Betriebs (Arbeitszeiten, Schichtpläne, Urlaubsregelungen, Datenschutz, Prämien, Einstellungen, Betriebsschließung, Massenentlassungen) wird der Betriebsrat befragt, wird verhandelt und die Entscheidungen werden in aller Regel im Einverständnis mit den Chefetagen getroffen: Um eine Pleite des Betriebs zu verhindern, sollte man nicht ein paar weniger Kündigungen als geplant akzeptieren? Sollte man nicht realistisch sein? Doch auch heute noch gibt es in Deutschland ein paar Betriebsräte, die linksradikal politisiert sind. Wenn sie zu kämpferisch sind und Unruhe in den Laden bringen, dann erinnern die Betriebsleitungen sie an das Betriebsverfassungsgesetz und die dort festgeschriebene Pflicht zur „vertrauensvollen Zusammenarbeit“ und zur „Geheimhaltung von Betriebsgeheimnissen“.
Streikrecht in Deutschland, oh nein, wie schrecklich…
Nachdem 1952 in der Zeitungsbranche zwei Tage gegen das neue „Betriebsrätegesetz“ (Betriebsverfassungsgesetz) gestreikt wurde, verklagten zwölf Zeitungsunternehmen die Gewerkschaft auf Schadensersatz. Der Streik hatte sich gegen ein Gesetz gerichtet. Einen solchen Streik prangerten die Unternehmen als „unzulässige Nötigung des Parlaments“. Bei den Richtern fanden sie offene Ohren. Seitdem lernen Generationen von Juristen und Richtern, dass ein Streik nur erlaubt ist, wenn er „sozialadäquat“ und „verhältnismäßig“ ist. Und ein „politischer“ Streik, also ein Streik, der nicht Forderungen in Bezug auf Arbeitsbedingungen an die bestreikten Unternehmen bzw. Unternehmensverbände richtet, ist angeblich nicht „verhältnismäßig“ und damit illegal.
Im Land der Dichter und Denker wird viel nachgedacht
Diese unklaren Begriffe erlauben viel Interpretation. Die Unternehmen nutzen diese Unklarheiten, indem sie damit drohen, Gewerkschaften wegen Schadensersatz zu verklagen (z.B. verklagten mehrere Fluggesellschaften und die mehrheitlich staatliche Fraport die Gewerkschaft der Flugsicherung nach einem Streik der Vorfeldlotsen auf Schadensersatz14 ) und/oder schalten gleich im vorhinein Gerichte ein, um Streiks verbieten zu lassen (z.B. verklagte das öffentliche Krankenhaus Charité in Berlin die Gewerkschaft ver.di und forderte, dass der Streik zur Durchsetzung von Mindestbesetzungsregeln in der Pflege untersagt wird15).
Streik an der Charité für mehr Personal in Berlin September 2017 – Notruf: „Mehr von uns ist besser für alle!“
Dabei ist nicht entscheidend, dass die Unternehmen vor Gericht gewinnen, allein die Unklarheit über den Ausgang der Prozesse schafft ein Klima der Unsicherheit und stärkt die Rolle der Juristen in den Gewerkschaftsapparaten, also der Spezialisten für Arbeitskampfrecht. Und ihre Entscheidungen werden respektiert. Selbst kampfentschlossene Aktivisten und kämpferische Arbeiter sind schnell von dem juristischen Gelaber beeindruckt.
In der Folgezeit haben die Gerichte weitere Grundsätze aufgestellt:
– Streiks sind nur erlaubt, wenn es um Forderungen geht, die in Tarifverträge geschrieben werden können und sollen
– „wilde“ Streiks, also Streiks, zu denen nicht die Gewerkschaft aufgerufen hat sind nicht erlaubt
– Betriebsbesetzung und Boykottaufrufe sind nicht erlaubt
– Arbeitswillige dürfen nicht am Zutritt zum Betrieb gehindert werden
– Beamte dürfen nicht streiken
– die Gewerkschaft darf nicht während eines bestehenden Tarifvertrages streiken, sondern erst nach dessen Ende bzw. der Kündigung (sog. Friedenspflicht – deshalb lieben die Unternehmen Lohntarifverträge, die zwei Jahre oder länger gelten)
– Gewerkschaften haben den „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“ zu beachten, also die „wirtschaftlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen und das Gemeinwohl nicht zu gefährden“ (ein beliebtes Standardargumentation der Unternehmen gegen Streiks in Krankenhäusern, bei der Bahn, auf Flughäfen etc. – die Unternehmen haben natürlich immer Gutachten in der Tasche, die Horrorszenarien und den „drohenden Zusammenbruch“ der Wirtschaft beweisen sollen. Der Eindruck, den so was auf Richter macht, ist nicht zu unterschätzen)
„Aufgrund von Streiks der GDL ist der Zugverkehr beeinträchtigt“ – Bundesweiter Streik der Fahrpersonale der Deutschen Bahn 2015. Gegen Streiks der GDL klagte die Deutsche Bahn immer wieder vor den Arbeitsgerichten
Diese krassen Beschränkungen verstoßen gegen Internationales Recht, wen stört‘s…?16
Natürlich, ein solches Arsenal macht Eindruck auf die, die streiken wollen. Wer kann schon dagegen halten und sogar die Kolleg*innen mitreißen, wenn ein Gewerkschaftssekretär all die Einschränkungen des Streikrechts aufzählt um zu erklären, dass man gegen die Willkür des Unternehmens nicht mehr als eine kleine Flugblattaktion, eine „aktive Mittagspause“ oder vielleicht ein paar kurze Warnstreiks machen könnte?
Der DGB nutzt das Streikrecht nicht aus, nur blöd, wenn andere es tun würden
Bislang haben die Unternehmen darauf verzichtet, gesetzlich das Streikrecht beschränken zu lassen, denn es gibt schon so viele Beschränkungen durch die Rechtsprechung. Mit einer Ausnahme: um die „kleinen“ Berufsgewerkschaften (z.B. Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer, Vereinigung Cockpit, Marburger Bund der Ärzte und Gewerkschaft der Flugbegleiter), die Ende der 1990er/Anfang 2000er Jahre begannen, eigenständige Rollen zu spielen und in den letzten Jahren zu einigen Streiks aufgerufen haben (z.B. Streiks bei der Deutschen Bahn 2007/2008 unter Leitung der GDL oder bei der Lufthansa 2014 durch die Vereinigung Cockpit), unter Kontrolle zu bringen, haben sich der große Unternehmensverband BDA und der größte Gewerkschaftsverband, Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB), zusammengetan. Das Ergebnis ist ein Gesetz, das vor zweieinhalb Jahren verabschiedet wurde und die „kleinen“ Gewerkschaften zur Kooperation mit den „großen“ traditionellen Gewerkschaften zwingt (sog. Tarifeinheitsgesetz). Die Gewerkschaftsapparate sollen ihre Claims abstecken und gefälligst wieder „vernünftig“ werden, auf das Schluss sei mit verrücktem Wettbewerb und der „Betriebsfrieden“ wieder einkehre. Kommt es zu keiner „Einigung“, soll sich die Minderheitsgewerkschaft der Mehrheitsgewerkschaft unterordnen und nicht einmal streiken dürfen. Was für ein Angriff… doch von den Gewerkschaftsapparaten blieb jede größere Skandalisierung und Mobilisierung aus! Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hat zwar – zusammen mit „kleinen“ Berufsgewerkschaften – dagegen geklagt. Doch die „großen“ Gewerkschaften, z.B. IG BCE und IG Metall sowie der DGB verteidigen das Gesetz, weil es ihr Monopol faktisch wiederherstellt. Puhh, welche Erleichterung, als das Bundesverfassungsgericht letztes Jahr entschied, dass dieses Gesetz in den wesentlichen Regelungen mit dem Grundgesetz übereinstimmt. Auch wenn die Arbeitsgerichte jetzt aufgefordert sind, in einzelnen Punkten, z.B. beim Streikrecht, die Rechte der „kleinen“ Gewerkschaften sicherzustellen17.
Die Gewerkschaftsapparate schützen sich sogar durch interne Regularien gegen den Streik
Eine Menge Beschränkungen kommen durch interne Regelungen, die die Gewerkschaften sich selbst geben.
Durch Satzung und diverse „Richtlinien“ ist das Alleinentscheidungsrecht der Gewerkschaftsspitzen zementiert. Jeder kleine Streik muss vorher beim Vorstand beantragt und begründet werden. Ohne Erlaubnis von ganz oben geht nichts – selbst wenn es sich um einen Streik für einen Haustarifvertrag handelt. Man kann sich gut die Schwierigkeiten vorstellen, die Betriebsaktivisten haben, wenn einerseits von den Gerichten jeder Streik, der von einer Betriebsgruppe ausgerufen wird „illegal“ ist und andererseits innerhalb des Gewerkschaftsapparates nur die Krawattenträger an der Gewerkschaftsspitze – weit entfernt von den betrieblichen Situationen – das Recht haben, grünes Licht zu geben oder auch nicht. Je höher man in die Gewerkschaftsapparate schaut, um so kleiner der Mut. Dabei geht es nicht nur um individuelle Karrieren. Das Verständnis von Partnerschaft mit den Unternehmen und der Politik ist tief verwurzelt und die „Techniker“ machen sich zuerst Sorgen um das Vermögen der Gewerkschaften (wegen drohender Klagen der Unternehmen). Und da in Deutschland Streikende von der Gewerkschaft sogar ein Streikgeld erhalten (das macht pro Streiktag ungefähr zwei Drittel des ausgefallenen Lohnes aus), spielen finanzielle Überlegungen immer eine Rolle. Die Bündelung der Gewerkschaftsmacht außerhalb des Betriebes ist eines der Zutaten zum Erfolgsrezept des „deutschen Modells“.
