Oktober 1923: Die abgesagte Revolution

In  der Aurora Nr. 34 vom Juni haben wir geschildert, wie sich in Deutschland 1923 nach Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen und der Ausrufung des „passiven Widerstandes“ durch die konservative Reichsregierung unter Wilhelm Cuno die innenpolitische Situation zunehmend verschärfte. Eine historisch beispiellose Hyperinflation trieb die Massen in die Verzweiflung und zu Streiks, die Cuno im August zum Rücktritt zwangen. Eine „Große Koalition“ unter dem DVP1-Politiker Gustav Stresemann und mit Beteiligung von Sozialdemokraten trat an seine Stelle. Hier soll es nun wie angekündigt um den „tatsächlichen Versuch der Revolution im Oktober 1923“ gehen.

Revolutionäre Chance verpasst oder weiterer Putschversuch?

Es gibt eine Fülle an Texten und Artikeln zum Thema des deutschen Oktober. Im Wesentlichen unterscheiden sie sich danach, wie die Verfasser:innen zu der Frage stehen: Gab es 1923 eine revolutionäre Situation in Deutschland? Vor der Beantwortung dieser Frage hängt auch entscheidend die Einordnung der Ereignisse ab. Doch was genau macht eigentlich eine revolutionäre Situation aus?

Lenin, der ja ein bisschen Revolutions-Erfahrung hatte, schrieb, dass die Revolution erst siegen kann, wenn „die ‚Unter-schichten‘ das Alte nicht mehr wollen und die ‚Oberschichten‘ in der alten Weise nicht mehr können“, das heißt „die herrschenden Klassen eine Regierungskrise durchmachen, die sogar die rückständigsten Massen in die Politik hineinzieht […], die Regierung kraftlos macht und es den Revolutionären ermöglicht, diese Regierung schnell zu stürzen.“2

All diese Merkmale sind im August 1923 aus unserer Sicht belegbar, wie schon im vorangegangenen Artikel ausgeführt. Doch woran ist die Revolution gescheitert?

Über revolutionäre Ungeduld und nachgeborene Besserwisser

Für das Verpassen der revolutionären Gelegenheit wurde vor allem von stalinistischer Seite einzig die KPD-Führung verantwortlich gemacht, nach dem Schema: Die KPD-Führung hat zuerst die Entwicklung der revolutionären Situation nicht erkannt und als dann – nach Eingreifen der Führung in Moskau – endlich Kurs auf den Aufstand genommen wurde, haben sie das auch noch versemmelt. Doch die Realität ist viel komplexer.

Auf die Situation der deutschen Kommunist:innen haben wir bereits im ersten Artikel hingewiesen. Vom ersten Tag ihrer Existenz an stand die KPD unter Feuer. In den Jahren 1919-21 zogen reaktionäre Freikorps und Reichswehr in Bürgerkriegskämpfen eine blutige Spur durch Deutschland. Der Preis, den die deutsche Arbeiter:innenklasse für die verlorene und verratene Revolution von 1918/19 bezahlen musste, war blutig und bitter. Tausende Proletarier:innen wurden ermordet – unter ihnen so viele, die als Führung gebraucht wurden – nicht nur die beiden Bekanntesten, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.

Mehr als verständlich also, dass die KPD-Führung unerfahren und oft unsicher war. Seit Februar 1923 wurde die KPD-Zentrale von Heinrich Brandler, Metallgewerkschafter aus Chemnitz und August Thalheimer, Parteitheoretiker aus Stuttgart, geführt. Aus den Jahren der Niederlagen hatten sie eine ganz entscheidende, aber dann doch zu einseitige Lehre gezogen: Man darf nicht zu früh losschlagen! Und man muss die Teile der Massen, die noch unter sozialdemokratischem Einfluss stehen, mit viel Geduld und Spucke überzeugen. Auch die Ereignisse der ersten Jahreshälfte hatten sie nicht dazu gebracht, diese Einstellungen zu überdenken – obwohl doch auch die sozialdemokratischen Massen von der beispiellosen Krise erfasst wurden.

Kurs auf den Deutschen Oktober

Es war vor allem die russische bolschewistische Partei und die Führung der Komintern3, der „Weltpartei der Revolution“, von denen man sich Rat, Hilfe und Unterstützung erhoffte. Immerhin hatten die schon eine erfolgreiche Revolution hinter sich gebracht. Genau hier bestand aber 1923 ein weiteres Problem. Am 9. März schied Lenin nach einem neuen Schlaganfall vollständig aus der politischen Führung aus. Es entbrannte ein Kampf um die Nachfolge. Neben Lenin war Leo Trotzki wohl der bekannteste Parteiführer. Doch Lenins langjährige Vertraute Sinowjew und Kamenew gingen ein Bündnis mit Stalin ein mit dem Ziel, Trotzki und seine Unterstützer:innen von der Führung zu verdrängen. Alles, was in den Monaten ab August in der Deutschlandpolitik der Kommunist:innen geschieht, wird von den Machtkämpfen in Moskau beeinflusst und überlagert.

Die Wahrnehmung der deutschen Ereignisse wird auch dort bis zum August durch die bisherigen Niederlagen der KPD bestimmt. Das wird noch im Juni deutlich, als die Komintern anlässlich des geplanten Antifaschistentages die deutschen Genoss:innen davor warnt, die Partei in eine Niederlage zu führen. Erst mit den Streiks im August und dem Sturz der Regierung Cuno ergibt sich auch aus Moskau eine völlig neue Perspektive. Was nun kommt, ist der Versuch einer gigantischen Beschleunigung der Ereignisse. Am 23. August beschließt die Führung der russischen Kommunistischen Partei, in Deutschland Kurs auf den bewaffneten Aufstand zu nehmen. Schwerpunkt liegt dabei auf der technischen Sicherstellung und dem Aufbau eines Apparates. Außer Acht blieb das Erklären und Propagieren der Politik der Partei. Während aus der Sowjetunion entsandte Militärs in Deutschland eilig eine Aufstandsorganisation aufstellten, saß die Brandler-Führung in Moskau fest und wartete – auf eine eilig angesetzte Konferenz.

Die Brandler-Führung kam erst am 10. Oktober aus Moskau weg – und unmittelbar nach dem Eintreffen in Deutschland trat die KPD mit zwei Ministern und Brandler als Leiter der Staatskanzlei in die linkssozialdemokratische Landesregierung in Sachsen ein. Das Konzept einer „Arbeiterregierung“ gemeinsam mit den Sozialdemokrat:innen war Teil des Konzeptes, das die Komintern viel diskutiert hatte, um Einfluss auf die noch sozialdemokratischen Massen zu gewinnen – das Konzept der Arbeiter:inneneinheitsfront: Mit der Sozialdemokratie gemeinsam konkrete Kampfmaßnahmen im unmittelbaren Interesse aller Arbeitenden vereinbaren und im Kampf selber dann unter Beweis stellen, dass die Kommunist:innen die ehrlicheren und entschlosseneren Partner:innen in diesem Bündnis sind. Das Ganze konnte auf Regierungsebene nur in einer sehr zugespitzten Situation funktionieren, denn Kommunist:innen, die den bürgerlichen Staat abschaffen wollen, an der Spitze des Staates, wenn auch nur in einem Bundesland, stellen unmittelbar die Machtfrage. Auch in Thüringen traten Kommunist:innen in die Regierung ein und in beiden Ländern existierten „proletarische Hundertschaften“, die bewaffnet wurden.

Die Reaktion des sozialdemokratischen Reichspräsident Ebert, der schon 1919 die Revolution blutig hatte niederschlagen lassen, war vorhersehbar. Er ließ am 16. Oktober Reichswehrtruppen in Sachsen und Thüringen einmarschieren und wollte die Landesregierungen entmachten. Am 21. Oktober fand ein Betriebsrätekongress in Chemnitz statt. Die Kommunistischen hatten darauf gehofft, dass von diesem ein geeintes Signal zum Aufstand ausgehen werde – zur Verteidigung der gewählten Landesregierungen gegen Eberts Gewaltstreich. Doch die Mehrheit der Betriebsräte bekamen kalte Füße und lehnten es ab, zum Generalstreik aufzurufen.

Die KPD hatte in ganz Deutschland den Aufstand vorbereitet, den sie nun schnell absagen ließ. Nur in Hamburg wurde doch losgeschlagen, angeblich weil der Kurier nicht rechtzeitig ankam. Doch dieser einsame „Hamburger Aufstand“ konnte leicht niedergeschlagen werden.

So wurde die letzte Gelegenheit auf eine Revolution in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg im Jahr 1923 einfach abgesagt. Sie bot sich nicht so bald wieder und 10 Jahre später waren es die Nazis, die die bürgerliche Weimarer Republik abschafften. Es lohnt sich, dieses Kapitel der deutschen Geschichte eingehend zu studieren, denn mit Sicherheit hat die KPD 1923 eine einmalige Gelegenheit verpasst. Aber die Schuld trifft auch die Kominternführung, die die Entwicklung im Frühsommer ebenso verschlafen hatte und zu spät und zu einseitig mit den Vorbereitungen auf den Aufstand begann.

Dimitri Otto und Richard Lux, Berlin

Literaturempfehlungen:

·  Deutscher Oktober 1923 – ein Revolutionsplan und sein Scheitern, Aufbau Verlag, 2003.

·  H. Weber u. a. (Hg.): Deutschland, Russland, Komintern, DeGruyter, 2015 (ebook frei verfügbar).

·  W.-D. Gutjahr: revolution muss sein. karl radek. die biographie, böhlau-verlag, 2012.

·  Das erste Tribunal, Das Moskauer Parteiverfahren gegen Brandler, Thalheimer und Radek, Decaton-Verlag, 1993.

Fußnoten:

  1. Deutsche Volkspartei ↩︎
  2. Lenin: Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus, LW Bd. 31, S. 71/72. ↩︎
  3. Kommunistische Internationale, 1919 gegründet, 1943 von Stalin aufgelöst. ↩︎

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert