Über ein Jahr nach dem Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 droht der Krieg den gesamten Nahen Osten zu entflammen, während der israelische Genozid an den Palästinenser:innen, die systematische Zerstörung des Gazastreifens und die Angriffe im Westjordanland weitergehen. Wie kam es zu dieser Eskalation?
Ein Jahr lang Genozid
Das Massaker der Hamas an 1.200 israelischen Zivilist:innen und Soldat:innen lieferte der rechtsextremen israelischen Regierung die „Rechtfertigung“, auf die sie gewartet hatte, um das Land in einen endlosen Krieg zu stürzen. Seit einem Jahr hat die Operation zur Vernichtung des Gazastreifens mehr als 41.000 Menschenleben gefordert, mehr als 10.000 werden unter den Trümmern vermisst und fast 100.000 wurden verletzt. Fast die gesamte Gesundheitsinfrastruktur wurde dem Erdboden gleichgemacht und laut einem Bericht des UN-Hilfswerks schon bis April 2024 80 % der Schulen beschädigt oder zerstört. Seither wurden die Bombardierungen nochmal ausgeweitet. Die Überlebenden kämpfen mit Hunger, fehlendem Trinkwasser und Epidemien. Im Westjordanland haben Siedler:innen und die Armee fast 700 Menschen getötet und versetzen die Palästinenser:innen in Angst und Schrecken.
Und nun wird das Nachbarland Libanon von der israelischen Armee mit Krieg überzogen. Erst gab es massive Bombardierungen, die innerhalb von 10 Tagen über 700 Menschen getötet und Tausende verletzt haben und dann eine Bodenoffensive. Für die Tötung des Hisbollah-Führers Hassan Nasrallah wurden 6 komplette Wohnblocks pulverisiert mit weiteren Hunderten Toten. Was wiederum den Iran dazu gebracht hat, Israel mit Raketen zu beschießen. Für den Staat Israel hat das neue Kriegsgetöse auch den Vorteil, dass es von dem Völkermord ablenkt, den dieser in Gaza weiterführt.
Wer ist die Hisbollah?
Israel begründet seine Offensive mit dem Kampf gegen die libanesische Hisbollah und deren Beschuss des Nordens Israels. Mal wieder verwendet Israel das Totschlagargument des Kampfes gegen den Terror um kriegsverbrecherische und menschenverachtende Angriffe zu legitimieren. Die Hisbollah wiederum (auf deutsch „Partei Gottes“), die seit ihrer Gründung in den 1980er Jahren bis heute eng mit dem iranischen Mullah-Regime zusammenhängt, ist eine reaktionäre islamistische Organisation, die sich im Libanon als Vertreterin des schiitischen Teils der Bevölkerung durchsetzen konnte – auch indem sie linkere Organisationen systematisch bekämpft und brutal ausgeschaltet hat, sie verkörpert keine fortschrittliche Befreiungsperspektive. Seit 2005 ist sie mit verschiedenen Ministern in der libanesischen Regierung vertreten und sie hat 2019 mitgeholfen, die religionsübergreifende revolutionäre Bewegung der Bevölkerung im Libanon zu bekämpfen. Den Rückhalt, den sie in den schiitischen und palästinensischen Communities besitzt, verdankt sie nicht ihrer reaktionären Politik, sondern dem Image einer Organisation, die Israel erfolgreich Widerstand geleistet hat – nicht zuletzt beim letzten Einmarsch Israels in den Libanon im Jahr 2006.
Wer trägt die Verantwortung?
Der israelische Regierungschef Netanjahu stellt den Krieg gegen den Libanon als eine Frage des Überlebens für Israel dar, angesichts der Gefahr, die von der Hisbollah ausgehen solle. In Reaktion auf den genozidalen Gazakrieg hatte die Hisbollah begonnen, den Norden Israels zu beschießen, so dass es seit Monaten einen Kriegszustand niedriger Intensität an der Grenze von Israel und Libanon gab. Das hatte zur Folge, dass Zehntausende Israelis aus dem Norden des Landes evakuiert werden mussten. Doch sowohl die Hisbollah als auch der Iran, der ihr Hauptunterstützer ist, hatten sich bislang für sehr begrenzte Reaktionen entschieden, nachdem Israel bereits in den letzten Monaten in beiden Ländern gezielte Bomben-Angriffe durchgeführt hatte. Gegenüber einem israelischen Staat, der von den wichtigsten imperialistischen Ländern aufgerüstet und durch die Präsenz amerikanischer und französischer Flugzeugträger unterstützt wird, wollten Iran und Hisbollah einen Krieg vermeiden, der zum Flächenbrand in der ganzen Region führen kann. Es ist Israel unter Netanjahu, das jetzt genau diese Eskalation vorantreibt. Schon im November hatte der israelische Kriegsminister gedroht, man könne Beirut in Gaza verwandeln. Der Iran konnte die gezielte Tötung von Hamas- und Hisbollah-Verantwortlichen in Teheran (Hauptstadt des Iran) und Beirut (Hauptstadt des Libanons) und die israelische Bodenoffensive im Libanon nicht einfach hinnehmen, ohne seine Rolle als Regionalmacht aufs Spiel zu setzen. Nun liefert der iranische Raketenbeschuss, der wenig Opfer gefordert hat, Israel einen neuen Vorwand zur Eskalation und Netanjahu hat Vergeltung angekündigt.