Und dazu die oberschlauen taktischen Überlegungen
Aktion der Beschäftigten der CFM am Krankenhaus Charitè in Berlin Dezember 2017 – Das privatisierte Tochterunternehmen CFM, in dem der sog. Servicebereich des Krankenhauses gebündelt ist, startete 2006 unter einer rot-roten Regierung. Heute regieren in Berlin wieder SPD und DIE LINKE, nun zusammen mit den Grünen, aber die Beschäftigten haben noch immer dieselbe Waffe: Streik Die Streikaufrufe – wenn es sie dann doch mal gibt! – sind immer von komplizierten taktischen bürokratischen Überlegungen von ganz oben begleitet. Unverständlich für die normalen Streikenden. Warum der eine und nicht der andere Betrieb zum Streik aufgerufen wird, wann wie ein Streik begonnen oder beendet wird, wird weit entfernt in den Gewerkschaftsvorständen entschieden. Und das passiert nicht selten auch gegen den Willen von Gewerkschaftssekretären, die zwar nicht im Betrieb angestellt sind, aber die Gewerkschaftsarbeit vor Ort leiten und damit auch dem Druck der Belegschaften vor Ort unterliegen. Das ganze treibt inzwischen soweit Blüten, dass letztens bei einem Aktionstag am Krankenhaus Charité in Berlin sogar nur einzelne namentlich benannte Pflegekräfte und eine Handvoll Abteilungen zum Streik aufgerufen wurden. Der Rest der fast 15.000 Beschäftigten des Krankenhauses blieb Zuschauer eines Spektakels, das nur dazu diente, ein paar Fotos zu machen.
Die andere Seite der “Ordnung”:
Wilde Streiks
Die 50er Jahre waren im Klassenkampf eher ruhige Jahre. Nachdem 1952 in Westdeutschland das Betriebsverfassungsgesetz und das restriktive Streikrecht in Grundzügen festgelegt worden war, kamen Kalter Krieg (Höhepunkt des Antikommunismus war das KPD-Verbot 1956) und Wirtschaftsaufschwung zusammen und führten dazu, dass wenig gestreikt wurde. Die Kapitalisten verdienten mit dem Wiederaufbau gut, die Gewerkschaften konnten in regelmäßigen Abständen, ohne Kämpfe, ihre Lohnforderungen durchsetzen und die Arbeiter*innen profitierten von den Konsumgütern, die sie sich nach und nach leisten konnten, nachdem sie nach dem Krieg unter größter Anstrengung unter miserablen Bedingungen und Löhnen, das zerstörte Land wieder aufgebaut hatten. Bis Mitte der 60er Jahre herrschte in Westdeutschland annähernd Vollbeschäftigung. In der Periode von 10 Jahren zwischen 1958 und 1968 gab es gerade einmal 340 Streiktage.18 Doch dieses Bild änderte sich Mitte der 60er Jahre allmählich. Zuerst im Verborgenen und später offener.
In der Periode von 1965 bis 1967 berichtete die IG-Metall, dass in ihren Bereichen 300.000 Beschäftigte sich an streikähnlichen Aktionen, wie zum Beispiel Bummelstreik beteiligten, diese blieben der Öffentlichkeit allerdings verborgen. Durch die Vollbeschäftigung führten bereits kleine Aktionen oft zu einem schnellen Erfolg und zu Lohnerhöhungen19.Die Streikbereitschaft änderte sich schnell. Zwischen 1969 und 1973 wurde bereits an 1099 Tagen gestreikt20. Als besonders kämpferisch traten vor allem migrantische Kolleg*innen aus Spanien, Italien und der Türkei hervor, die in mehreren Wellen zu Hunderttausenden nach Deutschland gekommen waren und weiterhin kamen.
Bochum 1969
Da die Vollbeschäftigung für die Unternehmen ein “Problem” darstellte, weil Arbeiter*innen ihre Forderungen leicht durchsetzen konnten, wurden Anwerbeabkommen unterzeichnet mit Italien 1955, Spanien 1960 und der Türkei 1961. Die türkische Migration erreichte einen Höhepunkt in den 70er Jahren und prägt bis heute viele Industriebetriebe. Diese Arbeitskämpfe führten zu einem deutlichen Reallohnanstieg trotz steigender Inflation21. Während in den Jahren 1966 bis 1968 die Löhne um durchschnittlich nur 2,8 % anstiegen, betrug der Lohnanstieg 1969 ganze 7,6 % und von 1970 bis 1973 5,7 %. Diese Lohnanstiege wurden vor allem im Zusammenhang der größeren wilden Streikwellen 1969 und 1973 erreicht22. So erreichten die Arbeiter*innen der Metallindustrie Rekordlohnsteigerungen in den Jahren 1970 (+ 15,3 %) und 1974 (+ 11,6 %), also in den Tarifrunden nach den Streiks, die die IG Metall selbst nicht gewollt hatte.
Die Septemberstreiks 1969
Die Gewerkschaftsapparate verblieben bei ihrer Taktik der Sozialpartnerschaft und versuchten die Arbeiterklasse ruhig zu halten. Allerdings begann Ende der 60er Jahre der Preisanstieg, sodass die Reallöhne unter Druck gerieten. Ebenso kam es ab 1967 zu einem Produktionsrückgang und zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik zu größeren Entlassungen23. Nun ging die Taktik der Gewerkschaftsapparate, nur Streiks anzukündigen, aber keine durchzuführen, nicht mehr auf. Es musste wirklich gestreikt werden, wozu die Gewerkschaftsspitzen allerdings nicht bereit waren. Die Arbeiter*innen mussten selber handeln.
Dortmund 1969
Als 1969 die Stahlindustrie wieder zu boomen begann, nutzten am 02. September 1969 die Arbeiter*innen der Hoesch AG in Dortmund die Gunst der Stunde und traten in einen illegalen, wilden, nicht von der Gewerkschaft geführten Kampf. In verschiedenen Streikwellen legten zwischen den 02. und 19. September vor allem in der Montanindustrie (Kohle und Stahl), aber auch im öffentlichen Dienst und in der Metallverarbeitung 140.000 Menschen die Arbeit nieder. Ihre Forderungen waren eine lineare Lohnerhöhung von 30 bis 70 Pfennig bei einem Lohn von 5 bis 7 DM pro Stunde. Die Gewerkschaften versuchten schnell die Kontrolle über die Streiks zu bekommen, indem sie die Streiks im Nachhinein legitimierten, indem sie selber zu Streiks aufriefen. In der Folge kam es zu größeren Lohnanstiegen.24
Die Student*innen die sich während der 68er Jahre radikalisiert hatten, wurden von den Streiks überrascht und waren de facto unbeteiligt. In der Folge dieser Streikwelle wandten sich aber viele politisierte Studierende der Arbeiterklasse zu und „proletarisierten“ sich, indem sie Jobs in den Betrieben annahmen und als gewerkschaftliche Aktivist*innen versuchten, die Arbeiter*innen gewerkschaftlich und politisch zu organisieren.
Duisburg 1969
Die wilden Streiks 1972/73
Anfang 1972 kam es zu einer erneuten Welle von spontanen, nicht von der Gewerkschaft legitimierten Streiks. Schwerpunkte dieser Streikwelle waren die Montanindustrie, die Metallverarbeitungsindustrie und die Automobilindustrie. Im Gegensatz zu 1969, wo vor allem Facharbeiter die treibende Kraft dieser Streiks waren, traten jetzt migrantische, jugendliche Gruppen zum Vorschein, auch Frauen und gering qualifizierte Arbeiter waren besonders kampfbereit. Zwischen 1969 und 1973 waren über 80 % aller Streikenden wildgestreikt. Es gab verschiedene Gründe weswegen die Arbeiter*innen sich an wilden Streiks beteiligten. Die Art der Streiks, die für die Gewerkschaften noch am “angenehmsten” waren, waren die wilden Streiks, die die Tarifverhandlungen der Gewerkschaften unterstützen sollten und zeitlich begrenzt waren. Diese Streiks wurden meist sehr schnell im Nachhinein vom Gewerkschaftsapparat legitimiert. Eine weitaus häufigere Art von Streiks waren solche, die dadurch ausgelöst wurden, dass die Arbeiter*innen unzufrieden waren mit den Tarifabschlüssen. In den Augen der Arbeiter*innen waren die Abschlüsse zu gering und man wollte individuell für den eigenen Betrieb mehr raus holen und streikte vorbei und unabhängig von den Gewerkschaften. Zum Beispiel im Januar 1973 lehnten über die Hälfte, an einigen Orten zwei Drittel der Stahlarbeiter, den Tarifabschluss der Gewerkschaften ab. Dieser hatte „nur“ eine Lohnerhöhung von 8,3 % vorgesehen. Solche Streiks waren zumeist erfolgreich25.
Häufig, aber durchaus im Verborgenen, waren wilde Streiks wegen innerbetrieblicher Konflikte, wie gegen Mieterhöhungen der Werkswohnungen, Entlassungen von Betriebsräten, Kürzungen von Weihnachtsgeld oder wegen des steigenden Arbeitsdruckes. Auch diese waren oft gegen den Willen des Gewerkschaftsapparates. Bei anderen wilden Streiks waren betriebliche Minderheiten wie Migrant*innen (die zum Beispiel dafür streikten, dass sie ihren Urlaub immer im Sommer und an einem Stück nehmen dürfen – schließlich wollten sie für einige Wochen zurück in ihre Heimat) oder Lehrlinge, die für eine Erhöhung ihres Gehaltes streikten, die treibende Kraft. Sehr selten dagegen waren politische Streiks. Trotz Verbots von politischen Streiks gab es einen im April 1972. Damals gab es ein Misstrauensvotum gegen den SPD-Bundeskanzler Willy Brandt und viele Arbeiter*innen wollten verhindern, dass die CDU an die Macht kommt. Ca. 100.000 Arbeiter*innen beteiligten sich an dem Streik gegen die CDU. Die SPD lehnte natürlich diese Art der Unterstützung ab26.
