Der „Holodomor“ im deutschen Bundestag

Ende November hat der Bundestag mit den Stimmen einer ganz großen Koalition (Grüne, SPD, FDP und CDU/CSU) beschlossen, Geschichte zu deuten. Er hat den „Holodomor“ als Völkermord eingestuft, was unter Historiker:innen mehr als umstritten ist. Im Dezember hat das EU-Parlament einen ähnlichen Beschluss gefasst. Worum geht es dabei?

Es geht um die schreckliche Hungersnot, der in den Jahren 1932/33 zwischen 3 und 4 Millionen Ukrainer:innen zum Opfer fielen – aber auch weitere Millionen Menschen in Russland und Kasachstan. Diese Hungersnot war keine Naturkatastrophe, sondern die Folge einer verbrecherischen Politik Stalins und seiner Gefolgsleute: Dieser hatte beschlossen, die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in der Sowjetunion gegen alle Widerstände durchzusetzen. Da er dabei auf brutalen Zwang statt auf Überzeugung setzte, haben viele Bauernfamilien ihr Vieh lieber geschlachtet, als es den ungeliebten neuen Genossenschaften – auf Russisch Kolchosen – zu überlassen. Das allein war eine Katastrophe für die Landwirtschaft, in der nun auch Zugvieh für Pflüge fehlte, denn Traktoren waren noch eine Rarität. Dazu kamen die politischen Repressalien, wo viele Bauernfamilien, die sich der Kollektivierung widersetzten oder nur des Widerstands verdächtigt wurden, von ihrem Land vertrieben und in die Verbannung geschickt wurden, in der viele von ihnen umkamen. Alles zusammen hatte eine komplette Desorganisation der Landwirtschaft zur Folge mit zwei Missernten (1931 und 1932). Doch die Moskauer Staats- und Parteibürokratie hatte die abzuliefernden Getreidemengen nach dem guten Erntejahr 1930 festgelegt und hielt an diesen Zahlen fest. Gewaltsam wurde den schon hungernden Menschen das Korn entrissen, sogar das Saatgut für das jeweils kommende Jahr. Somit ist die stalinistische Führung politisch für die Millionen Todesopfer verantwortlich.

Gegen Kollektivierung an sich ist nichts einzuwenden. Wir Kommunist:innen sind davon überzeugt, dass die gemeinsame Bewirtschaftung des Landes in einem demokratisch geplanten Zusammenschluss ein Fortschritt ist gegenüber der mittelalterlichen Parzellenwirtschaft, die bis in die 1920er Jahre in der Sowjetunion noch verbreitet war. Aber davon hätte man die Bäuer:innen überzeugen müssen, indem die Industrie Traktoren liefert und die Kollektivierung auf freiwilliger Basis demokratisch an der Basis diskutiert und mitentschieden wird – das ist kurz gesagt der Unterschied zwischen einem sozialistischen Ansatz und stalinistischer Politik.

Verhungerte Bauern in Charkiw, 1933
 

Besonderheiten in der Ukraine

Die Hungersnot von 1932/33 hat nicht ausschließlich die Ukraine betroffen, sondern die meisten landwirtschaftlichen Gebiete der Sowjetunion. Aber da die Ukraine damals schon Kornkammer der UdSSR war, gab es hier besonders viele Opfer. Und ein zweiter Umstand kam hinzu: Stalins Politik war immer auf Machterhalt ausgerichtet und auf unbarmherzige Verfolgung von allem, was seiner Macht auch nur potenziell hätte gefährlich werden können. Mit der Zwangskollektivierung sollte der Widerstand der unabhängigen Mittel- und Großbauernfamilien (der sogenannten „Kulaken“) gebrochen werden, die durch Stalins vorherige Politik erst stark an wirtschaftlicher Macht gewonnen hatten.

Aber Stalin und seine Clique fürchteten auch regionale und nationale Eigenständigkeit gegen ihre zentralistische Diktatur. Deshalb wurden Anfang der 30er Jahre lokale ukrainische Führungskräfte – einschließlich ukrainischer Kommunist:innen – einer Repressionswelle ausgesetzt, die gewissermaßen die Säuberungen im großen stalinistischen Terror (1936-38) vorwegnahmen. Zum Teil wurden sie als Sündenböcke für die Hungersnot präsentiert, zum Teil wurde ihnen ukrainischer „Nationalismus“ vorgeworfen. Diese Führungskräfte wurden durch linientreue großrussische Bürokrat:innen ersetzt. Auch hier bedeutete der Stalinismus eine völlige Umkehrung von der Politik der frühen Sowjetunion unter Lenin, wo die nicht-russischen Nationalitäten politisch und kulturell bewusst gefördert worden waren. Stalin hingegen knüpfte an der alten, unterm Zarismus vorherrschenden nationalen Unterdrückungspolitik an.

