Schicksalswahl in der Türkei?

 Zwei Jubiläen stehen dieses Jahr der Türkei ins Haus. Vor 100 Jahren wurde die heutige Türkei unter Kemal „Atatürk“ gegründet, vor 10 Jahren erschütterten die Proteste im Gezi-Park zum ersten Mal nachhaltig die Macht von Erdoğan (damals Ministerpräsident, heute Präsident). Wir wollen zurückschauen auf das Phänomen Erdoğan, der die Türkei stärker verändert hat als Generationen von Staatschefs vor ihm. Hat er seinen Zenit überschritten?

Mit Spannung wurden die Wahlen vom 14. Mai erwartet. Noch vor einem Jahr schienen Erdoğan und seine autokratische „Demokratur“ fest im Sattel. Doch zwischenzeitlich lag der Herausforderer fürs Präsidentenamt in Umfragen vorne, sodass es für die Opposition eher enttäuschend war, dass Erdoğan im ersten Wahlgang die Nase vorn behielt, ohne eine absolute Mehrheit zu bekommen. Die endgültige Entscheidung fällt nun in der Stichwahl am 28. Mai (nach Redaktionsschluss der Aurora).

Der Aufsteiger gegen das Establishment

Seit über 2 Jahrzehnten bestimmt Erdoğan die Geschicke der Türkei. Als Populist inszenierte er sich vor allem als Vertreter der „einfachen Leute“ gegenüber den alten regierenden Eliten. In der Tat stammt er aus einem Istanbuler Arbeiterviertel und bescheidenen Verhältnissen. Sein Elternhaus war religiös konservativ, was in der von Kemal „Atatürk“ geprägten Türkei verpönt war – zumindest in den kulturellen und politischen „kemalistischen“ Eliten, die eine Modernisierung nach westlichem Vorbild anstrebten. Jahrzehntelang war es vor allem das Militär, das eine entscheidende Rolle in der Türkei spielte, sich als Garant der säkularen (also nicht-religiösen) Staatsverfassung aufspielte und mehrfach gewählte Regierungen wegputschte, besonders blutig und repressiv im Jahr 1980, als viele Linke, Aktivist:innen der Arbeiter:innenklasse und Vertreter:innen der kurdischen Minderheit verhaftet, weggesperrt und gefoltert wurden.

Erdoğan wurde innerhalb einer islamistischen Partei groß. 1994 gewann er die Wahlen zum Bürgermeister von Istanbul und schaffte es, die größten Missstände in der korrupten Stadtverwaltung zu beseitigen. Sein Aufstieg wurde vom Militär kritisch beäugt und schließlich wurde 1998 sowohl seine damalige Partei verboten als auch Erdoğan zu einer Haftstrafe verurteilt. Doch damit wurde er nur zum Märtyrer. Seine neue Partei AKP, die er nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis 2001 gründete, konnte schon im Jahr darauf einen fulminanten Wahlerfolg erzielen und die Regierung stellen.

Die Sicherung seiner Alleinherrschaft

Erdoğan war (und ist) geschickter Machtpolitiker und wechselte Bündnispartner und politische Ausrichtungen so, wie es seinem Aufstieg dienlich war. Als Ministerpräsident (ab 2003) vermied er zunächst islamistisch aufzutreten, um dem Militär keinen Vorwand zu liefern gegen ihn einzuschreiten. Auch international stellte er sich als einen moderat religiösen Konservativen dar, der mit Militärherrschaft und Vetternwirtschaft aufräumen wollte. Der Wirtschaftsaufschwung der Türkei in diesen Jahren, der kaum das Verdienst Erdoğans war, half ihm, seine Popularität auszubauen.

2007 beschloss er, die Konfrontation mit dem kemalistischen Militär zu wagen und suchte sich einen Bündnispartner in Fethullah Gülen, dem Anführer einer weitverzweigten islamistischen Bewegung, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, viele Posten in Justiz und Exekutive zu besetzen. Erdoğan half ihr dabei durch langjährige Gerichtsverfahren rund um eine angebliche „Ergenekon“-Verschwörung und konnte so die Armeeführung nachhaltig entmachten.

In diesen Jahren machte Erdoğan auch Schritte auf die kurdische Minderheit zu. Mit symbolischen Gesten aber auch rechtlichen Reformen. Zum Beispiel wurde die kurdische Sprache zugelassen und sogar ein Fernsehsender in ihr eingerichtet. Im Kampf um Wählerstimmen und gegen die alten kemalistischen Eliten umwarb er die Kurd:innen, doch als 2015 die neu  gegründete pro-kurdische und linke Partei HDP einen großen Wahlerfolg einfuhr und Erdoğans absolute Mehrheit verhinderte, machte er einen kompletten Schwenk und kehrte zur repressiven anti-kurdischen Politik seiner Vorgänger zurück. Der Osten des Landes wurde wieder mit Bürgerkrieg überzogen und alle kurdischen Freiheits-Bestrebungen als Terrorismus gebrandmarkt. Er rief Neuwahlen aus, in denen die massiv verfolgte HDP wieder Stimmen verlor, sodass Erdoğan seine absolute Mehrheit bekam. Er konnte die Verfassung umschreiben zu einem Präsidialsystem mit ihm als fast unumschränkten Herrscher, denn 2014 war er vom Regierungschef zum Präsidentenamt gewechselt.

Nun gibt es eigentlich nur noch eine Bewegung, die neben ihm und seiner AKP über großen Einfluss verfügt: Die Gülen-Bewegung, mit deren Hilfe er den Machtkampf gegen das alte Militär gewonnen hatte. Er beschließt, auch diese Bewegung zu bekämpfen. 2016 versuchen gülenistische Armeeangehörige zu putschen, um der bevorstehenden Säuberung zuvorzukommen. Der Putsch scheitert und verhilft Erdoğan zu noch unumschränkterer Macht. Unter dem Vorwand die Putschisten zu bestrafen, gibt es eine Verhaftungswelle ungeahnten Ausmaßes – bis zu 500.000 Personen! –, der längst nicht nur
Gülenist:innen zum Opfer fallen, sondern jede:r, der potentiell Erdoğan gefährlich werden könnte.

Seitdem hat sich auch die Verfolgung der unabhängigen Presse noch einmal verschärft. In der Rangliste zur Pressefreiheit von „Reporter ohne Grenzen“ rangiert die Türkei auf Rang 165 noch hinter Russland!

Die Wahlen und die Opposition

Und doch muss er bei diesen Wahlen um seine Präsidentschaft zittern. Denn die Bevölkerung hat allen Grund zur Unzufriedenheit. Die hohe Inflation in Deutschland ist nichts gegen die Türkei, wo die Inflationsrate im vergangenen Herbst einen Höchststand von über 80 % erreichte und aktuell immer noch bei 44 % liegt.2 Die soziale Ungleichheit verschärft sich extrem, von dem Wirtschaftswachstum der letzten Jahre profitiert nur eine kleine Schicht von Unternehmen und die persönliche Umgebung des Präsidenten. Erdoğan, der seine politische Karriere als Saubermann begann, steht heute als korrupter Mann dar, den seine Präsidentschaft zum Millionär machte. Besonders angesichts der Tragödie des Erdbebens im Februar mit 50.000 Todesopfern hat Erdoğan massiv an Rückhalt verloren.

So erklärt sich, dass sein Herausforderer Kiliçdaroğlu eine reelle Chance hat, die Wahlen zu gewinnen. Kiliçdaroğlu ist von der kemalistischen CHP, die in den westlichen Medien oft irreführend als sozialdemokratisch bezeichnet wird. Die CHP ist die Partei der alten Eliten, die jahrzehntelang an der Macht waren und neben dem modernistisch-säkularen Kurs auch für extremen türkischen Nationalismus und Unterdrückung bspw. der Kurd:innen standen. Um gegen Erdoğan eine Chance zu haben, hat Kiliçdaroğlu eine Koalition aus sechs Parteien geschmiedet, darunter enttäuschte ex-AKP-Politiker wie der ehemalige AKP-Vorsitzende und Ministerpräsident Davutoğlu und auch eine Abspaltung der rechtsextrem-nationalistischen MHP.

Die Arbeiter:innen in der Türkei haben von einer solchen Opposition gegen Erdoğan nichts zu erwarten. Die steht für eine Fortsetzung der prokapitalistischen und nationalistischen Politik. Sie will eine Alternative für das türkische Kapital sein, das vielleicht ein Interesse daran haben könnte, dass nicht ein Mann zu viel persönliche Macht in seinen Händen konzentriert. Die Gegnerschaft zu Erdoğan ist der einzige Kitt dieses Bündnisses. Der einzig positive Effekt, sollte Kiliçdaroğlu gewinnen, könnte eine Lockerung der Repression und des Maulkorbs für die Presse sein. Doch um wirkliche Veränderungen zu erkämpfen müssten die Arbeiter:innen auf ihre eigene Kampfkraft setzen, nicht auf die Wahlen. Sie haben eine lange Tradition an Kämpfen. Zum Beispiel die Automobilarbeiter:innen, die 2015 mit einer wilden Streikwelle das Land den Atem anhalten ließen. Im März diesen Jahres haben erneut 1.200 Autoarbeiter:innen bei Mata Automotive in einem Vorort von Istanbul gestreikt.

Richard Lux, Berlin

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