Die sudanesische Revolution im Angesicht der Konterrevolution

Eine Übersetzung aus unserer französischen Zeitung „convergences révolutionnaires“ unserer Gruppe L’Étincelle in Frankreich:


An diesem Montag, dem 3. Juni, fand der erste Akt des Dramas statt, dessen Vorgeschichte der untenstehende Artikel beschreibt: Die Repressionsorgane (Polizei, Armee und vor allem Paramilitärs) haben das Sit-in in Khartum attackiert und aufgelöst. Dabei wurden viele Menschen getötet und verletzt. Genauso in anderen Städten. Die Hauptstadt ist von Militär besetzt. Überall hört man Schüsse, werden Menschen verhaftet oder zusammengeschlagen. Anders als noch im April scheinen sich keine Soldaten auf die Seite der Revolution geschlagen zu haben. Und es sind in erster Linie spezielle Milizen, die Rapid Support Forces (RSF), die den Angriff gegen das Sit-in geführt haben. Manche Stadtviertel sind überseht mit Barrikaden, um der Armee Widerstand zu leisten. Nachdem die Sudanese Professionals Association (SPA) letzte Woche dazu aufgerufen hatte Ruhe zu bewahren und die Barrikaden hatte abbauen lassen, die das Sit-in in Khartum beschützten, ruft sie nun „ab heute zum unbefristeten Streik und totalen zivilen Ungehorsam“ auf. Die Declaration of Freedom and Change Forces (DFCF) rufen ihrerseits zu „friedlichen Märschen und Demonstrationszügen in den Stadtvierteln, Städten und Dörfern“ auf. Ziviler Ungehorsam, friedliche Märsche… angesichts des gewaltsamen Kräftemessens? Mehr als je zuvor heißt die Alternative Revolution oder Konterrevolution. Nur ein massenhaftes Aufbegehren der Bevölkerung – das nicht ausgeschlossen ist – könnte die Revolution noch retten.

Da sieht man, wohin die Politik des Stehenbleibens beim bisher Erreichten, der Verhandlungen und der kleinen Schritte führt, die von den „Demokrat*innen“ an der Spitze des Aufstandes empfohlen wird. Der Ruf „Silmia!“ („Friedlich!“) ist nicht mehr angebracht, das ist das Mindeste, was man sagen kann. Nach der Euphorie der ersten Tage, wo jede*r ein bisschen „revolutionär“ ist, hat das konterrevolutionäre Lager sich nun wieder zusammengeschlossen und ist bereit, im Namen der Bourgeoisie, des Imperialismus und der Militärbürokratie zum Angriff überzugehen und die Militärdiktatur wieder herzustellen. Angesichts dieses konterrevolutionären Lagers, das de facto vom Imperialismus unterstützt wird, ist jeder Versuch den Status quo beizubehalten zum Scheitern verurteilt.

3. Juni 2019

Die Entwicklung der Ereignisse im Sudan

April, Mai: Der Druck der Bevölkerung wächst

Seit dem Sturz des Diktators Umar al-Baschir am 11. April laufen Verhandlungen zwischen dem Militärregime, das die Macht übernommen hat, und der Opposition. Aber sie schwächen nicht die Entschlossenheit der Demonstrant*innen. Auf der einen Seite steht der Transitional Military Council (TMC), die Würdenträger der Armee, die seit dem Sturz al-Baschirs an der Macht sind. Auf der anderen Seite steht die Oppositionskoalition DFCF, die von der SPA angeführt wird, einer Gewerkschaft der „gebildeten Mittelklasse“ (Ärzt*innen, Anwält*innen, Lehrer*innen, usw.). Sie diskutieren über die Bildung einer Übergangsregierung, in der sowohl Zivilist*innen als auch Militärs sitzen sollen, können sich aber nicht über deren Zusammensetzung einigen. Doch die Losung der Bewegung bleibt „Madania!“ („Zivil[e Regierung]!“), eine Formulierung, die unvollkommen den Willen zum Ausdruck bringt, das ganze Regime loszuwerden.

Das Sit-in vor dem Hauptquartier der Armee in Khartum geht weiter. Eine halbe Million Demonstrant*innen, die sehr gut organisiert sind: kostenloses Essen für alle, Taschenkontrollen am Eingang, Debatten, usw. Ein eigenes gesellschaftliches Zusammenleben ist auf diesem Platz entstanden.
Seit dem Beginn der Verhandlungen sind andere Sit-ins vor Militärgebäuden in kleineren Städten entstanden mit der Forderung, diejenigen aus der Armee zu entfernen, die an der Repression beteiligt waren.