Insgesamt gab es vom Januar 1972 bis Juni 1973 300.000 „wild“ Streikende und Ende 1973 gab es allein in 335 Betrieben wilde Streiks mit über 275.000 Streikenden. Gerade bei den Streiks Ende 1973 traten die Gewerkschaften sehr feindlich gegenüber den Streikenden auf. Sie hatten Angst vor einem Kontrollverlust und arbeiteten zusammen mit den Unternehmensleitungen gegen diese Streiks27. In vielen Belegschaften hatten sich kleine linksradikale bzw. linksgewerkschaftliche Gruppen gebildet, die teilweise Einfluss auf die Streikenden hatten. Warum diese Streiks am Ende nicht so viel Erfolg hatten, wie sie hätten haben können, liegt vor allem daran, dass die Streiks voneinander isoliert geblieben sind und die linksradikalen Betriebsaktivist*innen zu wenig Einfluss hatten, um diese Streiks miteinander zu verbinden.
Noch mehr “Wildes” im 21. Jahrhundert: Der Streik bei Opel Bochum
Der vielleicht spektakulärste wilde Streik der letzten 20 Jahre fand bei Opel in Bochum statt. Auslöser war ein massiver Stellenabbauplan: Der US-Konzern General Motors, dem Opel gehörte bis er die Marke letztes Jahr an PSA verkauft hat, kündigte im Oktober 2004 an, von damals 9.600 Stellen am Standort Bochum 4.100 zu streichen.
In diesem Betrieb gab es eine Tradition linksradikaler Betriebsarbeit, die bis zu den Streikwellen der frühen 70er Jahre zurückreichte, insbesondere durch die 1972 gegründete Betriebsgruppe GoG (zunächst “Gruppe oppositioneller Gewerkschafter”, später “Gegenwehr ohne Grenzen”). Dadurch gab es sowohl im Vertrauenskörper als auch im Betriebsrat kritische Stimmen, unterschiedliche Strömungen und oft genug offene Diskussionen auf Betriebsversammlungen. Auch in den Jahren zuvor (zuletzt 2000) hatte es immer wieder Aktionen und Arbeitsniederlegungen gegeben.
Am Tag der Ankündigung der Massenentlassungen, Donnerstag den 14. Oktober, riefen die aktiveren Teile des Vertrauenskörpers (nicht allein die GoG) dazu auf, raus zugehen um das Management zur Rede zu stellen. Über 80 % der Arbeitenden sind dem Aufruf gefolgt und haben auch gleich begonnen, die Tore zu besetzen. Das war der Startschuss für einen 6-tägigen Streik, der weder von der Gewerkschaft, noch von der Betriebsratsmehrheit gewollt war, und der nicht nur die Manager von Opel ganz schön ins Schwitzen gebracht hat. Es gab riesige Resonanz und Solidarität in der Bevölkerung des Ruhrgebiets, wo Opel das Unternehmen mit den meisten Arbeitsplätzen war.
Während der sechs Tage wurde alles Praktische von den Streikenden selbst organisiert, auf dem besetzten Werksgelände fanden offene Diskussionen statt.
Doch Gewerkschaft und Betriebsratsmehrheit haben alles daran gesetzt, den wilden Streik wieder unter Kontrolle zu bekommen. Die Gewerkschaft, indem sie eine große “Solidaritäts”-Demonstration am Wochenende organisiert hat, bei der sozialdemokratische Politiker und die Kirche an der Spitze marschierten. Der Betriebsrat, indem er den Streikenden Angst gemacht hat, dass es gefährlich wäre, weiter zu streiken – für den Standort und für die Fortsetzung der Verhandlungen. Für Mittwoch, den 20. Oktober hat die Betriebsratsmehrheit eine Betriebsversammlung aller Arbeitenden in einem Kongresszentrum organisiert, wo keine Diskussion zugelassen wurde und nur diejenigen zu Wort kamen, die für ein Ende des Streiks agitierten. Es wurden Stimmzettel verteilt, auf denen stand: “Soll der Betriebsrat mit der Geschäftsführung weiter verhandeln und die Arbeit wieder aufgenommen werden?”. Mit all ihren Manövern erreichte die Betriebsratsmehrheit, dass 4.600 mit ja und 1.700 mit nein stimmten, woraufhin der Streik beendet wurde. Der Stellenabbau fand etwas langsamer statt als anfangs angekündigt, aber Ende 2014 wurde das Werk komplett geschlossen.
Die linksradikalen Aktivisten hatten mit ihrer langjährigen Arbeit den Boden vorbereitet für diesen spontanen und selbstorganisierten Streik, aber sie waren selbst nicht gut genug vorbereitet auf diesen Arbeitskampf. Niemand hat den Vorschlag gemacht, eine Streikleitung zu wählen und eine Gruppe wie die GoG wurde nach Auskunft von Aktivisten selbst von den Manövern überrascht – sie hatten sich nicht vorstellen können, dass es auf der Betriebsversammlung nicht vorgesehen wäre, zu diskutieren. So hatten sie sich nicht darauf vorbereitet, um ihr Rederecht zu kämpfen.
Aber das sind wichtige Lehren. Und das war sicher nicht das letzte Kapitel großer Streiks in Deutschland, die sich über gewerkschaftliche Barrieren und starre Gesetzgebung hinwegsetzen.
1https://www.iwd.de/artikel/gewerkschaften-unter-druck-344602/; http://de.worker-participation.eu/Nationale-Arbeitsbeziehungen/Quer-durch-Europa/Gewerkschaften
2https://www.boeckler.de/cps/rde/xchg/hbs/hs.xsl/themen_showpicture.htm?id=107139&chunk=2; 6 Millionen sind in einer DGB-Gewerkschaft und 1,3 Millionen im dbb beamtenbund und tarifunion
3https://www.deutschlandinzahlen.de/tab/deutschland/arbeitsmarkt/tarifpolitik/gewerkschaftsmitglieder-dgb
4Die Bundesagentur für Arbeit hat 7 Ausfalltage berechnet, das WSI 20 Ausfalltage https://www.boeckler.de/pdf/pm_wsi_2017_03_14.pdf
5https://www.boeckler.de/pdf/pm_wsi_2017_03_14.pdf
6 https://www.bundestag.de/presse/hib/2016_12/-/485072 https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Indikatoren/QualitaetArbeit/Dimension2/2_1_Niedriglohnquote.html
7Michael Kittner, Arbeitskampf, Geschichte-Recht-Gegenwart, 2005, S. 559
8Michael Kittner, a.a.O., S. 544
9Eberhard Schmidt, Die verhinderte Neuordnung 1945-1952, S. 33
10Zum Beispiel die Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL)
11Zum Beispiel Christliche Gewerkschaft Metall (CGM) und „Deutscher Handels- und Industrieangestellten-Verband“ (DHV)
12https://www.boeckler.de/cps/rde/xchg/hbs/hs.xsl/themen_showpicture.htm?id=107139&chunk=2
13Einige Fälle sind nachzulesen unter https://www.otto-brenner-shop.de/uploads/tx_mplightshop/AH77_UnionBusting_WEB.pdf und https://arbeitsunrecht.de
14Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 26.07.2016 – nachzulesen unter juris.bundesarbeitsgericht.de – das Bundesarbeitsgericht hat der Fraport AG einen Schadensersatzanspruch zugesprochen
15Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 24.06.2015 – nachzulesen unter http://www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de/ – das Gericht erlaubte den Streik
16 Z.B. Artikel 6 Europäische Sozialcharta: Deutschland wird regelmäßig vom Sachverständigenausschuss kritisiert: Conclusions of the European Committee of Social Rights, cycles XV-1 (2001), XVI-1 (2003), XVII-1 (2005), XVIII 1 (2006), XIX-3 (2010) und zuletzt XX-3 (2014), abrufbar unter www.coe.int/socialcharter; ILO-Übereinkommen Nr. 87 und Nr. 98; Artikel 11 Europäische Menschenrechtskonvention; Artikel 8 UN-Sozialpakt
17 Bundesverfassungsgericht Urteil vom 11. Juli 2017 – Aktenzeichen 1 BvR 1571/15, nachzulesen unter http://www.bverfg.de
18 Vgl. Horn, Arbeiter und 1968, S. 38.
19Birke, Peter, Der Eigen-Sinn der Arbeitskämpfe, S. 62f.
20Horn, Arbeiter und 1968, S. 38.
21Die offizielle Inflationsrate lag 1967-69 jeweils unter 2 %, 1970 3,6 % und von 1971-75 jedes Jahr über 5 %. Der Höhepunkt wurde 1973 erreicht mit 7,1 % Preissteigerung.
22Horn, Arbeiter und 1968, S. 43.
23http://www.soeb.de/fileadmin/redaktion/downloads/soeb_arbeitspapier_2008_4_lohnentwicklung_und_internat_vergleich.pdf
24Vgl. Birke, Der Eigen-Sinn der Arbeitskämpfe, S. 53 und S.64.
25http://www.kossawa.de/index.php/inland-ausland/329-die-qwildenq-streiks-1969-und-197273
26https://www.sozialismus.info/2007/01/11928/
27Müller-Jentsch, Kessler, spontane Streiks in der Bundesrepublik. S. 361f.
