Die südkoreanische Serie „Squid Game“ auf Netflix schlägt alle Rekorde. Brutal, menschlich, spannend, alles passt auf die Serie, in der 456 überschuldete Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen sich überzeugen lassen, auf einer abgelegenen Insel Kinderspiele zur Belustigung mysteriöser „VIPs“ nachzuspielen. Sie treten gegeneinander an und kämpfen in mehreren Runden um viel Geld: 33 Millionen Euro. Die Verlierer… sterben. Und gestorben wird eine Menge. Hinter der Fiktion steht die Realität immer größerer sozialer Ungleichheit und die Verzweiflung überschuldeter Familien.
In einem Interview mit dem Guardian1 https://www.theguardian.com/tv-and-radio/2021/oct/26/squid-games-creator-rich-netflix-bonus-hwang-dong-hyuk erklärt der südkoreanische Filmmacher Hwang Dong-hyuk, dass ihm die Idee zu dieser Serie 2009 angesichts der eigenen Familiengeschichte gekommen ist. Das Land war wirtschaftlich von der Finanzkrise hart getroffen. Seine Mutter hatte gerade den Job beendet wegen der Rente, er selbst hatte keine Aufträge. Die Familie war auf Kredite angewiesen. Auf die Frage des Guardian, warum er einen solchen grauenhaft brutalen Wettkampf erschaffen hat, in der menschliches Leben so wenig zählt, war seine Antwort: „Weil die Show von einer einfachen Idee getragen ist, wir kämpfen um unsere Leben unter sehr ungleichen Lebensumständen.“
Für die Menschen in Südkorea ist jeden Tag „Squid Game“
Hinter dem früheren Autoarbeiter, der im Zentrum der Serie steht, gibt es die wahre Geschichte des Kampfes der Arbeiter:innen der Ssangyong Motor Fabrik. 2009 verkündete das Management, von den 5.300 Produktionsarbeiter:innen 2.646 zu entlassen. Eine/r von zwei! Wer bleibt? Wer geht vor die Hunde? Die Streikenden besetzten 77 Tage die Fabrik und wehrten sich hinter Barrikaden gegen die brutal vorrückende Polizei. Einer der Streikenden beschrieb die Situation kürzlich gegenüber dem Jacobin-Magazin 2https://jacobinmag.com/2021/11/squid-game-ssangyong-dragon-motor-strike-south-korea so: „Die südkoreanische Regierung hatte behauptet, sie würde uns schützen, doch stattdessen ist sie rücksichtslos über uns hergefallen. Das staatliche soziale Netz ist so schwach, dass Entlassung fast Todesstrafe bedeutet. Wenn Arbeiter nichts haben, woran sie sich halten können, dann beginnt der vertikale Fall. Das bedeutet Bankrott in seiner vollen Bedeutung, sozial und finanziell.“
Südkorea ist die zehntgrößte Wirtschaftsnation. Das bringt Reichtum für sehr sehr wenige, während viele zu den Verlierern gehören. Für viele heißt das ungeheure Armut, vor allem bei älteren Menschen, von denen 44% unterhalb der Armutsgrenze leben, hohe Jugendarbeitslosigkeit, unglaubliche Wohnungspreise, explodierende Schulden und Kosten für die Ausbildung der Kinder. Ein Drittel der Erwerbstätigen arbeiten „selbständig“; die meisten von ihnen sind seit Corona ruiniert. Die Privatschulden der Menschen entsprechen 105% des Bruttoinlandsproduktes. Die Familien häufen Kredite an, von denen sie nicht mehr runterkommen. Südkorea hat die höchste Selbstmordrate unter den OECD-Ländern.
Die Arbeiter:innenklasse kämpft, immer wieder gibt es Streiks. Sie kämpft unter schwierigen Bedingungen. Nicht nur wegen der vielen prekären Arbeitsverhältnisse, sondern Gewerkschaftsaktivist:innen werden auch verfolgt und mit Prozessen überzogen. Der letzte große Streiktag des Gewerkschaftsdachverbandes KCTU am 20. Oktober stand unter fünf Hauptforderungen: Verbot prekärer Jobs; Beendigung der Diskriminierung der Arbeiter:innen in Betrieben mit weniger als 5 Beschäftigten, für die faktisch keine Arbeitsrechte gelten; Garantiertes Recht auf Gewerkschaftsaktivitäten (die Gewerkschaft für Lehrkräfte ist in Südkorea noch immer verboten); Öffentliche garantierte Gesundheitsversorgung, Transport, Bildung und Wohnungen; staatliche Beschäftigungsgarantie für die Zeit der Umstrukturierungen in der Industrie (das Problem der Entlassungen in der Autoindustrie wächst angesichts der Umstellung auf Elektroautos). Ungefähr 260.000 Gewerkschaftsmitglieder haben an dem Tag landesweit demonstriert, darunter 24.000 in Seoul.
Alle gemeinsam gegen die Ausbeuter in Südkorea und überall auf der Welt, statt jeder gegen jeden in der Hoffnung auf den Jackpot – das wäre das Ende von „Squid Game“. Das fehlt noch, aber es ist ja schon eine zweite Staffel im Gespräch…
Sabine Müller, Berlin