Ab Anfang Mai sind auch Streiks ausgebrochen, in Port Sudan (Getreidemühle), Atbara (Zuckerraffinerie) und Khartum (Elektrizitätsgesellschaft und Bank); es geht um politische Forderungen, um die Absetzung von Chefs und um die Bildung neuer Gewerkschaften.
Der Höhepunkt der Streikbewegung war der Generalstreik vom 28. und 29. Mai, zu dem die SPA aufgerufen hatte mit der Forderung einer zivilen Regierung. Dieser hat die Hauptstadt Khartum wirtschaftlich ebenso vollkommen lahmgelegt wie alle strategischen Wirtschaftszweige: Erdöl, Hafenanlagen, Flugverkehr, Banken, usw. Doch von den Organisator*innen der Bewegung wird dieser Generalstreik nur als Akt des „zivilen Ungehorsams“ verstanden.

Der Druck des Militärs wächst ebenfalls

Denn die Konterrevolution erhebt das Haupt und organisiert sich. Die Verhandlungen zwischen Opposition und Armee waren für das Regime nur ein Mittel um Zeit zu gewinnen mit folgenden Zielsetzungen:

– die Bewegung zu ermüden, was nicht funktioniert hat;

– die Repressionsorgane und die konterrevolutionären Kräfte zu reorganisieren, um sie in die Lage zu versetzen den Aufstand niederzuschlagen, was sich aktuell vollzieht.

Umar al-Baschir, der fast vier Monate Demonstrationen politisch überlebt hatte, wurde von der Armee aus einem ganz bestimmten Grund abgesetzt: Die Soldaten, die beim Sit-in vor dem Hauptquartier der Armee zugegen waren, hatten begonnen zur Aufstandsbewegung überzugehen, indem sie sich den Repressionsorganen des Geheimdienstes (einem Staat im Staate) entgegenstellten. Der militärische Generalstab, der vermutlich nicht mehr über ausreichend sichere Truppen verfügte um die Aufstandsbewegung niederzuschlagen, wollte Zeit gewinnen.

Und das In-Stellung-Bringen der paramilitärischen RSF-Truppen war für das Regime die Hauptoption geworden, um die massenhafte Repression zu beginnen. Diese Paramilitärs sind die reguläre und legalisierte Version der Dschandschawid-Milizen, die in Darfur Tod und Schrecken verbreiten. Sie sind mehrere Zehntausend, die in Darfur und Khartum stationiert sind und auch im Jemen an der Seite der saudischen Armee kämpfen (und bis zu 40 % aus Kindersoldaten bestehen laut New York Times vom 28. Dezember 2018). Ihr Anführer Mohamed Hamdan Daglo wird Hemeti genannt und ist offizieller stellvertretender Vorsitzender und neuer starker Mann des militärischen Übergangsrats.

Hemeti hat dem saudischen Kronprinz Mohammed bin Salman den Treueeid geleistet und ihm versichert, dass die sudanesischen Truppen weiter im Jemen kämpfen würden. Im Gegenzug hat er eine halbe Milliarde US-Dollar für die sudanesische Zentralbank bekommen. Die Reden von Hemeti sind voll düsterer Drohungen gegen die Demonstrant*innen mit einer klaren Botschaft: wer nicht bereit ist sein Leben zu riskieren, soll weichen, als letzter Versuch die Bewegung zu schwächen ehe sie niedergeschlagen wird. Der amerikanische Botschafter hat, nachdem er sich auf dem Sit-in hat sehen lassen, mit diesem Kriegsverbrecher zu Abend gegessen. Die Vereinigten Staaten lassen Saudi-Arabien freie Hand und setzen darauf, dass die Aufstandsbewegung niedergeschlagen wird, auch wenn sie danach ein paar Krokodilstränen vergießen werden.

Noch bedrohlicher als die Reden von Hemeti sind die Aktionen der RSF. Am 13. Mai hatten sie sechs Menschen auf Barrikaden in Khartum getötet. Als sofortige Reaktion entstanden viele neue Barrikaden. Es spricht Bände, dass die Opposition nicht mal die Verhandlungen mit der Armee ausgesetzt hat. Schlimmer noch, es war die Armee, die sich erlaubt hat die Verhandlungen auszusetzen und den Abbau der Barrikaden sowie das Verlassen der von Demonstrant*innen besetzten Eisenbahnschienen gefordert hat! Für alle, die daran noch Zweifel gehabt hätten, hat dieses Ereignis gezeigt, dass die Armee in jedem Falle für die Paramilitärs von Hemeti Partei ergreifen würde.