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Streikkomitees und Arbeiterdemokratie
Der folgende Text ist die Übersetzung eines Artikels der französischen Organisation Lutte Ouvrière (Arbeiterkampf), dessen Aussagen wir teilen.
Artikel aus: lutte de classe Nr. 74 (April 1980)
Eine der entscheidenden Fragen in einem Streik ist die der Führung, das heißt, durch wen und wie der Wille der Streikenden vertreten wird und ihre Interessen verteidigt werden, sowohl was die Durchführung des Streiks betrifft, als auch in den Verhandlungen mit dem Unternehmer.
Die revolutionären Sozialisten setzen sich nicht nur für den Erfolg der Arbeitenden in den alltäglichen Auseinandersetzungen des Klassenkampfes ein, sondern dafür, dass die Arbeitenden die gesamte Gesellschaft in ihre Hand nehmen und die ganze Macht ausüben. Für sie gilt daher, dass die Arbeitenden selbst alle ihre Bewegungen zu organisieren und zu leiten haben, auch solche, deren Tragweite oder Ziele sehr begrenzt sind.
Es gibt Streikkomitee und Streikkomitee…
Es ist inzwischen ausreichend bekannt, dass die Revolutionäre – und insbesondere jene, die bei Lutte Ouvrière aktiv sind – die Schaffung von Streikkomitees befürworten, die der Streikversammlung verantwortlich sind. Die Idee, dass die Streikenden ihre Führung zu wählen und sie systematisch zu kontrollieren haben, könnte selbstverständlich erscheinen. Doch offenbar ist dem nicht so, da in den letzten Jahren wiederholt von Gewerkschaftsführungen1 dagegen angekämpft wurde, die, auch wenn sie zumeist widerstrebend die Idee der Arbeiterdemokratie begrüßen, zugleich die Idee verteidigen, dass die Führung der Bewegung rechtmäßig… ihnen selbst zukommt. Vor allen Dingen ist so etwas offenbar nicht selbstverständlich, da Streiks sehr selten gewesen sind, bei denen tatsächlich ein solches Komitee ins Leben gerufen wurde, welches gewählt, abwählbar und allen Streikenden gegenüber verantwortlich war.
Es ist sicher nicht so selten, dass man von einem „Streikkomitee“ hört. Doch kann dieses Wort sehr unterschiedliche Realitäten abdecken. So tauft sich manchmal eine Gewerkschaftsführung Streikkomitee, da sie den Streik führt – ohne dabei das Geringste zu verändern, ohne einen einzigen neuen Arbeitenden in die von ihr gebildete Gruppe aufzunehmen und vor allem, ohne die Streikenden nach ihrer Meinung zu fragen. Öfter noch – aufgrund der gewerkschaftlichen Spaltung der französischen Arbeiterbewegung – ist es ein gewerkschaftsübergreifendes Komitee, das Vertreter der verschiedenen Gewerkschaftsorganisationen umfasst, das sich als Streikkomitee bezeichnet. In diesem Fall kann es passieren, dass solch ein gewerkschaftsübergreifendes Komitee bei der Gelegenheit seine Reihen vergrößert und eine gewisse Anzahl von aktiven Streikenden kooptiert, um an seinen Beratungen oder auch Entscheidungen teilzunehmen.
Sicher, wenn man unter Streikkomitee lediglich die Gruppe von Leuten versteht, die tatsächlich die Leitung des Streiks in der Hand hat, ohne sich darum zu kümmern, auf welche Weise diese Gruppe zu Stande gekommen ist und vor allem wie ihre Beziehungen zu den Streikenden sind – weshalb sollte man dann nicht in all diesen Fällen von Streikkomitee sprechen?
Die Art von Streikkomitee, für die sich Revolutionäre einsetzen, sieht anders aus. Und wir ziehen es vor, nur für eine solche Organisation den Begriff Streikkomitee zu verwenden. An sie denken im Übrigen auch die Arbeitenden, wenn sie von einem Streikkomitee sprechen – selbst wenn es in mehr oder weniger unklarer Form geschieht. Und wozu bräuchten ein örtlicher Gewerkschaftsvorstand oder ein gewerkschaftsübergreifendes Komitee in Streikzeiten eine andere Bezeichnung, wenn nicht, um so zu tun, als seien sie etwas anderes als das, was sie tatsächlich sind?
Unter Streikkomitee verstehen wir ein Komitee, dessen Mitglieder alle ohne Ausnahme von den Streikenden gewählt wurden, so dass niemand sich dort aus angestammtem Recht befindet, aufgrund dieser oder jener gewerkschaftlichen Funktion, ohne dass die Streikenden das Recht hätten, ihn im Komitee zu belassen oder abzuberufen.
Für ein solches Streikkomitee muss jeder Arbeitende, der dies will, kandidieren können, ob er gewerkschaftlich organisiert ist oder nicht. Es ist Aufgabe der Streikversammlung, diejenigen zu bestimmen, die sie in diesem Komitee haben will – welches im übrigen so groß wie möglich sein sollte, denn so ist es am repräsentativsten. Und am besten findet die Wahl offen – vor aller Augen – statt. So ist der Einsatz der Streikenden, dafür oder dagegen, klar. Und den Streikenden steht frei, die Abstimmungen eines jeden zu kontrollieren.
Auch wenn natürlich möglichst jeder Bereich des Unternehmens im Streikkomitee vertreten sein sollte, ist es wichtig, dass die endgültige Auswahl der Mitglieder des Streikkomitees in der Vollversammlung aller Streikenden stattfindet. Wenn eine Vorauswahl in einzelnen Bereichen stattgefunden hat, muss sie zumindest von der Vollversammlung bestätigt werden. Es handelt sich um eine geeinte Bewegung und das Streikkomitee hat die Aufgabe, diese für alle zu führen. Keines seiner Mitglieder ist nur für die Verteidigung der Interessen dieses oder jenes Bereiches da. Dies muss sowohl den Mitgliedern des Komitees als auch allen Streikenden klar sein.
Die beste Vertretung der Streikenden
Weshalb erscheint uns eine solche Organisierung des Streiks als die beste?
Deshalb, weil ein Streik zunächst ein Anstieg der Kampfbereitschaft der Arbeiter ist. Er mobilisiert zahlreichere Energien, entwickelt eine größere Teilnahme aller, als es die gewöhnliche Gewerkschaftsaktivität tut. Dies trifft für die heutige Zeit in Frankreich übrigens noch viel mehr zu, in der das gewerkschaftliche Leben äußerst schwach ist, an dem nur eine extreme Minderheit der Arbeitenden ein ganz klein wenig teilnimmt. Der Streik bedeutet Veränderungen im Bewusstsein aller – der vorher gewerkschaftlich Organisierten wie derjenigen, die es nicht waren, aber ebenso wie die ersteren zum Streik aufgerufen sind.
Das Streikkomitee ermöglicht, alle Arbeitenden in die Entscheidungen und die Organisierung ihrer Bewegung einzubeziehen. Insbesondere all jene, die sich gewöhnlich nicht um das Gewerkschaftsleben kümmern, die sich von ihm zurückgezogen haben oder aus dem einen oder anderen Grund davon ferngehalten wurden, die sich jedoch genauso wie die Gewerkschaftsmitglieder, und manchmal sogar mehr als diese, von der Organisierung des Streiks betroffen fühlen und Lust haben können, aktiv daran teilzunehmen. Es gibt keinen Grund, weshalb im Streik bestimmte Streikende weniger Rechte haben sollten als andere.
Aber vor allem wird ein solches Streikkomitee das genauestmögliche Abbild des Willens der Streikenden sein. Es wird in jedem Moment des Streiks das sicherste Barometer für eventuelle Änderungen dieses Willens sein. Wenn das Komitee wirklich den Streikenden verantwortlich ist, wenn es von ihnen abwählbar ist, behält die Mehrheit in jedem Moment das Mittel, ihren Willen umzusetzen – entweder indem sie vom Komitee fordert, dass es eine der Meinung dieser Mehrheit entsprechende Politik macht, oder indem sie das ganze bzw. einen Teil des Komitees durch andere Vertreter ersetzt, die fähiger sind, diese Politik durchzuführen.
Im Übrigen hat ein solches Komitee durch seine sehr repräsentative Ernennung auch mehr Möglichkeiten, genau zu spüren, was die Streikenden wollen, ihre Kampfbereitschaft und Entschlossenheit abzuschätzen, zu wissen bis wohin sie bereit sind zu gehen.
Diese Fähigkeit, sehr genau den Willen der Streikenden zu repräsentieren, auch in seinen Veränderungen, die eine der Qualitäten des Streikkomitees ist, wird übrigens manchmal von den Gewerkschaftsführern als Argument gegen ein Streikkomitee benutzt.
Es stimmt, dass diese Form der Organisierung, welche für jeden aufrichtigen Menschen unbestreitbar die demokratischste Form ist, die man sich vorstellen kann, keine absolute Garantie gegen alle Irrtümer oder schlechten Entscheidungen darstellt. Die Vollversammlung der Streikenden kann sich von einem Maulhelden oder Schönredner täuschen lassen, der sich als zögerlich oder sogar als Verräter an den Interessen seiner Kollegen herausstellt, wenn es sich darum handelt, wirklich den Kampf zu organisieren oder mit dem Chef zu reden.
Doch wenn das Streikkomitee tatsächlich unter der Kontrolle der Streikenden steht, so besitzen diese allein dadurch das notwendige Gegenmittel, da sie die Möglichkeit haben, einen Verantwortlichen, der sich als unfähig oder als Verräter erweist, sofort auszuwechseln.
