Die „Große Türkei“ des Erdoğan-Regime ist zusammengebrochen!

Der folgende Text wurde von Genoss:innen der türkischen „Internationalen Vereinigung für Arbeitersolidarität“ (UİD-DER) wenige Tage nach dem verheerenden Erdbeben vom 6. Februar 2023 geschrieben und von uns aus dem Englischen übersetzt. Hier erscheint eine leicht gekürzte Version.

Das Regime hat bei jeder Gelegenheit das Mantra von der „Großen Türkei“ wiederholt und die arbeitenden Massen aufgefordert, stolz darauf zu sein. Mit dem Mythos der „Großen Türkei“ versprachen die Machthaber eine starke Wirtschaft, Wohlstand, Stabilität und Frieden. Erdoğan sagte: „Das Jahr 2023, in dem wir das hundertjährige Bestehen unserer Republik feiern, wird auch ein Meilenstein, mit dem wir den Aufbau einer großen und starken Türkei einleiten.“ Seit dem frühen Morgen des 6. Februar sehen sich die Arbeitenden mit einer Zerstörung konfrontiert, die ein direktes Ergebnis der Politik derjenigen ist, die immer wieder das Mantra der „Großen Türkei“ vorbeteten.

Maraş, Antep, Hatay, Adıyaman, Diyarbakır, Kilis, Malatya, Osmaniye, Adana, Urfa … 10 Provinzen, von denen 7 Großstadtgemeinden sind, sind über den Arbeitenden zusammengestürzt. Selbst die offiziellen Erklärungen zeichnen ein erschreckendes Bild. Doch die Realität geht weit über dieses Bild hinaus. Am Morgen des 6. Februar stürzte die „Große Türkei“ des Ein-Mann-Regimes ein und ließ die Arbeitenden begraben unter den Trümmern!

Vor fast 24 Jahren, nach dem Erdbeben vom 17. August 1999, schrien die unter den Trümmern eingeschlossenen Menschen: „Ist jemand da draußen?“ Ihre Schreie haben sich tief in unser Gedächtnis eingegraben. Heute sind wieder Tausende unter Trümmern verschüttet. Sie twittern, dass sie sich unter den Trümmern befinden. Sie teilen ihren Standort. So viele Jahre sind seit 1999 vergangen. Trotz all der bitteren Erfahrungen und der enormen technischen Fortschritte in dieser Zeit wurde kein einziger Schritt in Richtung Wohlergehen und Wohlstand für die Gesellschaft getan! Wissenschaftliche Warnungen wurden ignoriert. Es wurden keine Maßnahmen ergriffen. Es gibt kein einziges Wohngebiet, das erdbebensicher gebaut oder umgestaltet worden wäre. Es gibt keinen Krisenplan für Katastrophen, keine Notsammelplätze, keine ausreichenden Rettungsteams, keine Ausrüstung. Der Staat ist in den Erdbebengebieten schlichtweg nicht existent! Obendrein gibt es kein Gewissen, keinen Anstand, keine Rücksichtnahme, kein Gerechtigkeitssinn! Das kapitalistische System schleift die Arbeitenden immer wieder in dieselben Katastrophen. Das Regime, dessen Ambitionen weit über seine Leistungsfähigkeit hinausgehen, ist durchdrungen von Habgier. Es ist bereit, die Gesellschaft für seine eigenen Interessen zu opfern. Es handelt sich um ein Regime, das ständig das Mantra der „Großen Türkei“ aufsagt, während es in Wirklichkeit alle Ressourcen für den Machterhalt und die weitere Bereicherung einer Handvoll Kapitalist:innen einsetzt.

Dies ist die „Große Türkei“!

Der Geologieprofessor Naci Görür sagt: „Wir Geologen haben immer wieder vor dem bevorstehenden Erdbeben gewarnt.“ Naci Görür und viele andere Wissenschaftler:innen verwiesen auf ein mögliches Erdbeben in Maraş. Die Machthaber haben diese Warnungen ignoriert. Und nun versuchen sie, die Zerstörung mit dem „Schicksal“ zu erklären. Drei Tage nach dem Erdbeben erschien Erdoğan in Maraş. Er sagte zu einem Überlebenden: „Was geschehen ist, ist geschehen. Das ist alles Teil des Schicksalsplans.“ Diese Gefühlskälte ist uns nicht neu. Wir haben die gleiche Haltung in Soma, Ermenek und Bartın gesehen, wo Hunderte von Bergleuten aufgrund unsicherer Arbeitsbedingungen zu Tode kamen. Seltsamerweise schadet der Schicksalsplan den Herrschenden nie, die gierig die öffentlichen Mittel und die Einkommen der Arbeitenden plündern. Aus irgendeinem Grund trifft der Plan des Schicksals nur Arbeitende und die Armen. Wenn es um das Leben der Arbeitenden geht, ignorieren die Herrschenden Warnungen und versäumen es, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Und wenn die Katastrophe eintritt, nutzen sie religiöse Gefühle aus, um sich der Verantwortung zu entziehen. Das können wir nicht zulassen, denn das Regime ist schuldig bis ins Mark!