Im sowjetischen Film „Erde“ (1930) des ukrainischen Regisseurs Dowschenko verspricht man sich viel von der Mechanisierung der Landwirtschaft…
 

Geschichte – politisch instrumentalisiert

Das erklärt, weshalb das traumatische Ereignis dieser politisch herbeigeführten Hungersnot mit Millionen ukrainischer Todesopfer, das noch dazu mit systematischer Verfolgung von ukrainischen Politiker:innen durch den Moskauer Kreml einherging, im ukrainischen kollektiven Gedächtnis als gezielt gegen die Ukraine gerichtete Politik verankert ist. Trotzdem handelt es sich nicht um einen Völkermord, wie der Bundestag es nun beschlossen hat. Denn das Ziel war nicht die systematische Tötung aller Ukrainer:innen, sondern die Durchsetzung bestimmter stalinistischer Machtinteressen – auf Kosten von Millionen Todesopfern, die aber längst nicht alle ukrainisch waren.

Allerdings wird diese Katastrophe vom rechten und auch rechtsextremen ukrainischen Nationalismus instrumentalisiert und das seit den 1930er Jahren. Die stalinistischen Verbrechen machten es der damaligen rechtsradikalen „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ (OUN) unter der Führung von Stepan Bandera leicht, antirussische und antikommunistische Ressentiments zu schüren, besonders in der Westukraine, die erst im Zuge des Zweiten Weltkriegs sowjetisch wurde. Banderas OUN war auch zutiefst antisemitisch und beteiligte sich in der Zeit der deutschen Besatzung am Völkermord gegen Jüd:innen.1 Während in der Sowjetunion die Hungerkatastrophe selbst und ihre politischen Ursachen totgeschwiegen wurden, ist die Interpretation als anti-ukrainischer Völkermord inzwischen Staatsräson der prowestlichen und antirussischen ukrainischen Staatsführung.

Dass nun der Bundestag in Bezug auf dieses auch unter Spezialist:innen sehr umstrittene historische Ereignis Stellung bezieht, hat natürlich politische Gründe und ist mehr als heuchlerisch. Denn damit kann man – wenn auch auf Kosten der historischen Wahrheit – sich billig als Unterstützer:in der Ukraine im aktuellen Krieg inszenieren.

…doch nachdem ein Kulak einen Kommunisten ermordet, wird zur Vernichtung des „Klassenfeindes“ aufgerufen.
 

In der Bundestags-Debatte verstieg sich der CDU-Abgeordnete Michael Brand zu immer übertriebeneren falschen Einschätzungen: „Sie sollten sterben, weil sie Ukrainer sind. Ein ganzes Volk sollte sterben. […] Ja, es sollte das ukrainische Volk vernichtet werden, nichts weniger.“ Und dieser offizielle „Sprecher für Menschenrechte und humanitäre Hilfe“ der CDU endete mit dem Ausruf „Slawa Ukrajini“ („Ruhm der Ukraine“), der schon um 1940 von der rechtsradikalen Organisation Banderas als offizielle Grußformel angenommen wurde.

Während der Bundestag es schafft, Stalins Verbrechen und Putins Imperialismus in einen Topf zu werfen, werden mit dieser Politik nur die Interessen des deutschen Imperialismus bedient: In der sich zuspitzenden Konfrontation zwischen imperialistischen Blöcken an der Seite der NATO und gegen den russischen Imperialismus Stellung zu beziehen. Darüber hinaus biedert man sich so an die ukrainischen Nationalist:innen an.

Die Großmächte, die heute durch Sanktionen und Waffenlieferungen am aktuellen Krieg in der Ukraine beteiligt sind, haben ebenso wie die Nationalist:innen auf beiden Seiten ein Interesse daran, den Konflikt Russland-Ukraine auf die Ebene des Nationalismus zu tragen. Weit entfernt von ihren Behauptungen, sie würden der Bevölkerung helfen sich selbst zu befreien, verfolgen auch die USA und die EU ebenso wie Russland egoistische wirtschaftliche Interessen in Bezug auf die Ukraine. Die Anerkennung des Holodomors als „Völkermord“ zielt darauf, diese unbequeme Wahrheit zu verschleiern.

Diese Politik der westlichen Mächte kann die Perspektive eines friedlichen Zusammenlebens der Bevölkerungen in der Region nur weiter erschweren. Aber Scholz und Habeck, wie Macron und Biden, wollen einen Sieg gegen Putin im Interesse westlicher Wirtschaftsinteressen. Die Zukunft der Bevölkerungen in der Ukraine ebenso wie in Russland ist ihnen völlig egal.

Richard Lux und Lorenz Wassier, Berlin

1 Die sprachliche Ähnlichkeit von Holocaust und Holodomor ist übrigens rein zufällig, da der Begriff Holocaust ursprünglich dem Altgriechischen entstammt, während Holod das ukrainische Wort für Hunger ist.

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