Andererseits kann es auch passieren, dass die Kampfbereitschaft abfällt, dass sich bei den Streikenden Demoralisierung einstellt. In diesem Fall wird das Streikkomitee diesen Rückgang der Kampfbereitschaft und sogar diese Demoralisierung widerspiegeln. Sei es, dass seine Mitglieder selbst genau derselben Stimmungsentwicklung unterliegen wie die Arbeitenden der Basis, sei es, dass diejenigen, die gut durchhalten, in die Minderheit geraten, nicht mehr die Stimmung der Mehrheit repräsentieren und durch letztere entfernt werden.
Es stimmt sicherlich, dass die gewerkschaftlich Aktiven im Allgemeinen den Auswirkungen der Demoralisierung weniger erliegen als viele Arbeitende an der Basis. Weil sie unter allen Umständen aktiv sind, sind sie besser darauf vorbereitet, ein Mindestmaß an Prinzipien hochzuhalten, selbst in schlechten Zeiten, wenn die fehlende Kampfbereitschaft oder die Demoralisierung der großen Mehrheit ein dem Unternehmer günstiges Kräfteverhältnis ergibt. Man kann sich vorstellen, dass ein Streikkomitee, das aus Arbeitenden der Basis zusammengesetzt ist, die von einem scheinbar aussichtslosen Streik demoralisiert sind, sich dazu entschließt, ein Abkommen mit der Unternehmensleitung zu unterschreiben, das Gewerkschaftsaktivisten auf keinen Fall unterzeichnen würden. Denn selbst im schlimmsten Fall würde ihr gewerkschaftliches Bewusstsein sie daran hindern.
Diese Argumente werden manchmal von Gewerkschaftsaktivisten verwendet, um ihr Monopol auf die Vertretung der Arbeiterschaft zu rechtfertigen, sowie ihre Ablehnung, ihre Führungsrolle vor den Arbeitenden der Basis aufs Spiel zu setzen.
Aber die möglichen Nachteile – eine falsche Entscheidung der Arbeitenden – können die Vorteile nicht auslöschen. Der Ausgang eines Streiks hängt im Übrigen immer grundsätzlich vom Kräfteverhältnis zwischen den Streikenden und dem Unternehmer ab, das heißt davon, was die Streikenden wirklich wollen und was sie zu tun entschlossen sind, um es durchzusetzen. Eine gewerkschaftliche Führung, die entschlossener ist als die Streikenden, wird dem Unternehmer keine Zugeständnisse aufzwingen, die das Kräfteverhältnis nicht aufzwingt, selbst wenn sie die Interessen der Arbeitenden gut verteidigen will. Jedoch kann eine von den Arbeitenden unkontrollierte Gewerkschaftsführung, die losgelöst von ihnen handelt, sehr gut eine Bewegung zum Schleuderpreis verkaufen, die noch alle Möglichkeiten hatte zu siegen. Die jüngste Vergangenheit bietet uns vor allem Beispiele in diesem Sinne, das muss deutlich gesagt werden.
Keine unabsetzbaren Vertreter der Arbeitenden
Für ein Streikkomitee einzutreten, bedeutet also den von den Gewerkschaftsführungen erhobenen Anspruch zu bestreiten, dass die Führung von Bewegungen von Rechts wegen ihnen zukommt.
Ein der Gesamtheit der Streikenden verantwortliches und gewähltes Streikkomitee kann natürlich im Wesentlichen oder sogar vollständig aus Gewerkschaftsaktivisten zusammengesetzt sein. Diese können von den Streikenden ausgewählt werden aus Wertschätzung für ihre gewerkschaftliche Funktion und für die Art, wie sie diese Funktion gewöhnlich ausüben, oder ganz einfach aufgrund der Rolle, die sie beim Auslösen des Konflikts gespielt haben. Doch wenn sie an die Spitze des Streiks gewählt worden sind und den Streikenden in jedem Augenblick des Streiks verantwortlich sind, so erhalten sie ihr Mandat nicht einfach aufgrund ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit. Sie sind nicht von der Gewerkschaft und ihrem Apparat abhängig, sondern von den Streikenden, welche sie in der Führung der Bewegung belassen können oder nicht – je nachdem, was sie während des Streiks tun.
Doch das, worauf die Gewerkschaftsführer Anspruch erheben, ist nicht das durchaus legitime Recht, im Falle eines Streiks als Vertreter der Arbeitenden gewählt und bestätigt zu werden. Sie beanspruchen diese Rolle von Rechts wegen, ohne in Frage gestellt werden zu können. Das heißt also, im Namen der Arbeitenden zu sprechen, die Bewegungen zu führen und auch zu beenden wie und wann es ihrem Gutdünken entspricht, ohne dass diese Arbeitenden sagen könnten, ob sie einverstanden sind oder nicht.
Eine solche Forderung ist an sich schon suspekt. Weshalb die Kontrolle und Billigung durch die Arbeitenden der Basis ablehnen, wenn man sicher ist, deren Interessen zu vertreten?
Aber es liegt natürlich daran, dass die Gewerkschaftsführungen sich dessen nichts weniger als sicher sind, dass sie dieses maßlose Recht beanspruchen, als einzige Vertreter der Arbeitenden anerkannt zu werden, ohne dass diese die Möglichkeit hätten, das zu bestätigen oder anzufechten.
Sicher werden die Gewerkschaften traditionellerweise als Vertreter der Arbeiter betrachtet. Selbst das Gesetz garantiert ihnen ein Monopol auf diese Vertretung gegenüber Unternehmern und Regierung. Und ihre Rolle als Vertreter der Arbeiterinteressen wird von den Arbeitenden selbst selten in Frage gestellt, zumindest außerhalb von Streikzeiten!
Das in normalen Zeiten bestehende Desinteresse für das Gewerkschaftsleben und die Tatsache, dass die Mehrheit der Arbeitenden außerhalb der Gewerkschaften bleibt, stört diese nicht so sehr, denn dies lässt ihnen freie Hand, um ihre Apparatinteressen zu verteidigen.
Denn in Wirklichkeit ist jede Gewerkschaft zunächst ein Apparat, der ein Programm und eine Politik vertritt und nicht die Interessen oder den Willen der Gesamtheit der Arbeitenden. Einige proklamieren übrigens offen, dass sie lediglich eine Kategorie von Arbeitenden vertreten, wie die CGC2, die erklärt, dass sie nur Führungskräfte vertritt oder die CFTC3, die sich nur an christliche Arbeitende wenden will. Doch die CGT4, die CFDT5 oder FO6 sind ebensosehr Apparate, die entweder eine bestimmte Politik vertreten, z. B. die Politik der PCF7 im Falle der CGT, oder eine Politik der PS8 im Falle der CFDT, oder aber die Interessen von bestimmten Beschäftigtenkategorien wie bei FO, deren Politik häufig von dem Wunsch bestimmt ist, ihren Einfluss unter den Verwaltungsangestellten aufrechtzuerhalten.
All diesen Gewerkschaftsorganisationen ist die Verteidigung ihrer Apparatinteressen und ihrer besonderen Politik wichtiger als die allgemeinen Interessen der Arbeiterklasse.
Und in Kampfzeiten führt dies häufig zu einem offenen Auseinanderklaffen des Willens der Streikenden und der Politik der Gewerkschaftsführungen.
Das bedeutet natürlich nicht, dass nicht in zahlreichen Konflikten die Gewerkschaftsführungen kämpferisch erscheinen, tatsächlich die Spitze des Kampfes übernehmen und diesen bis zu Ende führen, das heißt bis zu dem Punkt, wohin die Kampfbereitschaft und der Willen der Arbeitenden zu gehen erlaubt.
Doch es bedeutet, dass in jedem Kampf die Möglichkeit besteht, dass die Gewerkschaftsorganisationen eine andere Politik zum Ausdruck bringen als es die Streikenden wollen, dass sich eine Kluft auftun kann zwischen der Kampfbereitschaft der einen und den konservativen Interessen der anderen.
Und wenn die betrieblichen Gewerkschaftsaktivisten auch weniger den Auswirkungen einer Demoralisierung erliegen, so fällt es ihnen dafür oftmals schwerer, die Veränderungen aufzunehmen, die sich ergeben, wenn die Kampfbereitschaft steigt. So ergeben und ehrlich sie sein mögen, fühlen sie sich in der Regel der Gewerkschaftsbürokratie verbunden. Daher unterliegen sie viel mehr dem Druck ihres Gewerkschaftsverbandes und spiegeln diesen wieder, welcher sich im Übrigen in Zeiten des Streiks verstärkt. Denn in diesem Moment ist die Gefahr am größten, dass die Gewerkschaftspolitik in Frage gestellt wird. Und oftmals stehen ihre Arbeitskollegen, die am Tag zuvor inaktiv und nicht gewerkschaftlich organisiert waren, plötzlich weiter vorne und befinden sich stärker im Einklang mit den übrigen Arbeitenden.
Wenn die Streikenden demnach wollen, dass ihr Willen durch die Streikleitung sehr genau widergespiegelt wird, müssen sie die Wahl haben, die freie Entscheidung, Gewerkschafter oder andere Streikende dorthin zu wählen.
Es stimmt, dass die Gewerkschaften sich in Streikzeiten sehr oft auf ein gewerkschaftsübergreifendes Komitee verständigen. Man könnte meinen, dass in dem Moment verschiedene politische Konzepte, die von den unterschiedlichen Apparaten vertreten werden, aufeinander stoßen und so den Streikenden unterbreitet werden, und dass sich auf diese Weise eine gewisse Demokratie entwickeln könnte. In Wahrheit werden Probleme innerhalb solcher gewerkschaftsübergreifenden Komitees durch das Kräfteverhältnis zwischen den einzelnen Apparaten entschieden. Die Entscheidungen werden – übrigens oft im Geheimen – unter den Gewerkschaften getroffen und nicht durch eine kollektive Entscheidung der Streikenden, denen die verschiedenen Möglichkeiten nicht einmal vorgestellt werden. Das gewerkschaftsübergreifende Komitee ermöglicht also im besten Fall, die Beziehungen zwischen den verschiedenen Gewerkschaftsapparaten einvernehmlich zu regeln. Es ermöglicht nicht im Geringsten eine wirkliche Demokratie, die den Streikenden die Macht übergibt.