Mit dem Generalstreik vom 28. und 29. Mai hat sich die Bedrohung konkretisiert. Am zweiten Streiktag hat ein Soldat das Feuer eröffnet und eine Teeverkäuferin auf der Nile Street in der Nähe des Sit-ins getötet. Während Demonstrant*innen anfingen, gegen die Armee vorzugehen, rief die SPA dazu auf, Ruhe zu bewahren. Am nächsten Tag haben RSF begonnen, auf derselben Straße Demonstrant*innen mit Peitschen zu traktieren und in den darauf folgenden Straßenkämpfen einen Demonstranten getötet. Die Antwort der SPA ist ein Aufruf an die Armee, „das Recht der sudanesischen Bürger auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu respektieren“. Ein frommer Wunsch! Ab diesem Zeitpunkt wird der Platz des Sit-ins von Streitkräften und Paramilitärs umzingelt.

Revolution oder Konterrevolution

Die bislang anerkannte Führung der Aufstandsbewegung bereitet die Bevölkerung absolut nicht auf den gewaltsamen Kampf mit dem Regime vor, während das Regime genau diesen Kampf auslösen möchte. Die Führer der Bewegung hoffen diesem Kampf um jeden Preis ausweichen zu können und liefern dadurch dem Regime das Heft des Handelns aus.

Innerhalb der Opposition haben sich diejenigen Kräfte, die am stärksten mit den herrschenden Klassen verbunden sind wie der alte politische Routinier Sadiq al-Mahdi, gegen den Generalstreik gestellt. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums hat die Kommunistische Partei von Anfang an den Rahmen der Verhandlungen mit der Armee kritisiert, hat aber einfach keinerlei andere Perspektive vorgeschlagen und selbst an den Verhandlungen teilgenommen. Die aus akademischen Kreisen stammenden Gewerkschafter*innen der SPA, die zunächst soziale und dann demokratische Forderungen vertreten haben, sind sozusagen im unmittelbaren historischen Sinne Sozialdemokrat*innen. Faktisch besteht ihre Politik in der Aufrechterhaltung eines Status quo, wovon die Militärs profitieren. Rashid Saeed Yagoub von der SPA hat der französischen Zeitung Le Monde erklärt (am 20. Mai): „Um das ‚Sit-in‘ zu zerschlagen müssten die Militärs viele Menschen töten, das ist nicht mehr möglich. Aus diesem Grund müssen wir eine Verständigung erreichen“, ehe er schlussfolgerte: „Wir haben daher beschlossen, die Zahl der Barrikaden zu verringern. Innerhalb von drei Stunden war alles abgebaut [auf der Nile Street].“ Eine selbstmörderische Politik. Die Straßenkinder, die aus den Kriegsregionen kommen (Darfur, Südkordofan, Blauer Nil), sind ein Vielfaches besser ausgebildet als alle Ärzt*innen und Lehrer*innen aus Khartum. Sie haben am eigenen Leib die Barbarei eines Regimes erfahren, das bereit ist zu einem Blutbad um sich an der Macht zu halten.

Im Moment ruft man „Silmia! Silmia!“ („Friedlich! Friedlich!“) von Algier bis Khartum. Man konnte sogar Demonstranten in Khartum beobachten, die „Silmia!“ riefen, während sie Steine auf Militärs warfen, bevor sie von diesen beschossen wurden.

Die Arbeitenden und die armen Massen haben in den Streiks, den Sit-ins und auf den Barrikaden ihre Fähigkeit, sich zu organisieren, unter Beweis gestellt. Die sudanesische Aufstandsbewegung ist massiv und entschlossen. Sehr viel weniger ist das die Führung der Bewegung, die sich an einen Status quo klammert, der nicht aufrecht zu erhalten ist. Darin liegt die Gefahr. Die Aufgabe der Stunde hätte nicht darin bestanden, den Generalstab zu besänftigen, sondern unter anderem zu versuchen die Armee zu zerschlagen, indem man die Soldaten mit ihren Waffen auf die Seite des Aufstands hinüberzieht.

Bilal Malik, 1. Juni 2019

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