In einer Live-Sendung beleidigt Erdoğan das Volk und bedroht die Oppositionellen: „Wenn die Zeit gekommen ist, werden wir abrechnen.“ Während Tausende unter den Trümmern nach Hilfe schreien, sagt einer seiner Minister schamlos: „Alles ist unter Kontrolle. Das einzige Problem sind die Fake News in den sozialen Medien“. Ein anderer Minister spielt gefühllos mit seinem Telefon, während ein Überlebender ihn verzweifelt um Hilfe bittet. Ein weiterer Minister schwärmt von „lokalen Decken“ aus „türkischer Produktion“. Ein Gouverneur grinst einen Überlebenden an, der fragt: „Wo sind die Hilfsgüter?“ Die Polizei hält Lastwagen mit Hilfsgütern an, die von den demokratischen Massenorganisationen und den von den Oppositionsparteien geführten Gemeinden gesammelt wurden. Sie tauschen die Transparente auf den Bussen gegen die der Institutionen des Regimes aus. Wenn Arbeitende versuchen, sich zu Wort zu melden, verdrehen willfährige Medienorgane entweder, was sie sagen, oder sie wenden sich ab. Den zwölf Menschen, die unter den Trümmern einer Koranschule eingeschlossen waren, wurde keine helfende Hand gereicht. Stattdessen wurden sichere Geldkassetten aus den Trümmern geholt. Es gibt keine Worte, die diese Verkommenheit und Bösartigkeit beschreiben könnten.

In der „Großen Türkei“ sind die Gebäude und die Infrastruktur so verrottet wie das Regime! Trotz aller Warnungen der TMMOB (Vereinigung der türkischen Ingenieur- und Architektenkammern) wurde der Flughafen Hatay auf dem ausgetrockneten Amik-See gebaut. Jetzt ist seine Landebahn in zwei Hälften geteilt, so dass die Hilfsflugzeuge nicht mehr landen können. Auch der Flughafen von Malatya ist in sich zusammengebrochen. Krankenhäuser, die unter allen Umständen stehen bleiben müssen, sind in der „Großen Türkei“ eingestürzt! Schulen, Studierendenwohnheime, Gerichtsgebäude, Moscheen, Autobahnen, Brücken. Die Liste lässt sich endlos fortsetzen.

In der „Großen Türkei“ verfügt die türkische Katastrophenschutzbehörde AFAD über einen Haushalt von 8 Milliarden Lira, während der Haushalt des Staatspräsidenten 7 Milliarden Lira beträgt. Noch schlimmer ist, dass das Ministerium für religiöse Angelegenheiten, das in den Moscheen rituelle Gebete verrichtet, anstatt seine Ressourcen zu mobilisieren, über einen Haushalt von 36 Milliarden Lira verfügt. Das Regime hat stets einen großen Teil der von den arbeitenden Massen erhobenen Steuern für seine aggressive Militärpolitik verwendet. Dennoch hat es sich geweigert, die Ressourcen der Armee für die vom Erdbeben heimgesuchten Gebiete zu mobilisieren. In der „Großen Türkei“ steht eine Armee von Trollen auf der Gehaltsliste der Regierung, die Zehntausende zählt, während die Such- und Rettungskräfte der

AFAD nur 1.789 Personen umfassen.

Während die Arbeitenden bei minus 5 Grad mit bloßen Händen in den Trümmern wühlten, ließ das Ein-Mann-Regime die internationalen und nationalen Rettungsteams mit ihrer Ausrüstung tagelang an den Eingängen von Städten oder Flughäfen warten. Während die Überlebenden auf Wasser, Lebensmittel und Decken warteten, war das Regime damit beschäftigt, die Hilfstransporte von Arbeiterorganisationen, Sozialist:innen, CHP und HDP [Oppositionsparteien] zu blockieren und die Solidaritätsnetzwerke zu sabotieren. Vizepräsident Fuat Oktay kritisierte die CHP-Gemeinden für die Reparatur der eingebrochenen Landebahn des Flughafens Hatay mit den Worten: „Wer gibt Ihnen das Recht, den Flughafen zu reparieren?“ Außerdem schränkte das Regime Twitter ein, das es Überlebenden und Freiwilligen ermöglicht, miteinander zu kommunizieren und sich zu koordinieren – und das zu einem so wichtigen Zeitpunkt, da noch immer Menschen unter den Trümmern eingeschlossen sind und Notrufe absetzen. Das Regime hat diesen Schritt unternommen, um seine Verbrechen zu verschleiern. Aber das ist nichts anderes als Mord. Dies zeigt deutlich, dass für die Machthaber das Regime das erste ist, was nach einem Erdbeben zu retten ist. Das Regime und seine Handlanger, die sich durch Schamlosigkeit und Herzlosigkeit auszeichnen, versuchen nun, legitime Reaktionen und Proteste zum Schweigen zu bringen und zu ersticken.