Für ein Streikkomitee… unter allen Umständen
Die Tatsache, dass Revolutionäre in allen Fällen, in allen Bewegungen, so begrenzt sie auch sein mögen, Verfechter einer demokratischen Organisierung des Streiks und daher für den Aufbau von Streikkomitees sind, bedeutet selbstverständlich nicht, dass es immer möglich sein wird, ein solches aufzubauen.
Man kann immer auf die eine oder andere Art und Weise für Arbeiterdemokratie, also für ein Streikkomitee, werben. Doch oft werden die Revolutionäre ihren Einsatz für ein Streikkomitee dabei belassen und den streikenden Arbeitenden nicht einmal konkret die Schaffung eines solchen vorschlagen.
So ist es zum Beispiel sinnlos, den Aufbau eines Streikkomitees vorzuschlagen, wenn die Arbeitenden – wie es trotz allem in vielen Streiks der Fall ist – den Gewerkschaftsorganisationen völlig vertrauen, sich vollständig von ihnen vertreten fühlen und der Ansicht sind, dass die von jenen festgelegten Ziele sowie die vorgeschlagenen Mittel, um diese zu verwirklichen, richtig sind. Die Arbeitenden können keine Notwendigkeit erkennen, ihrer Bewegung eine andere Führung zu geben, wenn sie nicht das geringste Misstrauen gegenüber derjenigen empfinden, die sich aus angestammtem Recht aufgedrängt hat. Der Versuch einer Minderheit, eine andere Führung aufzubauen, kann in dem Fall als unnützer Spaltungsversuch aufgefasst werden.
Der konkrete Vorschlag eines Streikkomitees kann den Arbeitenden nur gemacht werden, wenn es aus dem einen oder anderen Grund ein Auseinanderklaffen des Willens der Streikenden und der Politik der Gewerkschaftsführungen gibt. Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn ein Streik losgelöst von den Gewerkschaftsführern beginnt oder auch, wenn im Laufe einer Bewegung, selbst wenn sie anfänglich von den Gewerkschaften ausgelöst wurde, Differenzen auftreten zwischen dem, was die Streikenden wollen und dem, was die Gewerkschaftsführungen entscheiden.
Es besteht in allen Fällen das Problem für die Revolutionäre darin, die Situation einzuschätzen, zu spüren, ob es ein Auseinanderklaffen des Willens der Streikenden und der Politik der Gewerkschaftsorganisationen gibt, um den Vorschlag für ein Streikkomitee im günstigen Augenblick zu machen. Und dieser Moment kann von kurzer Dauer sein. Wie oft hat man nicht Streiks gesehen, die ohne – wenn nicht gar gegen – den Willen der Gewerkschaften ausgebrochen sind und dennoch fast unmittelbar von diesen kontrolliert worden sind. Bei diesen Streiks muss die Chance zum Aufbau eines Streikkomitees in den ersten Stunden ergriffen werden, sonst ist sie endgültig verpasst.
Bei einem Fall sollten wir kurz verweilen, denn er verdient, genauer untersucht zu werden. Nämlich wenn revolutionäre Aktivisten an die Spitze einer Bewegung gelangen aufgrund der von ihnen ausgeübten Gewerkschaftsfunktionen. Paradoxerweise gibt es für sie in dieser Situation manchmal die größten Schwierigkeiten, obwohl es die günstigste zu sein scheint, da die Arbeitenden die Revolutionäre ja von vornherein als ihre Vertreter betrachten und daher bereit sind, ihnen zuzuhören.
In der Situation sind die revolutionären Aktivisten tatsächlich faktische Führer des Streiks. Sie brauchen dafür kein Streikkomitee. Oft sogar verlangen die Arbeitenden von ihnen nichts anderes, als dass sie diesen Streik als Gewerkschaftsführer leiten – auf die für Gewerkschaftsführer übliche Art.
Es ist dann durchaus verführerisch – und dieser Versuchung sind viele revolutionäre Aktivisten erlegen – sich damit zufriedenzugeben, den Streik als Sekretär dieser oder jener Gewerkschaft zu führen, ohne sich darum zu kümmern, die Bewegung anders zu organisieren.
Doch wenn sie ihren Ideen treu sein wollen, können sich revolutionäre Aktivisten nicht mit ihren Gewerkschaftsmandaten und dem Ansehen, die diese ihnen einbringen, begnügen, um den Streik zu führen. Sie müssen den Streikenden vorschlagen, ein Streikkomitee zu wählen, so wie sie es machen würden, wenn sie nicht diese Posten gewerkschaftlicher Verantwortung innehätten. Sie müssen die Streikenden von der Nützlichkeit eines solchen Komitees überzeugen. Und wenn die Arbeitenden ihnen von vornherein das Vertrauen zur Führung des Streiks schenken, muss es doch wohl möglich sein, jene von der Notwendigkeit zu überzeugen, sich demokratisch zu organisieren und die selbstgegebene Führung zu kontrollieren, selbst dann wenn diese Führung unter dem Einfluss der Revolutionäre steht.
Dies ist nicht nur eine einfache Formalität. Es nicht zu tun, läuft darauf hinaus, sich wie die anderen reformistischen Gewerkschaftsführer zu verhalten. Diese handeln ganz natürlich und sind überzeugt, die besten Gründe der Welt zu haben, an Stelle der Streikenden, ohne deren formale Kontrolle, zu führen und zu entscheiden. Auch sie haben weder das Gefühl, sich wie Bürokraten zu verhalten, noch die Interessen der Streikenden zu verraten.
Revolutionäre Aktivisten sind, wenn sie eine Gewerkschaftsgruppe leiten, sicherlich weniger als andere Gewerkschafter empfänglich für den Druck des Apparates, des Gewerkschaftsverbandes gegen den Willen der Streikenden. Doch wenn sie sich sicher sind, die Interessen der Arbeitenden zu vertreten, haben sie auch keinen Grund, sich deren Kontrolle zu entziehen. Sie haben im Gegenteil allen Grund, diese Kontrolle zu suchen, sie müssen sie wenn nötig sogar einfordern.
Man kann nicht im Allgemeinen für Streikkomitees kämpfen und ihnen im Speziellen den Rücken kehren, gerade dann, wenn es möglich ist, eines auf die Beine zu stellen, da die Arbeitenden Vertrauen haben und zuhören. Das hieße, genau das zu tun, was die Revolutionäre den Anderen vorwerfen. Das hieße, sich wie Gewerkschaftsbürokraten zu verhalten. Dass diese Bürokraten sich als revolutionär bezeichnen, ändert nichts. Sie wären nicht die ersten dieser Art.
Genauso wenig kann es sein, dass sich die Revolutionäre, wenn der Streik von ihnen abhängt, das heißt, wenn sie im Streik eine entscheidende Rolle spielen, mit einem Pseudo-Streikkomitee zufrieden geben, welches lediglich ein erweitertes gewerkschaftsübergreifendes Komitee ist, in dem die Gewerkschaftsvertreter aus angestammtem Recht sitzen und einfach nur einige Arbeitende der Basis an ihrer Seite akzeptieren. Dies zu akzeptieren, unter dem Vorwand die anderen Gewerkschaften ins Boot zu holen, heißt in Wirklichkeit, sich für diese Gewerkschaften und gegen die Arbeitenden zu entscheiden.
Wenn wir uns für Streikkomitees einsetzen, die von den Arbeitenden vollständig gewählt und kontrolliert werden, so liegt das zunächst daran, dass diese Form der Organisierung am besten dazu geeignet ist, den Streik zum Erfolg zu führen. Doch es liegt auch daran, dass eine solche Organisierung eine unentbehrliche Ausbildung für die Arbeiterklasse ist. Diese kann nur dann eines Tages die Macht übernehmen und die Gesellschaft leiten, wenn sie dazu fähig ist, sich eine wirklich demokratische Organisationsform zu schaffen, die wirklich den Arbeitenden selbst ermöglicht, die Macht auszuüben. Wie könnte die Arbeiterklasse dies schaffen, wenn sie nicht schon von jetzt an fähig ist dafür zu sorgen, dass eine solche demokratische Organisationsform entsteht, auch in begrenzten Bewegungen mit begrenzten Zielen, doch Zielen, für die Arbeitende sich mobilisieren?
1Im Französischen ist unter Gewerkschaftsführung nicht unbedingt der zentrale Vorstand zu verstehen; auch die örtliche oder betriebliche Gewerkschaftsführung kann gemeint sein. (Alle Anmerkungen vom Übersetzer)
2 Confédération générale des cadres – allgemeiner Dachverband der Führungskräfte [für das französische „cadre“ gibt es keine genaue Entsprechung im Deutschen; es umfasst leitende Angestellte, Ingenieure und weitere Angestellte in verantwortlichen Positionen].
3 Confédération française des travailleurs chrétiens – französischer Dachverband christlicher Arbeitnehmer.
4 Confédération générale du travail – allgemeiner Dachverband der Arbeit.
5 Confédération française démocratique du travail – französischer demokratischer Dachverband der Arbeit.
6 Force ouvrière – Arbeiterkraft.
7 Parti communiste français – französische kommunistische Partei.
8 Parti socialiste – sozialistische Partei [der Name der französischen Sozialdemokratie].
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Unsere Aufgaben in Bezug auf die Gewerkschaften
Der folgende Text gibt unsere Einschätzung der Gewerkschaften, der Gewerkschaftsbürokratie und der Aufgaben revolutionärer Aktivist*nnen in diesem Zusammenhang wieder. Er wurde im Herbst 2005 als Diskussionsbeitrag innerhalb des Revolutionär Sozialistischen Bundes/IV. Internationale (RSB) verfasst, dem wir damals angehörten. Der RSB hat die Zusammenarbeit mit uns inzwischen beendet.
Der Zustand der Gewerkschaften und die Gewerkschaftsbürokratie
Gewerkschaften sind im Zuge des Klassenkampfs entstanden als elementare Interessensvertretung der ArbeiterInnen gegenüber den UnternehmerInnen. Sie sind entstanden, um die Konkurrenz der ArbeiterInnen untereinander zu überwinden, die den KapitalistInnen ermöglichte, den Preis der Arbeitskraft und die Arbeitsbedingungen immer weiter zu drücken.
Während sich in ArbeiterInnenparteien die Arbeitenden auf Grundlage eines gemeinsamen politischen Programms zusammenschließen, sind Gewerkschaften grundsätzlich Vereinigungen von ArbeiterInnen unterschiedlicher Weltanschauungen und verschiedener politischer Ansichten – geeint durch das Ziel, gemeinsam ihre Interessen gegenüber den KapitalistInnen zu vertreten.
Schon mehr oder weniger mit den ersten organisatorischen Erfolgen bildete sich in der Gewerkschaftsbewegung auch ein bürokratischer Apparat heraus, der nicht mehr für, sondern von der ArbeiterInnenbewegung lebt. Das ist um so stärker der Fall im heutigen Deutschland, das zu den reichsten imperialistischen Ländern zählt und auf eine lange Tradition der Korrumpierung der ArbeiterInnenbewegung zurückblicken kann.
Die bestehenden Gewerkschaften in Deutschland wurden in ihrer Entwicklung geprägt vom Modell der „Sozialpartnerschaft“, das auf Grundlage des sogenannten „Wirtschaftswunders“ entstanden ist, um die ArbeiterInnenklasse ruhig zu stellen. Hintergrund war die Zerschlagung der ArbeiterInnenbewegung durch den Faschismus, der viele Kampftraditionen der ArbeiterInnen im Blut ertränkt hat. Bei der Neugründung der Gewerkschaften 1945 wurde schon von den alliierten Besatzungsmächten darauf geachtet, einen starken bürokratischen Apparat aufzubauen, der die ArbeiterInnenmassen auch kontrollieren und disziplinieren kann.
In der Folge wurde die Gewerkschaftsbürokratie stark in den Staat und die kapitalistischen Herrschaftsstrukturen eingebunden – das geht von den Posten in Aufsichtsräten und der „paritätischen Selbstverwaltung“ der Sozialversicherungen über Strukturen wie das „Bündnis für Arbeit“ bis zur Teilnahme an Regierungskommissionen wie der Hartz-Kommission. Die Gewerkschaften verstehen sich heute durchaus als stabilisierendes Element der kapitalistischen Ordnung. Die starke Bürokratisierung der Gewerkschaften in Deutschland ist alles andere als ein Zufall. Sie ist ein Ergebnis bewusster Politik, auch wenn die Bürokratie eine Eigendynamik entwickelt und umso stärker wuchert, je weniger die Kämpfe der ArbeiterInnen entwickelt sind.
Die eigene Bezahlung, der gesellschaftliche Umgang und der Erfahrungshorizont bringt die GewerkschaftsbürokratInnen in größere Nähe zu den ManagerInnen als zu den ArbeiterInnen. Zudem gibt es im hauptamtlichen Apparat immer mehr QuereinsteigerInnen, die ihren „Job“ als „Dienstleistung“ verstehen und keine eigenen Bindungen an das Milieu haben, das sie vertreten sollen.
Die Bürokratie hat ein Eigeninteresse, das dem der ArbeiterInnen oft entgegensteht: Sie lebt davon, mit den UnternehmerInnen zu verhandeln und in Organen der sogenannten Sozialpartnerschaft mit UnternehmensvertreterInnen zusammenzuarbeiten. Dabei betreibt sie oft Gremienpolitik an den Betroffenen vorbei, die in den Verhandlungspoker nicht einbezogen werden. Diese Zusammenarbeit und Verhandlungen haben zur Voraussetzung, dass die Gewerkschaften von den UnternehmerInnen ernst genommen werden. Nur wenn die KapitalistInnen Angst vor der ArbeiterInnenklasse haben, brauchen sie die Gewerkschaften als verlässlichen Ordnungs- und Disziplinierungsfaktor. Zurzeit ist das Kräfteverhältnis zwar so günstig für die UnternehmerInnen, dass viele der Meinung sind, nicht mehr auf Gewerkschaften angewiesen zu sein und z.B. die Tarifautonomie als Ballast sehen. Die umsichtigeren KapitalvertreterInnen betonen allerdings, dass sie die Gewerkschaften durchaus zu schätzen wissen…
Die Gewerkschaftsbürokratie muss immer wieder zeigen, dass die ArbeiterInnen hinter ihr stehen, um ihre Dienste den UnternehmerInnen möglichst teuer verkaufen zu können – sie muss von Zeit zu Zeit mobilisieren. Gleichzeitig ist die Gewerkschaftsbürokratie immer darauf bedacht, dass ihr der Kampf der ArbeiterInnen nicht aus dem Ruder läuft, er soll stets unter ihrer Kontrolle bleiben. Es ist durchaus möglich, dass sich die Gewerkschaftsbürokratie unter bestimmten Umständen sehr radikal gibt und ernsthafte Mobilisierungsanstrengungen unternimmt. Selbstverständlich muss man dies nutzen, insoweit dadurch Kämpfe möglich werden bzw. ausgeweitet werden können. Aber auch in diesen Momenten muss man sich bewusst sein, dass die Bürokratie die Kämpfe nicht um der Kämpfe willen führt und nicht im Interesse der ArbeiterInnen. Sie wird immer bereit sein, sie bei der ersten Gelegenheit wieder abzuwürgen, sobald ihr Eigeninteresse als Bürokratie befriedigt wurde oder ihr die Kontrolle über den Kampf zu entgleiten droht.
Die Verrechtlichung des Klassenkampfes durch Betriebsverfassungsgesetz und die restriktive Rechtsprechung zum Streikrecht haben der Bürokratisierung nochmal Vorschub geleistet. Die ArbeiterInnen und durchaus auch Vertrauensleute und Betriebsräte haben oft das Gefühl, sich in den rechtlichen Fragen nicht gut genug auszukennen und überlassen sie dem Gewerkschaftsapparat mit seinen juristischen BeraterInnen. Damit geben sie wichtige Entscheidungen aus der Hand. Genauso gibt das Verhandeln und die Deutung von immer komplizierteren Tarifverträgen dem bürokratischen Apparat Arbeit und Macht. Er kann sich selbst „unentbehrlich“ machen, indem er immer verklausuliertere Verträge abschließt.
Der Apparat gewinnt innerhalb der Gewerkschaften immer mehr an Gewicht. In vielen Betrieben gerade auch in Ostdeutschland existiert die Gewerkschaft nicht mehr als erlebbare Organisation der Arbeitenden, da es keine gewerkschaftlichen Betriebsgruppen oder Vertrauenskörper gibt. In diesen Fällen wird die Gewerkschaft oft als äußerer Apparat wahrgenommen, der von den Nöten der Arbeitenden weit entfernt ist.
In den letzten Jahren hat die Bürokratie immer wieder massive Verschlechterungen mitgetragen und ihnen ihren Segen gegeben. Die Tarifverträge von ver.di für die öffentlich Beschäftigten, die Zustimmung der IG Metall zu Arbeitszeitverlängerung bei Siemens und DaimlerChrysler sind nur einige Beispiele. Die Bürokratie hat das Co-Management so verinnerlicht, dass sie den „Wirtschaftsstandort“ verteidigt und nicht mehr versucht, Verschlechterungen zu verhindern, sondern sie nur noch „sozialverträglich mitgestalten“ will. Für die Bürokratie ist die „Wirtschaftlichkeit“ eines Unternehmens unter kapitalistischen Bedingungen zum Kriterium geworden. Diese Logik führt dazu, dass in Verhandlungen eigene Vorschläge zur „sozialeren“ Gewinnsteigerung unterbreitet werden.
Die Bürokratisierung hat verheerende Folgen für das Klassenbewusstsein der ArbeiterInnen. Da innerhalb eines langen Zeitraums tatsächlich im Rahmen einer Klassenzusammenarbeit von Gewerkschaftsapparat und Unternehmen gewisse Verbesserungen der Lage der ArbeiterInnen möglich waren oder schienen, trat die institutionalisierte „Interessensvertretung“ an die Stelle von Eigenaktivität der Arbeitenden. Es hat sich ganz besonders in Deutschland eine Kultur der StellvertreterInnenpolitik durchgesetzt, von der selbst linke GewerkschafterInnen infiziert sind.
Entscheidungen über Ziele und Taktik von Arbeitskämpfen werden in kleineren Gremien, seien es Betriebsräte o. a. Ausschüsse, getroffen. Nur selten finden regelmäßige und rechtzeitige Informationen der Belegschaft statt. Fast nie wird die Belegschaft befragt und ihr gegenüber Rechenschaft abgelegt oder gar in die Leitung von Auseinandersetzungen einbezogen bzw. zumindest dieser Versuch gemacht. Diese StellvertreterInnenpolitk findet eine scheinbare Rechtfertigung im Verweis darauf, dass ja die Basis selbst nicht kämpferisch sei, oder dass zum Besten der KollegInnen lieber SpezialistInnen die Auseinandersetzungen führen sollten. Viele ziehen auch aus der Tatsache, dass sie sich im Gegensatz zu einfachen KollegInnen seit Jahren engagieren, eine Art Berechtigung, es „besser zu wissen“. Es ist gut möglich, dass viele dieser FunktionärInnen in Zeiten ohne Kämpfe linker oder fortschrittlicher sind als die meisten einfachen KollegInnen. Viele von ihnen sind der Gewerkschaftsarbeit und der Interessenvertretung als Betriebsrat oder Vertrauensmann/frau wirklich ergeben und opfern viel Zeit, beweisen Mut und Engagement im alltäglichen Kampf mit den UnternehmerInnen. Wenn dann von der Basis oder von nicht-organisierten ArbeiterInnen berechtigte oder unberechtigte Kritik geübt wird, setzt oft ein Verteidigungsmechanismus ein. Die eigene Aktivität wird gerechtfertigt und nicht mehr reflektiert. Die Gefahr ist groß, dass sich solche betrieblichen oder gewerkschaftlichen FunktionärInnen dem aktiven Apparat näher fühlen als der sonst nicht-engagierten Basis. Doch vor allem unter dem Eindruck und der Erfahrung von Kämpfen werden neu aktivierte KollegInnen mit ihrer Kampfbereitschaft so manche dieser heute schon aktiven FunktionärInnen überrunden.
Die Aufgaben der RevolutionärInnen
1.
Gegenüber den immer massiveren Angriffen von Regierung und Unternehmen wird ein allgemeiner, betriebsübergreifender Widerstand der ArbeiterInnenklasse immer notwendiger. Dazu braucht sie mehr denn je kämpferische Massenorganisationen, insbesondere schlagkräftige Gewerkschaften, die nicht Konflikte zu meiden versuchen, sondern wirksamen Widerstand leisten. RevolutionärInnen stehen dabei den kämpfenden ArbeiterInnen bei allen Kämpfen in vorderster Front zur Seite, selbst wenn es um scheinbar geringfügige Fragen geht. Die aktive Mitarbeit in den Gewerkschaften ist für RevolutionärInnen unerlässlich. Alle Möglichkeiten, die Einheit, das Selbstbewusstsein und die Kampfkraft der ArbeiterInnenklasse und ihrer Gewerkschaften zu stärken, müssen genutzt werden.
Die Wahrnehmung gewerkschaftlicher und betrieblicher Positionen und Mandate muss demselben Ziel dienen. Die Übernahme von Mandaten kann eine wertvolle Stütze für die revolutionäre Arbeit sein. Ziel von RevolutionärInnen in Vertrauenskörper oder Betriebsrat ist es nicht, an Stelle der KollegInnen zu handeln, sondern diese in Aktivitäten einzubeziehen. Das wird allerdings nicht immer möglich sein. RevolutionärInnen müssen in solchen Positionen auch Aufgaben wahrnehmen, die kein Ausdruck kollektiven Widerstands sind. Das muss ihnen bewusst sein. Sie sind in solch herausgehobenen Positionen auch einem vermehrten Anpassungsdruck von Unternehmen und Bürokratie ausgesetzt. Dem kann umso besser widerstanden werden, je stärker der Rückhalt der KollegInnen für die betriebliche und gewerkschaftliche Politik der RevolutionärInnen ist. RevolutionärInnen dürfen sich nicht der sogenannten Realpolitik im Alltag beugen, sondern müssen sich dem Sog von StellvertreterInnenpolitik und Cliquenbildung des Gewerkschaftsapparats entgegenstellen.
2.
Arbeitskämpfe auch um begrenzte Teilfragen sind eine absolut notwendige Schule des Klassenkampfes. Doch damit die ArbeiterInnen wirklich die Erfahrung der eigenen Stärke und des kollektiven Handelns machen können; damit sie lernen, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, müssen sie sich auch die Kontrolle ihrer eigenen Kämpfe sichern.
Im Falle eines Streiks ist das durch ein gewähltes Streikkomitee und regelmäßige Streikversammlungen möglich, auf denen alle wichtigen Fragen gemeinsam entschieden werden. Ein Einwand gegen die Bildung eines Streikkomitees mag sein, dass es die Bewegung spalte, weil es eine Konkurrenzorganisation zu gewerkschaftlichen Strukturen sei. Ein Streikkomitee steht genauso wenig in Konkurrenz zur Gewerkschaft wie ein ArbeiterInnenrat in Konkurrenz zu den in ihm vertretenen Parteien steht. Im Gegenteil: Streikkomitees umfassen sogar mehr als nur die gewerkschaftlich Organisierten, nämlich all diejenigen, die in einem Kampf engagiert sind und von den Streikenden selbst gewählt wurden. Es stützt sich auf das Vertrauen der Streikenden und nicht auf das Gewohnheitsrecht der Gewerkschaften, alles zu dirigieren und zu bestimmen. Außerdem ist nur die Minderheit der ArbeiterInnenklasse gewerkschaftlich organisiert – v.a. junge und prekäre ArbeiterInnen werden kaum von den Gewerkschaften erreicht und noch weniger als Vertrauensleute, Betriebs- und Personalräte oder als ehrenamtliche FunktionärInnen in die Arbeit der Gewerkschaften hineingezogen. Streikkomitees sind in Kämpfen die geeignete Organisationsform, um sich neu radikalisierende ArbeiterInnen in die Organisation des Kampfes einzubeziehen und eine Gegenmacht zur Gewerkschaftsbürokratie zu errichten. Damit gewährleisten sie auch die umfassendste und bleibendste Bildung von Klassenbewusstsein im Kampf. In diesen Organismen wird die Demokratie der kämpfenden ArbeiterInnen verwirklicht. Aus all diesen Gründen sind Streikkomitees der Bürokratie und vielen ReformistInnen ein Dorn im Auge.
Streikkomitees sind nicht immer und überall möglich. Es ist unfruchtbar und unter Umständen schädlich, zu ihrer Gründung aufzurufen, wenn es keine Möglichkeit gibt, sie tatsächlich umzusetzen. Nur in der konkreten betrieblichen (oder überbetrieblichen) Auseinandersetzung kann entschieden werden, ob und zu welchem Zeitpunkt die Bildung eines Streikkomitees machbar ist: Es muss für die Mehrheit der Streikenden Sinn machen. Doch genau das muss vorbereitet werden, auch indem versucht wird, in den Betrieben kämpferische Kerne von SympathisantInnen aufzubauen, mit denen auch die Rolle der Bürokratie und die notwendige Selbstaktivität der ArbeiterInnen diskutiert wird.
3.
Gleichzeitig kämpfen wir in den Gewerkschaften für deren Demokratisierung. Gerne schiebt der Gewerkschaftsapparat Argumente um „Endlosdebatten“, Nicht-Machbarkeit von mehr Beteiligung oder Desinteresse der Gewerkschaftsmitglieder vor, um seine undemokratische StellvertreterInnenpolitk zu rechtfertigen. Je mehr jedoch die Mitglieder tatsächlich etwas zu sagen haben, desto mehr wird ihr Engagement und Interesse wachsen. Je klarer und offener verschiedene Meinungen miteinander ringen, desto nachvollziehbarer sind die innergewerkschaftlichen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse und desto besser ist die Berücksichtigung der Interessen der ArbeiterInnen gewährleistet. Daher bekämpft der RSB jede Form der Repression gegenüber linken GewerkschafterInnen. Je bewusster und informierter die breite Masse der Mitglieder, desto überzeugender können sie gegenüber KollegInnen auftreten. Deshalb setzt sich der RSB überall dafür ein, dass funktionierende gewerkschaftliche Basisstrukturen allen Gewerkschaftsmitgliedern eine aktive Teilnahme ermöglichen.
In Bezug auf die Gewerkschaftslinke unterstützt der RSB jeden Schritt der Organisierung einer klassenkämpferischen Tendenz. Es muss versucht werden, die Kräfte zu bündeln, die der Gewerkschaftsbürokratie und ihrer Politik innergewerkschaftlichen Widerstand entgegensetzen wollen. Doch dürfen wir nicht übersehen, dass die bisher vorhandenen Kräfte sehr geprägt sind von der vorherrschenden gewerkschaftlichen Kultur. Teile von ihnen sind von der Entwicklung der Linkspartei aufgesogen worden und haben sich – zumindest mittelfristig – von der Arbeit am Aufbau einer klassenkämpferischen Gewerkschaftstendenz verabschiedet. Das Verhalten zur Linkspartei und die damit einhergehenden parlamentarischen Illusionen zeigen die politische Begrenztheit eines Großteils der Gewerkschaftslinken auf. Ein konsequenter Kampf für die notwendige Veränderung der Gewerkschaftspolitik ist von vielen zur Zeit nicht zu erwarten. Im Augenblick gibt es wenig Aussichten, sie in dieser Richtung zu beeinflussen. Die Chancen, sie zu überzeugen, werden erst dann steigen, wenn sie RevolutionärInnen nicht als „isolierte Kleinstgrüppchen“ oder „TräumerInnen“ erleben, sondern feststellen, dass revolutionäre SozialistInnen mit ihren Vorschlägen tatsächlich bei breiteren Schichten der ArbeiterInnen Gehör finden. Insofern werden die Chancen, beim Aufbau einer wirksamen gewerkschaftlichen Linken eine Rolle zu spielen, im selben Maße steigen, wie die RevolutionärInnen es schaffen, sich politisch in der ArbeiterInnenklasse zu verankern und im Kampf gegen die Bürokratie auf eigene Kräfte zählen können.