Dabei hatten Hisbollah und der Iran immer Verhandlungsbereitschaft signalisiert – ein Waffenstillstand in Gaza hätte auch ein Ende des Beschusses im Norden Israels gebracht. Doch den will die rechtsextreme Regierung Israels nicht. In ihr ist der rechteste Teil der jüdisch-israelischen Bevölkerung vertreten, der offen davon spricht, dass dieser Krieg die Gelegenheit sei, die Palästinenser:innen zu besiegen und zu vertreiben, um alle palästinensischen Gebiete zu annektieren und ein Großisrael herzustellen. Diese rechtsextremen zionistischen Siedler:innenfantasien machen auch vor dem Libanon nicht halt. Der schon jetzt längste Krieg in der an Kriegen reichen Geschichte Israels erlaubt es Netanjahu persönlich wiederum, sich an der Macht zu halten, die durch vielfache Massendemonstrationen in den letzten Jahren erschüttert war. Inzwischen legen die Umfragewerte seiner Partei wieder zu.
Die Krokodilstränen der Großmächte
Während in Deutschland zutiefst rassistische Debatten über Migrationspolitik geführt werden und das Asylrecht immer weiter ausgehöhlt wird, produziert Israel im Libanon Hunderttausende neue Kriegsflüchtlinge und wird dabei von der Bundesregierung unterstützt. Trotz aller offiziell geäußerten „Besorgnis“ und den Protesten gegen den Beschuss eines Stützpunktes von UN-Truppen im Südlibanon durch die israelische Armee, kann sich Netanjahu sicher sein, dass er weiterhin auf die volle Unterstützung der USA, aber auch Deutschlands, Frankreichs oder Englands zählen kann. Biden hatte noch kurz vor Beginn der israelischen Bodenoffensive verkündet, dass er auf eine Deeskalation im Libanon hinarbeitet, doch das hat die israelische Regierung nicht aufgehalten. Und die wirkliche Priorität der westlichen Regierungen besteht darin, sich weiterhin auf den Staat Israel zu stützen, um ihre Interessen in der Region zu verteidigen. Und so kommentierte die deutsche Außenministerin Baerbock die Bodenoffensive, die aufs Neue Tausende Menschenleben fordern wird, mit den zynischen Worten: „Israel hat das Recht und die Pflicht sich gegen Terrorismus zu verteidigen.“
Nicht in unserem Namen!
Die Anführer:innen der kapitalistischen Welt machen ihre Geschäfte mit den Menschenleben der Bevölkerungen. Es ist ihnen egal, ob die Palästinenser:innen in Gaza abgeschlachtet und die Libanes:innen mit Krieg überzogen werden, solange die Aufrechterhaltung ihrer imperialistischen Ordnung gewährleistet ist. Von ihren Versprechungen eines Waffenstillstands ist nichts zu erwarten.
Was die israelische Bevölkerung selbst betrifft, so ist die Zukunft, die die israelische Regierung für sie vorbereitet, die eines endlosen Krieges. In Israel finden zwar Demonstrationen statt, um die Missachtung des Lebens der noch in Gaza festgehaltenen Geiseln durch die israelischen Offensiven anzuprangern, aber es wären weitaus größere Proteste nötig, um diese kriegerische Eskalation ins Wanken zu bringen. Und es wäre vor allem notwendig, dass sich die Proteste gegen die Unterdrückung der Palästinenser:innen richten, gegen eine mörderische Vertreibungspolitik, die schon mit der Staatsgründung Israels begonnen hat. Es braucht nicht nur einen sofortigen Waffenstillstand, es braucht auch ein dauerhaftes Ende von Apartheid und Besatzung.
Auch wir müssen unseren Widerstand gegen diese Massaker bekräftigen, die mit Unterstützung der Bundesregierung durchgeführt werden – noch am 10. Oktober hat Bundeskanzler Scholz neue Waffenlieferungen an Israel angekündigt. Diese Waffenlieferungen und die mit ihnen verübten Massaker dürfen nicht in unserem Namen geschehen, der Widerstand muss weitergehen.
Richard Lux und Nike Milos, Berlin