Szenen einer großen Plünderung in der „Großen Türkei“!

Nach dem Erdbeben von 1999 wurde eine vorübergehende Erdbebensteuer eingeführt. Im Laufe der Zeit wurde sie zu einer dauerhaften Steuer, die jetzt als ÖTV (Sonderverbrauchssteuer) bekannt ist. Die Gesamtsumme, die in den letzten 23 Jahren von der arbeitenden Bevölkerung eingetrieben wurde, beläuft sich auf 39 Milliarden US-Dollar! Diese Steuer war angeblich eingeführt worden, um den Wiederaufbau nach dem Erdbeben zu finanzieren und die Städte im Bereich der Erdbebenzonen bebensicher zu machen. Mit dieser enormen Summe hätten Hunderttausende von Häusern erdbebensicher gemacht und viele Städte umstrukturiert werden können. Aber das wurde nicht getan. Wohin sind all diese Steuergelder verschwunden? Wann immer diese Frage aufgeworfen wurde, zeigte die offizielle Antwort die Herzlosigkeit des Regimes. Der ehemalige Finanzminister Mehmet Şimşek sagte: „Es wurde für Autobahnen, Eisenbahnen und Fluggesellschaften ausgegeben.“ Erdoğan sagte: „Es wurde für das ausgegeben, was notwendig war. Wir haben jetzt keine Zeit mehr, über solche Dinge Rechenschaft abzulegen.“

Außerdem sind die Erdbebensteuern nur ein kleiner Teil der Plünderungen, die das Regime begangen hat. Es ist öffentlich bekannt, dass in den letzten 20 Jahren 300 bis 400 Milliarden Dollar aus der Türkei abgezogen wurden. Riesige Summen flossen an große Baufirmen, die als „Fünferbande“ bekannt sind. Sie wurden weltweit führend, was die Einnahmen aus öffentlichen Aufträgen angeht. Öffentliche Mittel wurden in den Dienst der Kapitalisten gestellt. Mit dem Mantra „Keine Kompromisse beim guten Ruf“ wurden riesige Summen für Luxus und Extravaganz ausgegeben. Zusätzlich zum Präsidentenpalast mit 1150 Zimmern wurden 2 weitere Paläste (einer für den Winter und einer für den Sommer) gebaut. Was sie mit „Großer Türkei“ meinen, ist nichts anderes als diese Verderbtheit.

Diejenigen, die behaupten, das Erdbeben habe allen das gleiche Leid zugefügt, sind Lügner:innen. An der Börse der „Großen Türkei“ schossen die Aktien von Zement- und Stahlunternehmen nach dem Erdbeben in die Höhe. Indem das Regime die Börsen nach einer solchen Katastrophe tagelang offenhielt, gab es grünes Licht für diese Geschäftemacherei. Diejenigen, die darum bitten, „das Erdbeben nicht mit Politik zu vermengen“, wollen in Wirklichkeit politische Vorteile erlangen. Sie versuchen, ihre Verbrechen zu verbergen. Sie versuchen, die unheilvollen Folgen zu vermeiden, die sich aus dieser Katastrophe für sie ergeben könnten. Die Architekten der „Großen Türkei“ sind von Fäulnis durchtränkt. Sie haben das ganze Land in eine Katastrophe hineingezogen. Ihre Haltung ist direkt mit ihrer Klassennatur verbunden. Es geht ihnen nur darum, neue Quellen für schnellen Profit zu finden, die Kapitalist:innen zu bereichern und um jeden Preis an der Macht zu bleiben.

In der gesamten Türkei schlagen die Herzen der Arbeitenden für die erdbebengeschädigten Gebiete. Aber das ist nicht genug. Wir müssen verhindern, dass sich die zerstörerischen Folgen weiter ausbreiten. Wir müssen die Wunden unserer Klassenschwestern und -brüder heilen. Zu diesem Zweck müssen alle Arbeitenden die Solidaritätskampagnen unterstützen, die von Gewerkschaften, Sozialist:innen und Arbeiterorganisationen einschließlich UİD-DER organisiert werden. Wir müssen uns daran erinnern, dass diejenigen, die verwundet wurden, auch das Heilmittel besitzen. Wir sind nicht nur traurig, sondern auch wütend! Die Arbeiter:innenklasse muss sich organisieren, um diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die für ihre blutigen Profite wackelige Häuser bauen, die es versäumen, notwendige Maßnahmen zu ergreifen und die uns drohen: Die Architekten der „Großen Türkei“ und der kapitalistischen Ordnung!

10. Februar 2023

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert